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XIX.

Als Mirabeau nach einer Rede über die Bergwerke am 27. März die Nationalversammlung verließ, fühlte er sich matt und fiebrig. Eine drängende Menge umringte ihn, wie immer an dieser Stätte. Bittschriften wurden ihm entgegengeworfen, zwanzig Menschen wollten ihn zu gleicher Zeit »nur fünf Minuten« sprechen. Er hielt geduldig aus.

Am Abend wurde im Nationaltheater der »Brutus« Voltaires gegeben. Seit 1730 war er von der Bühne verbannt. Jetzt hatte man seine Aufführung erzwungen. Das Theater war ausverkauft. Trotz seiner heftigen Schmerzen hatte Mirabeau sich in die Loge im vierten Range geschleppt, die er noch erlangt hatte. Vor Beginn der Vorstellung wurde er bemerkt. Man sandte eine Abordnung an ihn und führte ihn unter dem stürmischen Jubel des Hauses in die beste Loge des ersten Ranges. Er dankte unter wühlendem Schmerze in den Eingeweiden.

Der Zuschauerraum ward zum Kampfplatz der politischen Leidenschaft. Bei den Versen, in denen Brutus seinen Haß gegen das Königtum ausspricht, erhob sich das Publikum, klatschte, tobte, raste, bis die Verse wiederholt wurden. Minutenlang kamen die Schauspieler nicht zu Wort unter den Rufen: »Es lebe die Nation! Es lebe die Freiheit!«

Mirabeau hörte es und sah den Weg vor sich, den das Geschick Frankreichs schritt. Das Königtum war verloren. Er wand sich in Schmerzen, die nicht nur körperlich waren. Als schwerkranker Mann erreichte er sein Haus, dieses »kokette Heim einer kleinen Kokotte«. Man rief den Arzt Cabanis, seinen Freund. Er diagnostizierte eine eitrige Bauchfellentzündung. Der Fall war hoffnungslos. Mirabeau sah das erbleichende Antlitz des Freundes.

»Es ist vorbei?« fragte er gelassen.

»Es ist ernst,« entgegnete der Arzt, »keiner kennt das Schicksal.«

Die ersten Tage ließ Cabanis keinen zu dem Patienten. Er hoffte noch – wider sein ärztliches Wissen.

Am 1. April aber trug des Kranken Antlitz das Stigma des Todes. Jetzt öffnete der Arzt den Freunden und Verwandten das Krankenzimmer.

Mirabeau lag still und matt in den Kissen und gefaßt. Er kannte sein Los.

Bonnette kam und die hübsche Nichte Jeanne-Charlotte mit ihrem Manne. Die »stärkste Lacherin Frankreichs« weinte bitterlich.

»Schreib Emilie,« bat der Kranke leise, »daß ich nun nicht mehr kommen kann.«

Reine-Anne kam, saß lange an seinem Bette und hielt seine fieberheiße zuckende Hand. Barnave, sein bitterster Gegner, nahm von ihm Abschied. Und La Marck verließ kaum sein Zimmer.

»Jetzt können Sie dem König die vier Scheine zurückgeben,« lächelte Mirabeau, »ich hätte sie mir doch nicht verdienen können.«

La Marck nickte, von Schmerz erstickt. Dann sagte er: »Ich habe Sie in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft verkannt. Später ward mir erst klar, daß Sie niemals dem Mammon Ihre Prinzipien geopfert haben. Wenn Sie« – er senkte die Stimme – »vom König Geld nahmen, so taten Sie es doch nur, um Ihrer eigenen Meinung zu sein. Um keinen Preis der Welt hätten Sie eine Tat vertreten, welche die Freiheit vernichtet oder Ihren Genius entehrt hätte. Immer waren Sie der Herr und nicht das Werkzeug des Hofes. Das wollte ich Ihnen noch sagen.«

Mirabeau sah ihn dankbar an.

Mit Mühe flüsterte er: »Gott hat Sie nur in die Welt gesetzt, um mir den Wunsch zu ersparen, alle Aristokraten bis auf den letzten zu zermalmen.«

La Marck zwang sich ein Lächeln ab und erwiderte: »Und Sie hat Gott in die Welt gesetzt, daß ich Ihren Ruhm liebe und über ihn wache.« –

Die Angst lagerte über Paris. Theater und Belustigungen waren verboten. Tausende umstanden das Haus in der Rue de la Chaussée d'Antin. Die Straße wurde dem Wagenverkehr gesperrt. Alle Viertelstunden mußte der Arzt der Menge über den Verlauf der Krankheit Bericht erstatten. Ratschläge kamen von allen Seiten, Medikamente. Ein Brief flog Cabanis in die Hände.

»Ich habe in England gehört, daß dort bei schweren Krankheiten Bluttransfusionen mit gutem Erfolge vorgenommen worden sind. Wenn Sie glauben, daß dieses Mittel Herrn Mirabeau retten kann, so biete ich mein Blut an und biete es aus vollem Herzen. Beides ist rein.

Henriette-Amélie de Nehra, Rue Neuve Saint-Eustache No 52.«

Cabanis las Mirabeau den Brief vor. Man holte Yet-Lie. Sie konnte vor Bewegtheit nicht sprechen. Sie blieb bei ihm, saß mit bebenden Lippen an seinem Bette die letzte Nacht.

»Vergib mir, Yet-Lie«, flüsterte er einmal. Sie sagte leise: »Ich habe dir niemals gezürnt, Gabriel. Ich nahm dich, wie du warst. Nur das ist Liebe. Ich habe nur meine Würde als Weib gewahrt.«

Am Morgen fühlte er sich wohler. Es war die Scheinerholung der Sterbenden. Er wußte es. Er sagte zum Arzte mit fester Stimme: »Heute werde ich sterben, mein Freund. Jetzt bleibt uns nur eins übrig: öffnen Sie die Fenster, lassen Sie den Frühling herein. Bringen Sie mir Blumen, parfümieren Sie die Luft. Dann will ich Musik hören. Yet-Lie soll spielen und meine Lieblingslieder singen. Und so will ich sanft hinübergleiten in den Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt.«

Und so geschah es. Yet-Lie saß am Spinett im Nebenzimmer, sang die alten lieben Lieder, die sie ihm so oft in London, in Berlin, in Paris in der kleinen engen Wohnung gesungen hatte, die Sorgen der Not zu scheuchen. Ihre Tränen tropften nieder auf die Tasten. Und so schlief er sanft hinüber, um halb neun Uhr des Morgens des 2. April 1791. –

Man bereitete dem Volkstribun ein königliches Begräbnis. Die ganze Stadt Paris begleitete ihn in dumpfem Schmerze und Staunen, daß dieser Mann sterblich war wie andere. Zwölf Sergeanten der Nationalgarde trugen den Sarg. Dreihunderttausend Menschen geleiteten ihn. Die Nationalversammlung, die Minister folgten der Bahre. Der Herzog von La Rochefoucauld hatte in der Versammlung den Antrag gestellt, die neu erbaute St. Genovevakirche »in eine Grabstätte für die großen Männer umzuwandeln, damit der Tempel der Religion zum Tempel des Vaterlandes und das Grab eines großen Mannes zum Altar der Freiheit werde«.

So wurde er im Pantheon, das für ihn gegründet wurde, beigesetzt. –

Der Terrorismus aber, gegen den er allezeit gekämpft hatte, schritt sieghaft seine Bahn. Am 10. August des folgenden Jahres wurden die Tuilerien gestürmt. In der Eisenkassette des Königs fand man die Noten Mirabeaus an den Hof.

Da gellte es wieder durch die Straßen: »Der große Verrat des Grafen Mirabeau!«

Man riß die Gebeine des »Volksverräters« aus dem Panthéon, warf sie in eine Kiste und verscharrte sie an einer Kirchhofsmauer.

Und keiner weiß, wo er begraben ist.

Ende.


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