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II.

Mirabeau schrieb seine Abhandlung über den Despotismus und ließ sich von den vier Insassen des kleinen Hauses in Manosque paschahaft verwöhnen. Die drei Leutchen überboten sich in Liebesdiensten, in Bewunderung seiner Seelengröße, in Verhimmelung, daß er ihren Sohn und Neffen geschont hatte.

Emilie umdiente ihn mehr aus Furcht, denn aus Bewunderung. Sie kannte ihn zu genau, um seine Erhabenheit nicht in ihrer richtigen Verkürzung zu sehen.

Wenn sie auch nicht ahnte, daß er ihr Schreiben an den Musketier nicht abgesandt hatte, so wußte sie doch, daß sie sich ihm durch ihre Torheit in die schonungslose Hand gegeben hatte. Sie fürchtete den Zorn ihres Schwiegervaters weit mehr als den ihres Vaters. Doch auch diesem würde ein Skandal sehr peinlich sein.

So umhätschelte sie denn den großen heftigen Mann mit der Seele eines heftigen großen Kindes und fügte sich seinen Wünschen und Launen. Nur selten hatte er Gelegenheit, ihren Trotz mit der Zauberformel zu brechen: »Du weißt doch, was du auf dem Kerbholz hast, wie?«

Ja, sie wußte es. Sie bereute nicht die Tat, nur die Torheit ihres unvorsichtigen Briefwechsels. Leichtlebig, wie der Vater, der sie erzogen oder vielmehr wild hatte heranwachsen lassen, war ihr der Ehebruch kein umstürzendes Geschehnis, sondern eine gesellschaftliche Zerstreuung. Sie fehlte ihr jetzt sehr. Der Graf war, trotzdem er von sich mit Recht behauptete, er sei ein »Athlet der Liebe«, kein ausdauernder Liebhaber. Wenn sie sich ihm in ihrer bedürftigen Begehrlichkeit nahte, wehrte er scherzend ab: »Du weißt, ich bin in der Liebe ein schlechter Schauspieler für ein Zugstück. Die Wiederholungen langweilen mich. Dafür ist, das mußt du doch zugeben, meine Premiere etwas, woran du mit Zärtlichkeit zurückdenken kannst.«

Nun ja, darin hatte er recht. Die erste Vorstellung hatte ihre Reize gehabt. Aber von einer Galavorstellung kann das Theater der Ehe nicht leben.

Sie langweilte sich, sie langweilte sich sehr, die kleine, hübsche, schwarze Frau mit den brennenden Sinnen. Sie saß im Garten der Villa – der kleine Gogo spielte neben ihr im Grase – und ärgerte sich über die schonende Güte der drei biederen Alten, die sie wie eine aus schwerer Krankheit Genesende behandelten, und dachte an die hellen Tage ihres Mädchentums in Aix.

Ach Aix, diese lustige flotte Hauptstadt der Provence, mit ihren Olivenhainen, ihren klappernden Ölmühlen, ihren weißen, heiteren, an die sonnigen Flanken der Hügel angekletteten Villen! Aix mit seinem alles überhauchenden Blumenduft! Aix mit seinen schattigen Alleen und seinen kostbaren Heilquellen! Aix mit seinem alten, stolzen, lebensgenießerischen Adel, diese wirbelnde sinnenfrohe Stadt des guten Königs René. Aix, die Stadt des Lebenskünstlers, ihres reichen, verschwenderischen Vaters!

Wie sorglos war dort das Dasein verronnen! Keiner kümmerte sich um sie. Die Mutter wohnte weit fort, kam aber dann und wann und lebte friedlich im Hause zusammen mit der Geliebten des Vaters, der nonchalanten gutmütigen Madame de Croze. Ach, und die übermütigen, liebestollen Tage auf dem nahen Schloß des Grafen Valbelle, des Intimus des Papas, Schloß Tourves, weit berühmt als »der Liebeshof der Provence«. Dort vereinigte sich fröhliche, ausschweifende, liederliche, unbedenklich glückliche Gesellschaft, die nur eine Sorge kannte: in ihrem Vergnügen gestört zu werden. Hier wurde geflirtet, geliebelt, die Cour geschnitten. Hier sammelte sich die Jugend und das amoureuse Alter unter dem Fröhlichkeitszepter der Madame des Rollands, der Königin des Liebeshofes. Hier wurde Theater gespielt und gesungen. Hier pulste das Leben, das leichtfertige, unbekümmerte, sonnendurchglühte Leben der Provence.

Das Herz zog sich der jungen gelangweilten Frau schmerzlich zusammen in der Erinnerung an die Tage ihrer Mädchenschaft. Und sie grübelte, weshalb sie gerade den Grafen Gabriel-Honoré Riquetti de Mirabeau geheiratet hatte, ihn, der berühmt war wegen seiner Häßlichkeit, seiner tollen Streiche, seiner Liebeleien, der nichts war und nichts hatte. Gerade ihn hatte sie erwählt, sie, um die sich die reichsten, elegantesten und flottesten Kavaliere des provenzalischen Adels bewarben. Weshalb hatte sie gegen den Willen des Vaters gerade diesen Mann erwählt? Welche unheimlich zwingende Gewalt strömte damals aus von ihm, daß sie sich ihn ertrotzte gegen den Vater, gegen die scharmanten Werbungen der Jeunesse dorée von Aix und Tourves?!

Sie fand den Grund nicht mehr. Sie grübelte und ärgerte sich und langweilte sich sehr, jetzt, da ihr auch die kleine Sensation der Liebelei mit dem Musketier Gassaud genommen war.

Bisher hatte seine amüsante Gegenwart oder die Spannung des Harrens auf seine Briefe die Gleichförmigkeit des Lebens auf Schloß Mirabeau und in Manosque erträglich gestaltet. Aber jetzt?! Ach Aix, du Jugend, du Fröhlichkeit – du Leben!

Madame Gassaud rief zu Tisch. Aufseufzend erhob Emilie sich, nahm Gogo auf den Arm und schritt langsam ins Haus. Nun nahte wieder der Stumpfsinn dieses gemeinsamen Philistermahles.

Als man sich gesetzt hatte und das provenzalische Fischgericht aufgetragen war, begann Chevalier de Gassaud, der Vater:

»Mein lieber Graf, ich habe heute einen sehr niederschmetternden Brief des Marquis von Tourettes erhalten. Er weigert sich plötzlich schlankweg, seine Tochter mit meinem Sohne zu verehelichen. Und alles war doch schon so gut wie geordnet. Meine Hochachtung für Sie verbietet mir die Vermutung – – –«

»Mit Recht, Chevalier«, fiel Mirabeau heftig ein. »Mit Recht verbietet Ihnen Ihre Hochachtung für mich die Vermutung, ich hätte dem Marquis das geringste über – den Fehltritt Ihres Sohnes –«, hier traf Emilie ein schmerzlicher Blick – »verlauten lassen.«

»Siehst du,« rief Madame, »ich habe gleich gesagt, dessen ist unser Graf nicht fähig.«

»Auch ich habe diesen kränkenden Verdacht weit von mir gewiesen«, versicherte Gassaud, der Onkel, mit Nachdruck.

»Ich habe ja nur –«, murmelte der Vater.

»Andere Gründe müssen den Marquis bewegen. Wir werden sie erfahren.« Der Graf sandte seine Loderaugen langsam rings um die Tischrunde und verkündete dann: »Ich werde nach Tourettes reiten und sie ermitteln!«

»Wie?« fragte Emilie erstaunt.

»Das ist unmöglich«, rief Gassaud, der Onkel. »Sie dürfen doch Manosque nicht verlassen!«

»Ich werde es verlassen. Kein Haftbefehl wird mich hindern, diesen Verdacht von mir zu schleudern.«

»Ich hege keinen Verdacht,« Gassaud, der Vater, hob die Serviette in abwehrendem Schrecken, »keine Spur von Verdacht!«

»Gleichwohl«, entschied Mirabeau fest, »werde ich reiten. Ich habe Ihrem Sohne verziehen. Ich werde dieser Verzeihung dadurch die Krone aufsetzen, daß ich das Mißverständnis tilge, das sich zwischen ihn und den Marquis eingeschlichen hat. Ich reite heute nacht!«

Und alle Vorstellungen und alle Warnungen konnten ihn von diesem gefahrvollen Vorsatz seiner Großmut und Laune nicht abbringen. Sein ungebärdiger Freiheitsdrang litt schon lange unter der fesselnden Enge seines Arbeitszimmers und der Gassen des Städtchens. Es trieb ihn hinaus. Der edle Vorwand kam ihm mehr als gelegen. Als die Dunkelheit durch die Straßen Manosques wandelte, sprengte er auf dem besten Rosse Gassauds, des Onkels, in die Nacht. Unbemerkt gewann er die Landstraße. Seine gewaltige Brust dehnte sich – Freiheit – Freiheit!!

Er kam nach Tourettes, verfocht mit Feuereifer die Liebe des Verführers seines Weibes, errang ihm die Braut und machte sich unangefochten auf den Heimweg. Ein Ritt von zwanzig Stunden lag vor ihm. Um Mitternacht würde er in Manosque eintreffen, sicherlich ungesehen ins Haus gelangen. Man schlief fest in diesem Ackerstädtchen der Provence.

Doch während er in der Freude der Ungebundenheit und des Erfolges seiner Reise dahintrabte, packte ihn der Wagemut. Das Städtchen Grasse lag nicht allzu weit. Dort wohnte Louise, die Lieblingsschwester, sein Ebenbild an Geist und Flamme, auch äußerlich ihm ähnlich, doch jede Linie zur vollendeten Schönheit veredelt, ein Frauenwunder der Provence.

Der Gedanke ward zugleich zur Tat. Er wandte den Kopf des Vollblüters in einen Seitenpfad und galoppierte dahin. Das würde eine Überraschung geben! Sie hatten sich seit Louisens Verheiratung im Jahre 1769, seit fünf Jahren, nicht gesehen.

Als der Graf in den Gassen des Städtchens einen jungen Burschen nach dem Hause des Herrn Jean-Paul de Clapiers, Marquis de Cabris, fragte, lachte dar breit und wies ihm den Weg.

»Was grinst du so affig?« fuhr Mirabeau ihn an.

»Oh,« lachte der Mann, »Sie sind fremd hier, Herr. Es ist das verrückteste Haus in der ganzen Gegend.«

Als Mirabeau in den Hof dieses »verrücktesten Hauses«, eines gefälligen kleinen Barockpalais, einritt, trat ein Diener auf ihn zu, nahm ihm das Pferd ab und meldete, daß nur der Herr Marquis zu Hause sei. Er führte ihn in einen Gartensaal, der die ganze Tiefe des Hauses durchmaß und aus hohen rundgeschweiften Türen vorn in den Garten, hinten in den sauberen Hof blickte.

In diesem Saale fand Mirabeau seinen Schwager emsig damit beschäftigt, Puppen mit verrenkten Gliedern aus blauem Papiere auszuschneiden. Als der Diener den Grafen meldete, stand der Marquis langsam auf und sah dem Eintretenden mit blöden wasserblauen Augen entgegen. Sein Anzug war unsauber und vernachlässigt, die Manschetten schmutzig und zerschlissen.

»Ah, der Herr Schwager Gabriel!« sagte er mit verblichener müder Stimme, ohne Erregung, ohne Überraschung. »Komm, setz dich.«

Mirabeau sah ihn verwundert an und folgte der Aufforderung.

»Ich schneide Puppen,« erläuterte der Marquis seine Nachmittagsbeschäftigung, »das macht mir viel Freude.«

Damit griff der Sechsundzwanzigjährige wieder zur Schere.

»Mein Gott,« dachte der Graf, »viel Verstand hat der arme Mensch ja nie gehabt. Hat dieses verteufelte Weib ihn auch noch um diesen schäbigen Rest gebracht!«

»Wo ist Marie-Louise?« fragte er.

»Marie-Louise?« wiederholte der Kretin und beugte sich hastig zu dem Schwager hinüber. »Fort!« Er machte eine weite, umspannende Bewegung mit der Schere, daß ihr Sonnenreflex über die mit einem bunten Feston bemalten Wände tanzte. »Sie ist fort mit ihm.«

»Ihm? Wer ist ›ihm‹?«

»Er!«

»Er? Wer ist ›er‹?!«

»Nun der Briançon, der Lump.«

»Und wer ist Briançon, der Lump?«

»Du weißt doch! Sie denken, ich weiß es nicht. Weil mein Kopf mich oft so schmerzt.« Er beugte sich dicht zu dem Schwager und flüsterte heiser. »Aber ich weiß. Ich guck' durch das Schlüsselloch. Ich seh', was sie treiben. Hui, was ich sehe!«

Mirabeau horchte gespannt.

»Aber sie sollen sich hüten. Ich ermorde ihn. So – so – so!«

Er stach gehässig mit der Spitze der Schere in die Luft.

»Hm«, machte der Graf, um etwas zu sagen.

»Und Geld gibt sie ihm, dem Lumpen, und meine besten Anzüge und Hemden und Essen und alles. Alles ihm. Mir nichts. Aber ich werd' ihn töten – so – so – so. Wenn mein Kopf nur nicht so weh täte – so sehr – weh.«

Er sank in sich zusammen, die Hand mit der Schere glitt schlaff hinab, das Gesicht ward noch stupider, die Augen erloschen – ein armseliges Menschenwrack lag der Marquis de Cabris im Sessel.

Der Graf taumelte zwischen Erschütterung und Staunen. Er hielt plötzlich einen Fetzen des Schicksals der geliebten Schwester in Händen, eines Schicksals, von dem er nichts gewußt hatte. Er stand auf und trat an eine der mit weißem Musselin bespannten Türen und starrte hinaus in den blühenden Sommergarten. Da sah er sie langsam mit einem Herrn den Kiesweg heraufkommen. Er lachte.

Das war sie, das war ganz die ausgelassene, bizarre Marie-Louise Mirabeau. Ganz sie. In Männerkleidung kam sie daher. Einen roten seidenen Rock, schwarze seidene Kniehosen, schwarze Strümpfe und Schuhe mit breiten Silberschnallen. Auf dem Kopf den Federhut der Hofkavaliere.

Der Anzug lag prall um die Büste, zeigte keck die Hüften, die rassigen Schenkel und die reine Linie der Beine. Das gepuderte Haar hing lockig unter dem Hut hervor.

Jetzt konnte der Bruder ihre Züge erkennen. Das Herz schlug ihm in ästhetischem Entzücken. Ja, sie war das schönste Weib ihrer Zeit. Die Reife ihrer Einundzwanzig hatte das Versprechen ihrer knospenden Siebzehn gehalten. Jetzt sah er die Leuchtkraft ihrer schwarzen Augen, die Frische ihres Teints, ihre stolze freie Miene, diese Züge, die an antike Statuen gemahnten, die Geschmeidigkeit ihrer rockbefreiten Glieder, die Grazie und den Zauber ihrer Bewegungen, die jedem Männerauge zur Verführung werden mußten.

Und dieser geschniegelte Geck da neben ihr in der blauen Uniform des Regiments Royal-Roussillon? Das war wohl der »Lump«, dem der arme Schwager den Scherenerdolchungstod geschworen hatte? Hm, der also! Allzu vertrauenerweckend war der just nicht!

Jetzt standen sie vor der Tür. Da riß Mirabeau sie auf. Ein geller Jubelschrei. Die Geschwister lagen sich in den Armen. Sie hing an seinem Halse, küßte ihn mit ihrer hemmungslosen Leidenschaftlichkeit und stammelte dazwischen die zeitlosen Worte überraschter Freude: »Gabriel – du? Du!! Wie kommst du hierher? Welch ein Glück! Welch eine Freude, dich endlich wieder einmal zu sehen, zu fühlen, zu haben!«

Als sie sich gefaßt und er sein Kommen erklärt hatte, stellte sie vor.

»Mein lieber, liebster Bruder Gabriel-Honoré – Herr Denis-Auguste de Jausserandy-Briançon, Seigneur de Verdache, Hilfsunterarzt im Regiment Royal-Roussillon.«

Die Herren verneigten sich. Eine Feindseligkeit, eine unbewußte Eifersucht sprang zwischen ihnen auf. Mirabeau durchforschte das fremde Gesicht scharf. Es mißfiel ihm. In den grauen Augen des jungen Offiziers flackerte ein fahler Schein der Falschheit und Ehrlosigkeit.

Doch Louises feuriges Temperament riß den Bruder aus der sorgenvollen Betrachtung.

»So läßt dich der Trottel hier sitzen. Wegmüde und bestaubt! Komm in mein Zimmer, da kannst du dich waschen und erfrischen.« Flugs legte sie den Arm um seine mächtigen Schultern – sie waren von gleicher Größe – und entführte ihn im Wirbelsturme.

Als er vor ihr stand und sich die Hände trocknete, sagte er nachdenklich: »Schade um dich!«

»Wieso?« fragte sie und setzte sich verwegen auf die Kante ihres Toilettentisches.

»Ich habe sehr oft an dich gedacht. Du weißt, wie sehr du mir ans Herz gewachsen bist. Aus dir hätte ein ganz großes Weib werden können, wenn du einem ehrenhaften und gescheiten Manne in die Hände geraten wärest, der dich liebte und dir Kopf und Herz gemeistert hätte.«

»Ja – wenn!« lachte sie.

»Deine Heftigkeit, deine Beweglichkeit, deine Phantasie verschleudern, wenn du nicht klug gezügelt wirst, alle diese edlen Kräfte. Du warst ein wundervolles Mädchen, das der Großmut aus Eigenliebe fähig war, der Hingabe aus Einbildung, der Treue und Ausdauer aus Hartnäckigkeit. Und das Ende von alledem – Herr von Briançon«

»Gefällt er dir nicht?«

»Nein. Ich bilde mir ein, etwas Menschenkenntnis zu besitzen. Er ist ein Roué, der an deiner Schönheit und deinem Reichtume schmarotzt.«

»Laß ihn. Er tut meinen Sinnen gut. Das genügt mir. Und ich brauche ihn. Oder glaubst du, daß der Trottel mir genügt. He? Und die Auswahl in Grasse ist nicht reich, mein Lieber.«

Sie sprang von der Tischkante und stand vor ihm, sprühend vor Schönheit und Begehrlichkeit, die Brust scharf herausgedrückt durch das Tuch des Männerrockes.

»Ein verteufelt herrliches Weib«, flüsterte der Graf. »Selbst ich könnte mich in dich verlieben!«

Da gab sie ihm einen leichten Klaps auf den Arm und lachte: »Das wäre ungefähr das einzige, das in unserer wahnsinnigen Familie noch fehlte. Bruder und Schwester. Aber lassen wir es bei diesem Manko. Komm!«

Sie gingen hinunter in den Saal, wo der Diener inzwischen Tee und Gebäck aufgetragen hatte. Man setzte sich und plauderte. Der Marquis fiel wie ein wildes Tier über die Kuchen her und stopfte gierig in sich hinein. Keiner beachtete ihn. Nur als er alles allein zu verschlingen drohte, entriß Louise ihm die Silberschüssel und schalt:

»Nun ist's genug, du Vielfraß!«

Er duckte sich angstvoll, wie ein Hund, der an Schläge gewöhnt ist.

Mit ausdrucksvoller Mimik und ihrem glockenklaren Lachen erzählte Louise ihre letzte übermütige Heldentat.

»Gabriel, haben wir einen Spaß gehabt! Die ganze Stadt hat sich gegen uns erhoben. Die braven Spießer waren über unser Verhältnis entsetzt. Als ob sie es besser trieben! Der einzige Unterschied ist doch der, daß Denis-Auguste und ich den Mut unserer Leidenschaft haben. Das können diese Philisterseelen nicht vertragen. Sie klatschten, brodelten, grüßten uns nicht mehr. Wenn wir ausgingen, war es ein Spießrutenlaufen durch eine Kette hochnäsiger, sittlich triefender Entrüstung. Da haben wir beide uns gerächt.«

Sie lachte und bog sich schabernackfroh in den Sessel zurück. Briançon lächelte mit schmalen Lippen. Der Marquis leckte mit der Zunge die Kuchenkrümel auf seinem Teller zusammen.

»Denis-Auguste und ich haben uns eines Nachts hingesetzt und Spottverse gemacht. Ich glaube, sie haben an Freiheit nichts zu wünschen gelassen. Du weißt ja, ich war immer groß in schlüpfrigen Knittelversen. Diesmal habe ich mich an Frivolität und Gemeinheit selbst übertroffen. Die haben wir drei Tage lang mit verstellter Schrift fein säuberlich abgeschrieben. Etwa hundert Zettel. Und eines Nachts mußte der Trottel sie an alle ›hochangesehenen‹ Haustüren der Stadt kleben.«

»Ja – ich – ich!« brüllte der Trottel plötzlich selbstbewußt dazwischen.

»Wirst du wohl schweigen! Du weißt von nichts!« herrschte sein Weib ihn an.

Er verkroch sich ängstlich in den Sessel und faßte mit einem Affengriffe die Tasse, die er laut schlürfend leerte.

Louise erzählte weiter: »Du kannst dir den Aufruhr am nächsten Morgen denken. ›Zu Ehren der Damen von Grasse‹ lautete die Widmung unserer Verse. Natürlich vermutete jeder in uns die Urheber. Alles berstet vor Wut. Aber nachweisen können sie uns nichts. Es siedet in Grasse wie in einem Kessel. Die schockierten Seelen platzen. Und wir – wir lachen – lachen!«

Sie warf die Beine hoch und tat es. Auch Mirabeau lachte. Das war das überschäumende Blut seiner Familie. Wie verwandt ihn dies alles berührte, dieses Ungebärdige, Maßlose, Engensprengende.

»Louise,« rief er, »darin erkenne ich uns. Das ist der Teig, aus dem auch ich geknetet, das ist der Ofen, in dem auch ich gebacken bin. Das sind unsere Ahnen, die in uns umgehen.« –

Als dann der Abend kam, warf Louise rücksichtslos den verdutzten Hilfsunterarzt der Royal-Roussillon zur Tür hinaus mit den Worten: »Nun pack' dich. Jetzt will ich meinen Bruder allein genießen.« Den Trottel schickte sie zu Bett.

Im traulich erleuchteten Zimmer saßen die Geschwister sich gegenüber. Die Türen standen offen, die milde Provencenacht hing in den Blättern der Platanen im Garten, Falter flatterten in die Flamme der Kerzen und fielen mit verbrannten Flügeln in Todeszuckungen zu Boden.

Sie sprachen von den alten Tagen der Kindheit zu Bignon, von den Spielen, den Streichen, dem Schwärmen, den Lebensphantasien.

»Und was ist aus uns Kindern dieses unseligen Hauses geworden!« klagte Mirabeau mit leiser Melancholie. »Die Älteste von uns, Marie, die sicher viel geistige Stärke besaß, die man für Verrücktheit hielt, weil ihre Sinne sie zum Äußersten trieben, ist eine geistig umnachtete Nonne. Die Zweite, Karoline, eine gutmütige Gebärmaschine, die nach elfjähriger Ehe ihr achtes Kind trägt. Ich, ein heimatloser unnützer Verschwender, ein Entmündigter, der von Gefängnis zu Gefängnis taumelt. Du, das Weib eines Schwachsinnigen. Und Boniface, unser Jüngster, der mit viel Geist und Witz geboren wurde, war geschaffen, es am Hofe zu hohen Ehren zu bringen, wenn diese abscheuliche Erziehung ihn nicht in Grund und Boden verdorben hätte. Heute ist er ein entarteter untauglicher Wüstling.«

Louise blickte träumerisch vor sich hin. Dann sagte sie: »Wir sind alle die unseligen Früchte dieses verruchten Hauses. Der Vater mit seiner unsinnigen, strengen, geistlosen, martervollen Erziehung ist unser aller böser Dämon. Er ist an allem schuld. Du bist mit dem Keim zu allem Großen geboren. Was hat der Vater aus dir gemacht – von mir nicht zu reden? Zuerst seine Knauserei, dann seine Härte, seine Vorurteile, seine Habsucht, sein Haß haben uns alle miteinander entstellt, verstümmelt, zugrunde gerichtet. Aber am beklagenswertesten, Gabriel, bleibt doch die Mutter.«

»Vielleicht!«

»Bestimmt!« rief sie heftig. »Du nimmst, ich weiß es, für den Vater, für diesen Vater, gegen sie Partei. Du, der so furchtbar unter seiner brutalen Faust leidet!«

»Gerade deshalb. Wie darf ich es wagen, ihn noch mehr zu erzürnen! Ich hänge von seiner Gnade ab. Nur er kann mich aus der Haft lösen, in der ich schmachte. Ach, wenn du wüßtest, wie ich ihn hasse, diesen Menschen. Wenn Haß töten könnte – längst wäre er martervoll verreckt.«

»Du Armer«, nickte sie. »Aber ich bin frei, gegen ihn zu kämpfen. Ich habe der armen Mutter 20000 Livres gesandt zum Kampf gegen dieses Ungeheuer.«

»Mutter trägt auch viel Schuld«, warf er ein. »Sie ist eigensinnig, wunderlich, mürrisch, zänkisch, launisch. Und verschroben und toll ist sie auch, wie wir.«

»Ja – ja – ja«, rief Louise ungeduldig. »Aber sie hat ihn lange angebetet, sie liebte ihn abgöttisch, obwohl er sie nur des Geldes wegen geheiratet hat, wie du deine Frau. Sie hätte ihn immer geliebt, wenn er es gewollt hätte. Es war so leicht, sie zu führen, ihre Fehler auszumerzen. Aber er legte es darauf an, sie zu unterjochen, weil er herrschsüchtig und ein Tyrann ist. Man unterjocht aber nicht einen starken, ganzen Charakter und eine heiße Einbildungskraft, wie Mutter ist.« Plötzlich lachte sie klingend.

»Eine Verteidigungsrede habe ich für ihn ausgearbeitet, die er in dem Prozeß, der jetzt beginnt, halten kann. Ich habe sie ihm gestern gesandt.«

Sie eilte zu einem Vertiko, suchte, fand und lief mit einem Bogen Papier zum Lichte. »Höre:

›Meine Tochter Louise habe ich gegen ihren Willen, gegen ihren Abscheu, gegen ihr Flehen gezwungen, einen Narren zu heiraten, weil er reich war und ich mir davon materielle Vorteile versprach. Damit habe ich ihr Glück begründet. Denn das höchste Glück ist die Wahrheit. Kinder und Narren sprechen sie. Also lallt der Marquis de Cabris Wahrheit in höchstem Grade. Also ist meine Tochter Louise ›in Wahrheit‹ sehr glücklich. Das ist erwiesen.

Mein Sohn ist ein Verbrecher. Denn alle meine Güter sind ihm als ältestem Sohne zugesichert. Trotzdem habe ich das meiste verkauft. Aber dennoch hemmt mich diese verwünschte Erbfolge. Ich kann mich nicht mehr nach meinem Belieben ruinieren, und das ist hart. Mein Sohn ist ein Verbrecher, weil er es seiner Mutter, die er liebt, ausgeschlagen hat, für sie Partei zu ergreifen, weil er zwischen den Urhebern seiner Tage neutral bleiben will – das ist eine höllische Scheinheiligkeit. Er hat Schulden gemacht, und Schulden darf man nur machen, wenn man Familienvater, neunundfünfzig Jahre alt, Verwalter eines Erbsitzes, die Leuchte des Jahrhunderts und der Konfuzius Europas ist. Mein Sohn hat recht schlechte Sachen geschrieben. Unter anderm mit neunzehn Jahren eine Geschichte Korsikas, die ich ihm entriß und verbrannte. Denn es ist eine teuflische Bosheit, Talente in dem Augenblick zu offenbaren, in dem ich anfange, senil zu werden.

Mein Sohn ist der gewalttätigste Mensch von der Welt, denn er kämpft von Kindheit an mit einem Mut, der mich aufreizt, gegen das Unglück an, das ich für ihn bin. Er ist ferner der undankbarste Mensch, denn ich habe ihn in Verdacht, daß er mich nicht liebt, mich, der ihm soviel Wohltaten erwiesen hat. Endlich ist er kein Anhänger meiner erhabenen Schriften und zweifelt an der Unfehlbarkeit der Wissenschaft des Meisters. Darum ist er ein Verbrecher, das ist mehr als erwiesen.‹«

Mirabeau unterbrach oft mit Lachen und Beifall. Als sie geendet hatte, jubelte er: »Das wird seinen Hochmut und seinen Dünkel treffen. Bravo! Bravo!«

Er sprang empor und riß sie an seine Brust. – – Am folgenden Morgen schlug Louise einen Ausflug vor »an das Herz der Natur«. Sie war eine begeisterte Rousseau-Schwärmerin.

Mirabeau war einverstanden. »Aber ohne Briançon«, bat er.

»Ausgeschlossen!« wehrte sie. »Gerade wegen des Geklatsches und der Wut der lieben Grasser habe ich mir geschworen, ohne ihn nicht einen Schritt auf die Straße zu tun. Eide, die andere kränken, muß man unbedingt halten.«

Er fügte sich lachend.

Ehe die Hitze des Sommertages sich mit ihrer flammenden Wucht auf die Provence warf, brach man auf, von einem Wagen mit leckeren Dingen begleitet. Der Marquis blickte der kleinen Karawane trübselig nach. Keiner hatte einen Augenblick der Sorge oder des Abschieds an ihn verschwendet.

Louise schritt, wieder in ihrer aufreizenden Männertracht, voran.

Man plauderte, scherzte und gelangte gegen Mittag in den ragenden schattigen Olivenwald »Des Indes«. Hier lagerte man, der Diener deckte auf warmem Moose den »Tisch«, Provencer Wein netzte die von Hitze und Staub verdorrten Kehlen.

Muntere Reden begleiteten den fröhlichen Imbiß.

Man sprach, wie überall damals in Frankreich, von dem jungen Königspaare, das am 10. Mai den Thron bestiegen hatte.

»Sie muß es ja toll treiben«, lachte Louise.

»Glaube doch nicht alles, was man über Marie-Antoinette fabelt«, schalt Mirabeau. »Sie hat Feinde bei Hofe, die sie verleumden.«

»Etwas wird schon dran sein, warf Briançon gehässig ein.

»Ist es denn ein Wunder?« rief Louise. »Wo der König impotent ist!«

»Impotent ist er nicht,« belehrte der Hilfsunterarzt der Royal-Roussillon, »er müßte sich nur einer Operation unterziehen, um seine ehelichen Pflichten erfüllen zu können.«

»Das kommt für Marie-Antoinette doch auf das gleiche hinaus«, entschied die junge Frau.

»Freilich«, nickte Briançon. »Sein Bruder, der Graf von Artois, litt an demselben Übel, unterzog sich aber dem operativen Eingriff und genießt seitdem im Übermaß den Erfolg. Der König konnte sich bisher dazu nicht entschließen. Kennt ihr übrigens die Geschichte seiner Hochzeitsnacht? Nein? Hört! Er geleitete Marie-Antoinette bis an die Tür ihres Schlafgemaches und verabschiedete sich dann feierlich und höflich von der erstaunten jungen Frau. Am nächsten Morgen fragte er sie, wie sie geschlafen habe, ›Oh, sehr gut,‹ antwortete sie pikiert, ›es war ja niemand da, der mich daran hätte hindern können.‹«

Man lachte, Louise wiederholte dann aber in verstehender fraulicher Teilnahme: »Die arme kleine Königin! Ist es dann ein Wunder, wenn sie anderswo die Forderung einkassiert, die der König ihr nicht honoriert!«

»Es soll gelogen sein, daß sie die Ehe bricht«, beharrte Mirabeau.

»Mag sein. Aber auch all das andere erscheint mir sehr begreiflich: diese ekstatischen erotischen Freundschaften zur Lamballe und Polignac, diese rasenden Feste, in denen sie ihr unbefriedigtes Temperament austobt, ihre Manie für hohes Spiel. Alles das sind Verzweiflungsakte ihrer nervös überreizten Sinne. Ha, wenn ich diese Königin von Frankreich wäre, ich würde es noch ganz anders treiben! Feuersäulen würden von mir auslodern – Feuersäulen!«

Sie reckte die Arme hoch über ihren Kopf hinaus.

»Du – du!« drohte der Geliebte.

»Ich bin ja nicht die Königin von Frankreich,« lachte sie, »sondern nur die Königin des Skandals und deines Herzens.«

Schlaff warf sie sich zurück, legte den Kopf auf seine Knie und sah hinauf in den Himmel dieses glückhaften Südens. Scharf umrissen gegen das tiefe Blau standen die Gipfel der Oliven.

Mirabeau blickte versonnen vor sich hin

»Es ist eine schwere Erbschaft,« begann er endlich, »die dieser neunzehnjährige König und diese achtzehnjährige Königin angetreten haben. Ein schweres Erbe voller Keime des Verderbens.«

»I,« rief Louise und schnellte mit heftigem Schwunge auf, »dann sollen sie abdanken! Ich bin für die Republik!«

Die beiden Männer lachten. Doch ernst und mit Begeisterung fuhr sie fort:

»Lacht nicht! Ich schwöre auf Rousseau. Sein Geist wird siegen. Kennst du nicht seinen ›Contrat Social‹?«

»Natürlich kenne ich ihn«, erwiderte der Bruder. »Und schätze ihn sehr. Aber noch mehr seinen ›Emile‹.

Ich glaube, wenn man in einigen hundert Jahren von den Meisterwerken unseres Jahrhunderts sprechen wird, wird man fünf oder sechs Tragödien Voltaires, das ›Wesen der Gesetze‹ von Montesquieu, die ›Naturgeschichte‹ von Buffon und ›Emile‹ nennen. Und –«

»Ja – ja,« unterbrach ihr Ungestüm ungeduldig, »mag sein. Mir ist der ›Contrat Social‹ Bibel. Ich stimme ihm blindlings zu in den Nachteilen, die er in der Monarchie sieht. Ich bin begeisterte Anhängerin seines Freiheitsideals, und darum rufe ich: ›Hoch die Republik!«

Ironisch hob Briancon sein Glas. »Hoch die Republik und ihre Königin Louise de Cabris!«

Sie gab ihm einen Schlag auf den Arm, daß der Wein über seinen blauen Rock rann.

»Das kostet dich einen neuen« sagte er gelassen und wischte mit der Spitzenmanschette die Tropfen fort.

Mirabeau aber entgegnete eindringlich. »Ich bin gegen die Republik. Aus vielen Gründen. Ich glühe für die Freiheit. Doch Freiheit ist nicht identisch mit Republik. Kennst du nicht den herrlichen Satz aus deinem geliebten Contrat Social: ›Die Freiheit liegt in keiner Regierungsform, sie wohnt im Herzen des freien Menschen; er trägt sie überall mit sich. Der niedrige Mensch schleppt überall die Knechtschaft mit sich!‹ Nein, Louise, was wir brauchen, ist ein demokratisches Königtum. Reformen müssen und werden es schaffen. Zunächst eine durchgreifende Steuer- und Finanzreform. Wir gehen heute auf den Staatsbankrort zu. Die Staatskassen sind leer, die Verschwendung bei Hofe ist enorm, neue Steuern erdrücken das Volk, bald wird man die Zinsen der Anleihen nicht mehr zahlen können.«

Seine Züge erhellten sich zu magischer Schönheit, seine kastanienbraunen Augen begannen wie ewige Lampen des Genies zu leuchten.

»Jeder Staat, der sich seine Schulden nicht durch eine großzügige Steuerpolitik vom Halse schafft und dafür in Anleihen und anderen untergeordneten Mittelchen sein Heil sucht, jeder Staat, in dem nicht unverletzliche Gesetze die Anleihekassen schließen und gesunden Steuern die Tore öffnen, muß zugrunde gehen. Darum zunächst durchgreifende Finanzreform! Dann Justizreform! Aufhebung jeder Willkür, der lettres de cachet! Kostenlose, freie, unabhängige Gerichte! Und endlich Teilnahme der Bürger an der Regierung! Die Stände einberufen, ein Parlament nach englischem Muster bilden! Das wird den Staat und die Monarchie retten. Ich habe früher geglaubt, ich wäre zum Soldaten geboren. Es war ein Irrtum. In mir pulst das Blut, das in großen Staatsmännern kreist. Lachen Sie nicht, Seigneur! Ich rede furchtbar ernst. Eine Stimme in mir spricht. Ich fühle die Kraft in mir, diese Reformen durchzuführen. Ich werde diesen Weg gehen und werde mein Ziel erreichen!«

Er schwieg.

Louise reichte ihm in prächtiger Hingabe die Hand. »Ich glaube an dich und deinen Weg«, rief sie hingerissen.

Doch Briançon sagte in seiner wegwerfenden Art: »Ist ja alles Humbug. Solange ich denken kann, spricht man von Revolution, Staatsbankrott und Untergang des Staates. Und immer geht's gemächlich weiter. So wird es auch in Zukunft weitergehen. Frankreich ist ein reiches Land. Es kann einen guten Posten Verschwendung des Hofes und übler Wirtschaft vertragen. Die Mißstimmung im Lande ist nur äußerlich, wird durch die Schriftsteller künstlich erzeugt. Rousseau, Raynald, Diderot, Linguet haben in alle gebildeten Kreise eine Nörgelsucht, ein pikantes Tadelvergnügen getragen, sie haben diese Tiraden gegen den Despotismus, gegen die Höflinge, gegen die Religion, über die Freiheit und die Verhimmelung der misera Plebs in die Massen geworfen. Gehirngymnastik, Plauderstoff der Salons, weiter nichts.«

Da barst Mirabeau in Grimm aus.

»Mein Herr«, begann er, und seine Stimme grollte wie fernes Gewitter. Doch Louise legte ihm hastig die Hand auf den Arm.

»Stille«, flüsterte sie und zeigte in die Tiefe des Waldes. Die Blicke der beiden Männer folgten ihrem weisenden Finger.

Durch den Wald kam ein fetter alter Herr dahergepilgert, einen klotzigen Regenschirm unter den Arm gezwängt.

»Was ist?« fragte der Graf, ärgerlich ob der Unterbrechung.

»Der da – dieser Dickwanst –«, raunte Louise, »ist Herr von Villeneuve. Das ärgste Lästermaul von Grasse. Er hat am hämischsten gegen mich gehetzt. Ich habe ihm öffentlich ein paar Ohrfeigen versprochen. Jetzt will ich mein Wort einlösen.«

Sie sprang energisch empor.

Doch der Bruder hielt sie zurück.

»Überlaß das mir«, rief er und stürmte davon.

»Unser Mirabeau-Blut!« jauchzte Louise und blickte voll Spannung dem Davoneilenden nach. Briançon blieb gleichgültig und verdauungsfaul im Moose liegen.

Mirabeau hatte jetzt den ahnungslosen Wanderer erreicht.

»Herr,« herrschte er den Verdutzten an, »ich bin Graf Mirabeau, der Bruder der Marquise von Cabris, die Ihr Lästermaul verleumdet hat. Kommen Sie zu ihr – dort steht sie – nehmen Sie Ihre Lästerungen zurück!«

Der Dicke faßte sich sofort.

»Mein Herr,« entgegnete er gelassen, »Sie wissen wohl nicht, daß Sie die Ehre haben, mit einem alten Musketier und Adjutanten des Marschalls von Sachsen zu sprechen?«

»Was Sie einmal Ehrenhaftes waren, ist mir gleichgültig. Jetzt sind Sie ein infamer Verleumder einer Dame, die mir näher steht als irgendein anderer Mensch. Wollen Sie revozieren oder nicht?«

»Die Dame ist eine Schande der Stadt und –«

»Was?« brüllte Mirabeau. Im nächsten Augenblicke hatte er dem Alten den Schirm entrissen und schlug damit in der blinden Wut der Mirabeaus auf den dicken Herrn ein. Der Schirm zerbrach. Doch der frühere tapfere Musketier ließ sich nicht verblüffen. Trotz seines Alters, trotz seines umfänglichen Bauches sprang er gegen den Angreifer an. Er packte zu. Die Gegner faßten sich, rangen, torkelten zu Boden, schlugen aufeinander ein, wenn eine Hand, ein Arm sich aus der Umstrickung löste. Louise und ihr Geliebter verfolgten aus der Ferne den Kampf mit Gassenbubenfreude.

Die Gegner ächzten, balgten sich, schlugen. Der Schweiß rann ihnen über die geröteten Gesichter. Endlich erlahmte die Kraft des Alten. Er lag still. Da erhob sich Mirabeau. Sein schöner blauer Seidenrock war zerfetzt, das Haar, das er heute ungepudert, zum Zopfe geflochten trug, war zerrauft. An seinen gepflegten weißen Händen hing Erde und Moos.

Jetzt wand sich auch Herr von Villeneuve stöhnend empor. Seine Rechte blutete, die schwarze Seidenhose über dem Knie war zerrissen und legte eine klaffende Wunde bloß. Die Stirn durchquerte eine blutunterlaufene Strieme, die der Schirm gezogen hatte.

Ächzend hinkte er von dannen. »Das sollen Sie mir büßen!« knirschte er zwischen den gelben Zähnen.

Nun nahten lachend die andern.

»Hoch unser Sieger!« jubelte Louise.

Briançon knurrte eifersüchtig: »Kein großer Sieg eines Fünfundzwanzigjährigen über einen Sechziger plus Dickwanst.«

Der Graf sah nachdenklich an sich nieder. »Üble Sache«, murrte er kleinlaut. Der Kampfesrausch war verflogen, der Kater setzte ein.

»Macht nichts«, tröstete Louise. »Ich gebe dir einen neuen Rock.«

»Das ist das wenigste«, wehrte der Graf. »Aber wenn der Dicke jetzt gegen mich klagt, kommt es heraus, daß ich meine Gefangenschaft gesprengt habe. Dann geht es mir schlecht.«

»Pah«, lachte Louise. »Du hast mich gerächt. Du bist mein Ritter. Du hast eine Lanze gebrochen für die Freiheit des Gefühls gegen niedriges enggebundenes Muckertum.«


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