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Noch in dieser Nacht floh Mirabeau aus Grasse. Das Abenteuer zeigte bedrohliche Gesichter. Herr von Villeneuve war zum Kadi gelaufen, hatte seine Wunden gewiesen und Anklage wegen »Mordanschlages« erhoben. Der Richter erließ einen Haftbefehl. Doch während die bewaffnete Polizeimacht von Grasse, bestehend aus einem alten gichtischen Kommissär, an der vorderen Gartenpforte mit Louise parlamentierte, entwischte der Delinquent ahnungsvollen Gemütes in den Hof, sattelte des Chevaliers Gassaud Roß und preschte hinaus in die Nacht, vorbei an dem übertölpelten Arme des Gesetzes, der sich ihm vergebens zornvoll entgegenstreckte.
Während Mirabeau durch die mondhelle Provencenacht mit ihren fiebrig-erregt zitternden Sternen dahintrabte, war sein Hirn keineswegs ein Spiegelbild der friedlichen Milde der duftenden Stille ringsum. Bange Gedanken wogten hinter der wuchtigen Stirn.
Dem Haftbefehl des Richters von Grasse war er entronnen. In Manosque war der durch eine lettre de cachet Gebannte der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen. Doch durch diesen unüberlegten Überfall auf den Dickwanst war sein Ausflug verraten. Die Regierung konnte und würde es nicht duldsam hinnehmen, daß einer, der – wie es sanft und behütend hieß – »unter der Hand des Königs stand«, die Majestät durch selbstherrliche Lösung der Fesseln der Gefangenschaft frech verhöhnte. Mirabeau sah aus der Silberhelle der Mondnacht die gespenstisch drohenden Schatten der Zwingburgen königlicher Willkür aufwachsen: der Bastille, des Turmes von Vincennes, des Kastells des Felsenriffs If. Das Roß des Chevaliers Gassaud verfiel in gemächlichen Schritt. Der Reiter merkte es nicht. Er fahndete in seinem listenreichen Odysseushirne nach der Rettung vor der Zitadelle.
Plötzlich hieb er dem Pferde die Hacken in die Flanken und scheuchte es aus dem friedlichen Schlummer. Entrüstet tat es einen Sprung zur Seite. Dann ging es im Galopp dahin. Der Plan in Mirabeaus Kopf jagte der Ausführung entgegen.
Ohne weiteren Zwischenfall gelangte er gegen Mittag nach Manosque und vor das Gassaudsche Haus. Emilie eilte ihm, Gogo im Arm, entgegen, hell und strahlend, in einem ländlichen, enganliegenden weißen Kleide mit breiten schwarzen Streifen. Ein leiser Hauch von Körperlichkeit, von Begehren atmete, wie immer, von dieser kleinen schwarzen Frau aus.
Doch Mirabeau sah in ihr heute nur ein Werkzeug seiner Rettung. Ihre harrende Zärtlichkeit schrak verletzt zurück.
»Komm ins Zimmer,« gebot er barsch, »ich muß mit dir sprechen.«
Verwundert, Böses argwöhnend, folgte sie.
Er erzählte ihr in schnellen Worten das Abenteuer und seine gefährlichen Folgen.
»Nur einer kann mich vor der Zitadelle bewahren: mein Vater. Er muß sich an seine Freunde unter den Ministern wenden. Du mußt sofort nach Bignon reisen und –«
»Ich?!« rief sie bestürzt.
»Ja – du. Wer sonst?«
»Zu deinem Vater!« Ihr war, als solle sie einem Ungeheuer in den geöffneten Rachen springen.
»Ja – doch. Und sofort. Ehe er es von anderer Seite erfährt. Wie leicht glaubt man dem Briefe eines boshaften Heuchlers! Aber eine Aufklärung durch das gesprochene Wort, durch dein Wort der Liebe, macht hundert feindliche Briefe zunichte. Briefe haben keinen Gesichtsausdruck, das gesprochene Wort aber lüftet früher oder später den Schleier von der Seele. Mein Vater, der in dem entstellten Bericht nur eine unverzeihliche Roheit und den Streich eines Tollhäuslers erblicken würde, wird in deiner Erzählung das Motiv der Ehre erkennen, der Ehrenrettung meiner Schwester, seiner Tochter, und damit seines Namens.«
Sie stand vor ihm, mit ihrem kleinen spöttischen Lächeln und hörte kaum auf seine vielen bedrängenden Worte. Sie war entschlossen, nicht zu fahren; sie fürchtete den Schwiegervater, den sie aus des Gatten Erzählungen und seinen harten grotesken Briefen genugsam kannte. Sie weigerte sich schlankweg.
Da sah Mirabeau sie gelassen an und sagte: »Gut, mein Kind. Ich zwinge dich nicht. Aber wundere dich nicht, wenn dann auch meine Großmut ihr Ende findet. Noch heute schicke ich dich mit Schimpf und Schande deinem Vater zurück. Das Kind bleibt hier. Die Schuld an diesem Skandal trägst du.«
Der Partherpfeil traf. Sie rang mit sich, bog ihren geschmeidigen weichen Körper in Kampf und Qual – und sagte leise: »Ich fahre.«
Er nickte nur. Er hatte nichts anderes erwartet. So leicht man den Ehebruch als Geschehnis nahm, so grausam brach diese gefällige Zeit den Stab über die entlarvte Ehebrecherin. Während Emilie ihre Reisevorbereitungen traf, walzte er ihr unaufhörlich die Worte in die Hirnrinde, mit denen sie den Vater gewinnen, gab ihr Anweisungen, wie sie die einflußreiche Geliebte des Marquis und seinen Bruder, den Bailli, behandeln sollte. Ihr war so wirr zu Sinn, daß sie nichts begriff, nur immer wiederholte: »Ja – ja – ja.«
In der Frühe des nächsten Morgens fuhr sie davon in einer elenden Postchaise, die man bei dem Pfandleiher Rodolphe gemietet hatte, obwohl es höchst problematisch schien, ob sie die weite Reise überleben würde. Beim Abschied trug Emilie noch die Leidensmiene des tragischen Opfers zur Schau. Doch kaum aus den Gassen Manosques heraus, heiterte ihr Schalksgesicht sich bewunderungswürdig auf. Die Nacht hatte einen inneren Umschwung gebracht. Es schien ihr plötzlich »sehr hübsch«, einmal der Langenweile der kleinen Stadt zu entrinnen. Jedenfalls brachte die Reise Abwechslung in dieses Einerlei ihrer Ehe. Und der Marquis! Mein Gott, schließlich war er, trotz aller Bärbeißigkeit, doch ein Mann. Und durchaus noch kein verknöcherter Greis. Erst neunundfünfzig. Also immerhin noch ein Mann. Das bewies auch die Geliebte. Und auf Männer verstand sich die kleine Frau. In einem Punkt waren sie alle gleich. Sie würde alle Minen ihrer verführerischen Weiblichkeit springen lassen und das Monstrum kirre machen. Jetzt lockte die Aufgabe sie – lockte sie geradezu. Es schien ihr erregend, einmal ihre Kraft in der Bändigung dieses wilden Raubtieres zu erproben.
Die Reise war beschwerlich und wenig vom Wetter begünstigt. Am ersten Tage schwemmte eine Sintflut hernieder im Gefolge eines dieser zerschmetternden Gewitterstürme der Provence. Die alte Kalesche zitterte, ächzte, bebte, das Wasser strömte durch das zerschlissene Dach herein. Doch tapfer kämpfte das Gerümpel sich bis Avignon durch. Die folgende Nacht verbrachte Emilie in Tain, beunruhigt durch die Nähe des Geliebten, mit der Versuchung kämpfend, dem Musketier ein Billett der Aufforderung zu senden. Doch ihre brüchige eheliche Tugend siegte. In der nächsten Mitternacht rasselte ihre Chaise durch die Tore von Lyon. Ohne Aufenthalt ging es nach dem Pferdewechsel weiter. Früh am folgenden Morgen stieg sie zu Montargis, im Kloster der Dominikanerinnen, aus dem Wagen. Das Ziel war erreicht.
Schloß Bignon war in halbstündiger Wanderung zu erreichen.
Mirabeau hatte ihr aufgetragen: »Steig im Kloster Montargis ab. Äbtissin ist Frau von Remigny, eine gute alte Freundin von mir. Die brave Remignichonne, wie ich sie immer nannte, wird dich mit offenen Armen aufnehmen. Ihr kannst du alles anvertrauen, sie wird dir mit gutem Rate zur Hand gehen. Vom Kloster aus schicke einen Boten nach Bignon und melde deine Ankunft. Der Alte ist kein Freund von Überraschungen.«
Nun war sie hier. Nun begann das Abenteuer von Bignon.
Sein Anfang war glückverheißend. Die »Remignichonne« empfing Emilie mit freudig gebreiteten Armen. Sie war der heitere Typ der Südfranzösin, übersprudelnd, schwankbereit, wortselig, lebensstark. Eine kugelrunde, kleine, schwarze Dame von vierundvierzig.
»Herrgott, seine Frau, Gabriels Frau!« Sie schlug die dicken Arme zusammen, als die Gräfin ihren Namen genannt hatte, entführte sie durch die hellen sonnigen Gänge des Klosters in ihr behagliches Nonnenzimmer, half ihr, sich umkleiden, waschen, vom Reisestaube erfrischen, ätzte sie mit schwelgerischen Leckerbissen, forschte in drei Minuten den Zweck ihrer Reise aus ihr heraus, lachte ausgelassen über den neuesten Streich »ihres Gabriel« und rief triumphierend:
»Das ist er, wie er leibt und lebt! Der wird noch ganz andere Sachen vollführen, dieser Brausekopf. Herrje, wie oft hat er dort in dem Stuhle gesessen als Junge und Jüngling und seine alte Remignichonne in Gefahr gebracht, vor Lachen ihre Fetthülle zu bersten. Was konnte er Schnurren und alberne Weisheiten verzapfen! Und nun hat er schon solch süße, kleine, tapfere Frau, die für ihn Heldenwege wandelt!«
Sie herzte Emilie und küßte sie zärtlich auf den üppigen roten Mund.
»Nur Mut, Kleine. Es wird schon alles werden. Die in Bignon haben Verständnis für Tollheiten. Sind sie ja gewöhnt. Der Alte ist selbst nicht besser. Eine verdrehte Familie. Ich bin ganz mit ihnen verwachsen. Die beiden Mädel, die Marie und die Louise, sind meine Schülerinnen. Ich muß es schon bekennen, wenn meine Erziehungskünste damit auch keine große Ehre einlegen. Das Kloster ist nämlich ein Institut.«
Lebhaft trudelte sie auf ihren feisten kurzen Beinchen zum Fenster.
»Kommen Sie mal her, Kleine! Sehen Sie, das hübsche Mädchen dort« – sie zeigte auf die Zöglinge, die eine Schulpause im Garten durchwandelten – »ist Ihre Nichte. Ich rufe sie nachher. Erst wollen wir noch ein bißchen plaudern. Sie ist die älteste Tochter der Karoline, die den Marquis du Saillant geheiratet hat. Ein großes Mädchen für ihr Alter. Sie ist neun. Jedes Jahr kriegt die Mutter ein Kind. Seit dreiundsechzig ist sie verheiratet und hat schon acht. Doch die meisten sterben wieder – vielleicht aus Klugheit. Ein Knabe ist vor zwei Monaten verschieden. Vor vier Wochen kam aber schon der Ersatz. Die arbeiten prompt, wie ein Uhrwerk. Übrigens sind die du Saillants diesen Sommer in Bignon. Sie werden sie also sehen. Und die Älteste von den Kindern Ihres Schwiegervaters, die Marie, die ist nun ganz bei uns. Ist Nonne geworden. Leider ist sie wahnsinnig. Aber ganz ungefährlich. Sehr sanft. Jetzt ist sie die Freude des Klosters, früher war sie sein Schrecken. Was die angestellt hat! Ein unbändiges Temperament. Sogar mit unserem Gärtner hat sie es gehabt. Aber ich schwatze und schwatze, und Sie wollen sich gewiß im Schlosse melden.«
»Ich muß wohl,« lächelte Emilie, »obwohl ich, ehrlich gestanden, Angst habe.«
Sie sprach wahr. Jetzt, da sie auf Rhodos stand und es zu springen galt, war ihr doch etwas bang zumute.
»Papperlapapp,« lachte die Remignichonne, »er ist besser als sein Ruf, der Alte. Kommen Sie. Da ist Papier und Gänsekiel. Schreiben Sie ein paar Worte. Ich schicke gleich den Sohn unseres Torwarts.«
Als diese ängstliche Pflicht erfüllt war, plauderte die rundliche Äbtissin fort.
»Sie werden den Alten schon gewinnen, Sie mit Ihrem netten betulichen Wesen. Nur fröhlich müssen Sie sein. Er will Lachen um sich haben.«
»Der Marquis?!«
»Ja.«
»Und ich dachte, alles um ihn herum wäre grämlich und finster.«
»Keine Spur. Er ist ein behaglicher Herr, nur unberechenbar, gallig, rechthaberisch. Man darf ihm nicht widersprechen. Sonst aber sehr umgänglich.«
»Gegen Gabriel ist er doch aber ein grausamer Tyrann«, wandte Emilie ein.
»Ja, gegen die Kinder ist er hart. Das liegt an seiner eigenen Erziehung. Sein Vater, Jean-Antoine, war ein sonderbarer Kauz. Ein Held, aber borstig. Bei Cassano 1705 verteidigte er eine Brücke, die Prinz Eugen durchaus haben wollte. Als ihm eine Kugel den rechten Arm zerschmetterte, ergriff er mit der Linken die Fahne. Eine zweite Kugel zerfetzte ihm die Sehnen des Halses und die Halsader. Aber er kam durch. Der Arm blieb gelähmt, und um den Kopf zu stützen, mußte er, fortan ein silbernes Halsband tragen. Ach, das muß ich Ihnen erzählen! Als ihn der Herzog von Vendôme nach dem Friedensschluß Ludwig XIV. vorstellte, um ihm eine einträgliche Friedensstellung als Lohn seines Heldentums zu erwirken, und Vendôme dem König bemerkte, daß der Oberst Mirabeau während des ganzen italienischen Feldzuges nicht aus der Rüstung gekommen sei, fügte der Oberst barsch hinzu: »Ja, Majestät, und wenn ich mich vom Feldzug gedrückt und mich hinter irgendeine Hure am Hofe gemacht hätte, wäre ich heiler am Körper und zufriedener mit meiner Karriere.«
Der König wandte ihm indigniert den Rücken, und Vendôme schalt: »Künftig werde ich dich dem Teufel vorstellen, aber nie wieder dem König.«
Emilie preßte der Erzählerin traulich die fleischige warme Hand. Diese Äbtissin war nach ihrem Geschmacke. Die Remignichonne fuhr, durch den Beifall ihres Publikums befeuert, emsig plappernd fort:
»Da es mit der Stellung nun natürlich nichts wurde, ward der vierzigjährige ›Haudegen vom gelähmten Arm und gestützten Halse‹ Freier. Er fand bald, obwohl er doch fast alle Knochen und alle Sehnen verloren hatte, die Gesuchte in dem schönen jungem Fräulein von Castellane. Es wurde eine glückliche Ehe. Den Kindern gegenüber – es waren sieben, doch drei blieben nur am Leben – war er unerhört rauh und streng. Nie hätten die drei Söhne gewagt, dem Vater eine direkte Verehrung darzubringen, nie durften sie sich einer längeren Unterhaltung mit ihm erfreuen, ja, sogar wenn sie seine Briefe lasen, zitterte ihr Herz vor Furcht. Der Marquis hat einmal zu mir gesagt: ›Ich habe nie den Vorzug gehabt, die Hand des ehrenwerten Mannes zu drücken, eines Vaters, dessen Wesen eitel Güte war, aber eine Güte, die sich hinter der Würde verschanzte, die man immer spürte, ohne daß sie jemals nach außen in die Erscheinung getreten wäre.‹ Da haben Sie den Schlüssel zu seinem eigenen Verhalten seinen Kindern gegenüber. Es ist diese unbegreifliche Strenge des Vaters, die er mit den stärksten Eindrücken, denen der Jugend, an sich erfahren hat.«
Emilie nickte sinnend.
»Und dann«, plauderte die Äbtissin fort, »hat ihn seine Ehe verbittert.«
»An ihrem Unglück ist doch er allein schuld!« erklärte Emilie überzeugt.
»Na – na – na«, wehrte die kleine Runde. »Beide tragen daran ihr gerüttelt Maß. Ich kenne die Marquise sehr genau. Sie war durch und durch hysterisch, plagte ihn mit ihrer Liebesbedürftigkeit, machte ihm vor Gästen und Dienstboten unbegründete skandalöse Eifersuchtsszenen, jeden Augenblick schlug ihre überschwengliche Stimmung ins Gegenteil um, sie führte den Haushalt wie ein Freudenmädchen in ewigem Zank mit den Dienstboten – ein schreckliches Durcheinander war es, kann ich Ihnen sagen –, und dann – das setzte allem die Krone auf – coiffürte sie den Marquis à la Moliere.«
»Ich verstehe nicht recht.« Emilie blinzelte verlegen und suchte die Röte, die in ihre Wangen stieg, mit aller Gewalt zu unterdrücken.
»Sie betrog ihn. Betrog ihn frech. Hatte nicht bloß einen Buhlen, sondern stellte ihm – man kann es kaum fassen – eine Bescheinigung über ihre Liebenswürdigkeit aus. Der Offizier, ein ›Ehrenmann‹, ließ die Ehrenurkunde dem Marquis zukommen. Da riß ihm denn doch die Geduld. Er warf sie aus dem Hause.«
Emilie rang mit ihrem Schuldbewußtsein. War keines Wortes mächtig. Da kam ihr der Zufall zu Hilfe. Die Tür öffnete sich, herein schritt langsam das mollige Behagen, die Marquise Karoline du Saillant. Eine stattliche Frau, mit starkem Busen, der oft genährt, einem runden Leibe, der vielen Segen getragen, einem gutmütigen, sehr schönen Gesicht mit zartem sanften Frauenteint, ein Weibesglück, von dem ein kräftiger Duft erdhafter Mütterlichkeit ausströmte.
»Ah – Bonnette!« rief die Äbtissin.
Bei allen Bekannten hieß die Marquise so, ob ihrer Güte.
»Ja, da bin ich schon«, lachte Karoline.
Ohne eine Vorstellung abzuwarten, ging Bonnette mit Schritten, die wußten, wohin sie traten, auf Emilie zu und zog sie an ihre weiche breite Mutterbrust. Die junge Schwägerin empfand warm ein wohlig durchrieselndes Gefühl der Geborgenheit.
Dann hielt die Marquise sie mit beiden Armen von sich ab und betrachtete sie prüfend.
»Hübsch bist du!« stellte sie sachgemäß fest, »sehr hübsch. Ein bißchen schmal und schwach. Aber wir werden dich hier schon herausfüttern.«
Emilie sah neugierig zu der großen Frau auf. Sie war das erste Mitglied der Familie ihres Mannes, das sie kennenlernte. Zu ihrer Hochzeit war keiner gekommen. Damals hatte sie gestaunt; seitdem sie aber diese seltsamen egoistischen Menschen aus Erzählungen kannte, wunderte sie sich nicht mehr, daß sie die beschwerlichen Tage in der Reisekutsche gescheut hatten.
Eine prächtige Frau, dachte sie. Das war also diese weitberühmte traditionelle Schönheit der Mirabeaus, von der ihr Mann allein die Ausnahme bildete, die die Regel bestätigte. Die starken, offenen, geraden, leuchtenden Züge, diese Heldengestalten, diese klugen Stirnen! Sie sah die Frau lange an. Endlich fand sie Worte.
»Ich freue mich, daß ich dich zuerst begrüßen kann, Karoline. Ich fühle mich bei dir so geborgen. Ein bißchen Angst hatte ich nämlich doch vor euch allen.«
Da lachte Bonnette wieder ihr breites erhellendes Lachen.
»Gelt, die kann lachen?« rief die Remignichonne. »Der Marquis von Mirabeau nennt sie ›die stärkste Lacherin Frankreichs‹.«
»Und er hat recht«, lachte Bonnette. »Jetzt aber wollen wir losziehen. Bignon erwartet dich. Der Schwiegervater ist zwar nicht zu Hause, er hat einen Ausflug zu den Quellen der Mont-Dore gemacht, kommt aber im Laufe des Tages zurück. Hast du schon meine Tochter gesehen?«
Die Äbtissin eilte, den jungen Zögling zu holen. Die Schwägerinnen plauderten. Bald kam die Remigny mit dem Mädchen zurück. Es knickste weltgewandt und zutraulich vor der fremden Tante. Aus dem hübschen, intelligenten, jungen Gesicht blickten schon die lebenshungrigen liebesfrohen Augen der Mirabeaus.
»Hier hast du meine Älteste«, stellte Bonnette strahlend vor. »Wir nennen sie Bonnette Nr. 2, denn sie ist die reine Herzensgüte. Jeanne-Charlotte, dies ist deine Tante Emilie.«
Die kleine Dame küßte der Tante respektvoll die Hand und sagte wohlerzogen: »Verehrte Frau Tante, ich bin entzückt, Sie begrüßen zu dürfen.«
Emilie nahm das kluge Kindergesicht in beide Hände und küßte es herzhaft auf den Mund. – – –
Auf dem Wege nach Bignon erzählte Emilie den Zweck ihrer Sendung. Bonnette lachte über des Bruders dreisten Streich. »Wir werden dir alle helfen, ich meine, mein Mann, der Bailli, dein Onkel, und ich. Ob du freilich die Geliebte des Vaters, Frau de Pailly, auf deiner Seite haben wirst, bezweifle ich. Sie ist auf Gabriel nicht gut zu sprechen. Er hat sie schwer gekränkt. Sie hat nämlich, mußt du wissen, meinen jüngeren Bruder Boniface stets sehr vorgezogen und vor dem Vater protegiert. Gabriel hat sich dafür gerächt, indem er überall herumerzählte, er sei aus Achtung vor seinem Vater und Abscheu vor einer schändlichen Teilhaberschaft der keusche Joseph dieser Dame Potiphar gewesen. Der Ton liegt auf ›er‹. Du verstehst?«
Sie lachte schallend.
Emilie schüttelte den Kopf. »Wie töricht unbedacht! Ist der Verdacht denn begründet?«
Bonnette zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich sage nur: der Vater ist neunundfünfzig – sie kaum dreißig. Übrigens, da hast du Bignon.«
Eine breite Pappelallee öffnete ihren Durchblick. An ihrem Ende erhob sich weiß das Schloß. Es war ein einfacher, edler, zweistöckiger Renaissancebau mit neun Fenstern Front, einer großen Tür in der Mitte, die auf eine kleine Brücke mündete. Denn rings um das Schloß gurgelte ein schmaler fließender Wassergraben. Rechts und links flankierten Türme mit spitzer Haube das Haus. Im Hintergrunde dunkelte ein grüner Wald.
Emilie blieb überrascht stehen.
»Schön,« entfuhr es ihr, »sehr schön!«
Versonnen schritt sie die Pappelallee hinab. Hier also war Gabriel geboren! Eine beklemmende Rührung ergriff sie. Die Entfernung hatte alles Trübe ihrer Ehe gemildert. Im Anblick seines Geburtshauses packte sie eine sentimentale Liebe zu dem Manne, der in Unruhe in Manosque des Erfolges ihrer Mission harrte. Jetzt unterschied sie Gestalten auf der Brücke. Bignons Insassen kamen ihr zur Begrüßung entgegen.
Frau von Pailly umarmte sie mit seidiger Innigkeit, der Bailli mit rauher Seemanns-Herzlichkeit, der Marquis du Saillant verbeugte sich ritterlich. Er sagte nichts. Er hieß in diesem Kreise »der große Schweiger«.
Madame de Pailly führte Emilie sofort in das Zimmer, das sie eilig für die Schwiegertochter des Geliebten bereitet hatte. Im Hause wurde gemauert und gezimmert.
»Sie müssen die Unordnung entschuldigen,« lächelte sie katzenfreundlich, »aber so ist es immer bei uns. Wir lassen immer irgend etwas umbauen.«
Das Zimmer war hell und freundlich. Während Emilie es sich behaglich machte, leistete Frau von Pailly ihr Gesellschaft. Emilie betrachtete prüfend diese Frau, die allein Einfluß hatte auf den Schwiegervater.
Aus Gabriels Berichten wußte sie, daß sie einer französischen Refugiéfamilie der Schweiz entstammte, in Lausanne an einen Offizier der Schweizergarde, einen Sechziger, verheiratet war, aber stets getrennt von ihm lebte. Sie war, ohne Frage, schön und voll pikanten Reizes. Die grauen Augen verrieten ihre berühmte Klugheit, die hohe Stirn ihren Geist. Man begriff, daß Rousseau für sie geschwärmt hatte.
Das Gespräch zwischen den Damen lief vorsichtig an der Oberfläche der Dinge dahin. Man war vor einander auf der Hut. Sie fühlten die Feindschaft gegen einander und suchten sie durch Zuvorkommenheit zu übertünchen. Frau von Pailly sprach, wenn sie von dem Marquis redete, stets in der ersten Person des Plurals. »Wir« bauen, »wir« tun, »wir« lieben. Sie betonte ihre Stellung als Hausfrau, gerade weil sie sich des Schiefen ihrer Lage allzu gut bewußt war.
Sie sprachen vom Wetter, der Reise, der Landschaft und mieden alles Persönliche. Auch beim Mittagsmahle im großen sonnendurchfunkelten Eßsaale glitt das Plaudern vorsichtig an allen Klippen vorüber. An einem Nebentische lärmten drei von den Kindern der du Saillants. Zwei andere waren noch nicht tischfähig.
Der Bailli, mit rotgebranntem Seemannsgesicht, struppigem, ungepudertem Haare, aber wundersam lebendigen Augen, führte das große Wort, geistreich und witzig. Bonnette lachte schmelzend dazwischen. Die Pailly lächelte treffende Bemerkungen, du Saillant, ein sehr eleganter, schöner Mann, mit klugen einnehmenden Zügen, schwieg teilnehmend und beredt.
Dann entführte der Bailli die Nichte in das Herrenzimmer, während die andern ihre ländliche Siesta hielten.
Während der Oheim behaglich rauchte, erzählte Emilie das Unheil von Grasse.
»Hoho,« rief der Seemann von ehedem, als sie geendet, »das ist doch nicht so schlimm! Das ziehen wir schon wieder ins Lot. Das ist eine Ehrensache und keine kriminelle Affäre. Überlaß nur alles mir. Ich spreche mit meinem Bruder.«
Emilie fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Wie gut sich alles einrichtete! Alle kamen ihr liebevoll und hilfsbereit entgegen. Alles zeigte ein rosiges Gesicht. Sie lächelte bestrickend. Dem alten Seebären ward warm ums Herz. Die Nichte gefiel ihm. Er nahm den Mund immer voller und erging sich in starken Worten seines Sekundanteneifers.
Ach, die arme Emilie ahnte noch nicht, daß er nur in Abwesenheit des um zwei Jahre älteren Bruders eine Heldengestalt darstellte. Angesicht zu Angesicht wagte er dem Älteren gegenüber, der fast völlig von des Jüngeren Vermögen lebte, keinen Widerspruch. Da ward der alte Seerecke schüchterne Zustimmung.
»Du kannst hier allein auf mich rechnen«, belehrte er großartig. »Doch das genügt. Die andern, außer Karoline, die nur lacht und nichts zu sagen hat, sind gegen dich.«
»Auch der Marquis du Saillant?« fragte Emilie erstaunt.
»Auch er! Gabriel hat ihn bös gekränkt. Er hat überall herumerzählt, der Marquis habe die Pailly nicht so verabscheuungswürdig gefunden wie er selbst und sich, weniger delikat als er, zum Teilhaber seines Schwiegervaters gemacht. Deshalb wohne er auch immer bei dem Alten. Dabei tut er es, weil er ein armer Schlucker ist und mit seiner Kinderschar verhungern müßte.«
Emilie kämpfte ihr Lachen nieder. Sie dachte an das Gespräch mit der Schwägerin auf dem Wege nach Bignon. Gabriel war doch ein boshaftes Lästermaul!
Der Bailli ging weiter in seinen Vertraulichkeiten.
»Die schwarze Katze ist entschieden gegen dich.«
»Die schwarze Katze?« fragte Emilie verwundert. »Wer ist das?«
»Die Pailly«, flüsterte der Seeheld und blickte sich ängstlich um. »Wir nennen sie – unter uns natürlich – die schwarze Katze oder die schwarze Dame. Weil sie immer schwarz geht – der Würde wegen, die sie allen Grund hat, äußerlich zu betonen, und eine falsche Katze ist. Ich verabscheue sie, die du Saillants übrigens auch. Aber sie ist nun einmal Herrin hier. Mein Bruder steht völlig unter ihrem Einfluß. Dich wird sie hassen, wenn du meinem Bruder gefällst. Und du wirst ihm gefallen, verlaß dich darauf.«
Auf diese zukunftsfrohe Zusicherung hin machte Emilie dem Onkel die schönsten Verführeraugen und rekelte sich lüstern in dem bequemen Lehnsessel. Dem alten Seemann ward heiß in den Gliedern.
Er reckte sich, dachte an seine wilde Mirabeaujugend und erzählte seine Heldentaten.
»Dja,« schmunzelte er, »auch wir sind nicht immer ein ehrbarer Bailli gewesen. Beileibe nicht. Mit dreizehn traten wir ins königliche ›Corps des galères‹ und haben es schon mit fünfzehn verteufelt toll getrieben. Jawoll, junge Frau. Du hast übrigens verdammt hübsche Augen. Hast du! Leider haben wir auch im Trinken des Guten zuviel getan und dafür oft in Arrest gesessen. Aber mit achtzehn machten wir damit energisch Schluß. Und nu ging's bergan. Kein Jahr ohne Feldzüge, Verwundungen, englische Gefangenschaft. Allerhand Abwechslung. Mit vierunddreißig waren wir königlicher Schiffskapitän, mit fünfunddreißig Gouverneur von Guadeloupe. Strenges Regiment haben wir da geführt, kleine Frau.« Er versuchte, grimmig und furchterregend dreinzuschauen. »Waren wenig beliebt, mehr geachtet, noch mehr gefürchtet. Bei den Weißen nämlich. Die Eingeborenen schätzten uns um so mehr. Der ärmste Neger hatte freien Zutritt zu mir. Ich hatte die Marotte, auch in dem Sklaven meinen Bruder zu sehen. Dann waren wir reif für das Marineministerium. Aber hatt' sich was! Die Pompadour fand, ich hätte nicht den rechten Anstand. Hatte ich wohl auch nicht von meinem Vater geerbt. Konnte ihr nicht – – naja, kleine Frau. Fast hätte ich was Unpassendes gesagt. Lach nicht so niedlich! Sonst vergesse ich, daß ich ein geistliches Oberhaupt und du Gabriels Eheweib bist. 1758 wurden wir – bitte Respekt! – so ist recht – Generalinspektor der Strandwachen von Saintoge, der Picardie, Normandie und Bretagne. Hättest du gar nicht hinter dem alten Onkel im zerschundenen Priesterrocke erwartet, wie? Doch? Besten Dank, du liebenswürdiges Mädchen. Kann dir sagen, während des Siebenjährigen Krieges gab's da allerhand zu tun. Na, kurz und gut, schließlich nach Friedensschluß hatte ich die Seegeschichte satt. Ich legte mein Gelübde ab und ging in mein ›Kloster‹, den Malteserorden. Ward – Achtung! – General der Galeeren des Ordens. Dann fielen mir zwei reiche Ballaien oder – wenn du willst – Komtureien zu. So ward ich – was du hier vor dir siehst – friedlicher Bailli oder Komtur und Erbonkel. So, nun kennst du die Naturgeschichte deines jüngsten und ältesten Verehrers.«
Emilie fand den Onkel »famos« und sagte es und feuerwerkte ihn ausgelassen an. Er erwiderte das Feuer mit vollen Breitseiten. Mitten in diesem unterhaltsamen Gesellschaftsspiele wurden sie unterbrochen.
Der Marquis von Mirabeau trat ein. Emilie sprang mit einem kleinen Schrei empor und starrte auf den großen Mann mit den scharfgeschnittenen Zügen, der geraden starken Nase, dem vorspringenden Energiekinne, dem wollüstigen lebensgierigen Munde. Das Haar trug er in natürlichen gepuderten Wellen.
Auch der Bailli hatte sich erhoben und sah bedeutend weniger martialisch drein als ehedem.
Der Marquis betrachtete ungeniert die Schwiegertochter, dann rief er aus: »Mein Gott, sie sieht ja aus wie ein Äffchen!«
Emilie, die sprungbereit gestanden hatte, ihm in gut gespielter Tochterzärtlichkeit an die Brust zu schnellen, prallte zurück. Aber da war der Marquis bei ihr, nahm sie herzlich in die Arme und küßte sie schallend auf beide Wangen. Sie wollte sich verletzt ihm entziehen. Doch er hielt sie fest und lachte: »Ein hübsches Äffchen natürlich, ein sehr hübsches Äffchen.«
Da lächelte sie halb versöhnt. Er aber sagte in altfränkischer Ritterlichkeit: »Meine inniggeliebte Tochter, ich freue mich, dich unter meinem Dache willkommen zu heißen. Du hast durch deine Briefe in meiner Achtung täglich Fortschritte gemacht, ganz abgesehen von der Neigung und der väterlichen Liebe, die ich gleich bei deinen ersten Schreiben empfand. Deine Briefe zeichnen sich so sehr durch Feinheit und Sicherheit des Ausdruckes wie durch Tiefe der Gedanken aus, daß sie mich ganz gefangengenommen haben.«
Emilie blickte freudig befangen und überrascht zu dem gefürchteten Manne auf.
»Ja, meine Tochter; du bist der richtige Stütz- und Angelpunkt zweier hochachtbaren Häuser und die Stütze ihrer Sprößlinge. Du wirst die klaffende Leere zwischen dem Großvater und den Enkeln ausfüllen – würdig ausfüllen, und soviel an mir liegt, sollen meine Seele und mein Geist Hand in Hand mit meiner Erfahrung gehen, um den Reichtum deines Wesens zu vermehren.«
Der Bailli hörte demütig beistimmend zu. Emilie dachte: »Mein Gott, wie viele Worte! Daher also hat Gabriel diesen Phrasenschwall!«
Doch der Marquis war noch nicht zu Ende. »Dein Mann – und zwar im Gegensatz zu Frau von Cabris – ist seinem innersten Wesen nach nicht völlig verkommen.«
Emilie ward es unbehaglich.
»Obwohl ohne wirkliche Hoffnung, arbeite ich immer wieder daran, ihn zu retten – auch dieses Mal. Man hat mir draußen erzählt, was dich hergeführt hat.«
Emilie atmete erleichtert auf. Das Schlimmste war also überstanden!
»In diesem Augenblick besonders, teuerste Tochter, wo die öffentliche und private Mißbilligung drohend über ihm schweben, muß dein mildes und weises Zartgefühl die harte Kruste, die ein bis zur Verrücktheit gesteigerter Hochmut auf dieses tolle Herz gelegt hat, zum Schmelzen bringen. Doch wir wollen heute nicht von diesen peinlichen Dingen reden. Morgen ist auch ein Tag. Heute wollen wir in Freude unsere junge persönliche Bekanntschaft genießen.«
Nachdem er mit echt provenzalischer Redefreude diesen langen Spruch vollstreckt hatte, ward er zusehends menschlicher.
Die Familie ging zur Teetafel. Der Marquis beherrschte die Unterhaltung. Die schwarze Katze wandte kein Auge von ihm, stimmte jedem seiner Worte schmeichlerisch lebendig zu. Der Bailli wagte oft eine ironische Bemerkung, bewies aber allezeit einen gehorsamen Respekt. Bonnette begleitete das Gespräch mit Lachwirbeln, du Saillant lächelte stumm und diskret, Emilie gab artig, zuvorkommend und in dem sichtlichen Wunsche, dem Vater zu gefallen, ihre Antworten. Man sprach von dem Leben in Manosque. Sie erzählte von Gabriels Essay über den Despotismus.
»So, so,« lachte der Vater gallig, »er schreibt wieder? Wird ein schöner Unsinn werden. Wer noch so gärt, wie der Monsieur, soll erst an sich arbeiten, ehe er andern was sagen will. Ich war einundvierzig, als ich meinen ›Menschenfreund‹ schrieb. Kennst du ihn, meine Tochter?« Emilie mußte beschämt zugeben, daß sie wohl von dem Werke gehört, es aber leider nicht gelesen habe.
Die schwarze Katze bekundete schmerzliche Entrüstung.
»Da haben wir den ganzen sauberen Patron!« rief erbittert der Marquis. »Plündert meine Bibliothek im Schloß Mirabeau, gibt seiner jungen wißbegierigen Frau aber nicht das Hauptwerk ihres Vaters. Ohne mir schmeicheln zu wollen, darf ich sagen: Als der ›Menschenfreund‹ 1756 erschien, war er ein literarisches Ereignis. Er war damals nicht nur eins der berühmtesten Bücher Frankreichs, sondern brachte mir Ehrungen aus ganz Europa.«
Alle nickten wie erfreulich arbeitende Pagoden. Der Bailli erinnerte: »Zum Beispiel den schwedischen Wasaorden.«
»Und doch«, fuhr der Marquis fort, »habe ich das Buch zu früh geschrieben. War noch nicht reif genug dazu. Da du das Buch nicht kennst – – –«
»Unglaublich«, flüsterte die schwarze Katze –
»will ich dir den Grundgedanken entwickeln, liebe Tochter. Ich habe das Gleichnis gebraucht von dem Staate als Baum: die Wurzel ist der Ackerbau, der Stamm die Bevölkerung, die Zweige sind die Industrie, die Blätter Handel und Künste; aus den Wurzeln aber zieht der Baum die Nahrung.«
»Ich bin von der Genialität dieses Bildes immer wieder hingerissen«, schnurrte die schwarze Katze.
»Ich habe nun nachzuweisen gesucht, daß diese Wurzeln im französischen Boden zu verdorren drohen durch eine kurzsichtige und falsche Politik. Der edelste aller Berufe, der auf der eigenen Scholle, wird nicht nur mißachtet, sondern geradezu bedrückt durch Vernachlässigung der ländlichen Bezirke, durch unmäßige Steuern, durch Fronden, durch zahllose Zölle.«
»Stimmt alles«, bestätigte der Bailli.
»Aber«, rief der Marquis, »mein System war falsch, so richtig der Grundgedanke auch ist.«
»Fraglos«, entschied die schwarze Katze.
»Ich wurde durch den kleinen buckligen Leibarzt Ludwigs XV., Dr. François Quesnay, belehrt, daß ich den Ochsen hinter den Pflug gespannt hatte.«
Bonnette schmetterte ihr Lachen.
»Ich hatte noch nicht die innere Klarheit, eine klar formulierte, lückenlose, logische Theorie aufzusteller. Und dieser fünfundzwanzigjährige Windbeutel will Bücher über den Despotismus schreiben!!«
Die schwarze Katze drückte lebhafte Mißbilligung dieser unglaublichen Verwegenheit aus.
Emilie wagte keine kühne Verteidigung ihres Mannes. Sie mußte aber daran denken, daß er ihr einmal erzählt hatte, der Vater verfolge ihn so grausam, weil er auf sein Schriftstellertalent eifersüchtig sei. Als er damals aus dem Feldzug in Korsika den Entwurf einer Geschichte dieses Landes heimgebracht und ihn dem Vater stolz gewiesen hatte, warf der Marquis einen flüchtigen Blick in das dicke Manuskript und schleuderte den »wüsten Unfug« in das Feuer des Kamins.
Daran dachte Emilie in bitterer Parteinahme für den Vater ihres kleinen Gogo.
Inzwischen hatte sich eins der Wortgeplänkel zwischen den beiden Brüdern entsponnen, die fast jede Mahlzeit würzten.
»Dieser Narr soll erst ein Mensch werden«, schalt der Vater.
»Dieser Narr«, griff der Bailli auf, »hat Vorzüge, die man bei keinem Weisen findet.«
Bonnette schmetterte. Du Saillant lächelte sein feines Lächeln. Die schwarze Katze funkelte den Marquis an.
»Gib es ihm tüchtig zurück, du Geistesleuchte!« flimmerten ihre klugen falschen Augen.
»Ein Stück von einem Narren«, hieb er zurück, »hat jeder Mirabeau. Aus Gabriel aber kannst du drei komplette Narren schneidern, und es bliebe noch ein Stück zum Flicken übrig.«
»Und doch«, rief der Bailli, »kann er der größte Mann Europas werden, sei es als Feldherr oder Flottenführer, als Minister oder als Kanzler, als Papst, oder als wer will!«
»Ja, wenn es auf die Schnabelfertigkeit ankommt und auf groteskes Aussehen! Dann wird er sicher noch der Fürst de la Bourrasque«. bourrasque = Sausewind.
»Hinter den Narben, die sein Gesicht entstellen, trägt er die Züge der Großen dieser Erde.«
»Der großen Blender. Jawohl. Der ganze Mensch ist eine glänzende Übertreibung.«
»Er wird nach den Sternen greifen – –«
»Und Luft herunterholen.«
»Ich kann das Gegenteil beweisen,« triumphierte der Bailli, »er hat schon einmal in den Himmel gegriffen und – –« Er verbeugte sich galant gegen Emilie.
»Für diesmal hast du recht«, lachte der Marquis und reichte der jungen Frau zärtlich die Hand über den Tisch hinweg. Alles lachte. Die Augen der schwarzen Katze aber schillerten verdächtig.
Am Abend errang Gräfin Mirabeau einen noch glänzenderen Sieg. Diesmal nicht durch des Bailli Ritterlichkeit, sondern durch eigenen Wert.
Auf Bonnettes Bitte setzte sie sich ans Spinett und sang. Ehre geschulte herrliche Stimme war ihr kostbarster Besitz, ihre Vortragskunst hatte sie auf Schloß Tourves neben der Königin des Liebeshofes, der schönen Madame des Rollands, zur unbestrittenen Kronprinzessin erhoben. Sie wußte, daß es heute abend galt. Sie gab ihr Bestes. Die Übung des Liebhabertheaters zu Tourves hatte sie gelehrt, Befangenheit zu meistern. Sie sang provenzalische Volkslieder und Arien aus den neuesten Werken, aus der Lieblingsoper ihres Marines »Tom Jones«, aus Penelope von Piccini, aus Beaumarchais' Tavara.
Sie erntete begeisterten Applaus.
Und die gute, starke, mütterliche Bonnette rief: »Emilie muß mit uns nach Paris. Sie wird Furore machen. Wenn die Königin, diese Musik-Enthusiastin, sie hört, wird sie die Lamballe und die Polignac verdrängen!«
Der Vorschlag fand stürmischen Beifall. Nur die schwarze Katze schwieg eisig.
Emilie hörte nichts als das Zauberwort »Paris«. Und ward elektrisiert. Wie, sie sollte nach Paris! Sie! Dort singen! An den Hof – den Hof von Versailles. Das Zimmer begann, schwindelerregend um sie zu kreisen. Nicht zurück nach Manosque, in dieses abscheuliche Provinznest, zu den braven beschränkten Gassauds, nicht in die Not und Gerichtsvollziehermisere ihrer Ehe, nicht zu den Wutausbrüchen ihres Mannes, nein, in das Licht, den Trubel, die Herrlichkeit, die Verführung von Paris. Eine strahlende Welt der Möglichkeiten öffnete sich ihrem verzauberten Blicke. Ein neues Leben der Zerstreuung, des Erlebens, der Abenteuer, des Erfolges tat sich ihr auf. Paris – Versailles – Feste – die Königin – Bälle – Maskeraden. Was war dagegen selbst der üppige sinnenfrohe Liebeshof von Schloß Tourves – ihre Sehnsucht, ihre fieberheißen Mädchenerinnerungen! Paris – dieses Paradies des Glanzes, des Glückes, des Rausches, der Liebe, der Galanterie! War es ein Spuk, der sie narrte?! War es Möglichkeit?
Sie sah den Marquis mit glänzenden Augen an. Er lachte. »Du bist nicht nur ein hübsches, sondern ein sehr musikalisches Äffchen, das man mit Ehren produzieren kann.«
»Und – wenn du willst – kannst du bei mir bleiben und im Herbst mit uns nach Paris gehen. Du wirst einen großen Erfolg haben bei der Gräfin Rochefort, die schöne Stimmen vergöttert aus eigenem Geschmack und aus Zuneigung zu ihrem Freunde, dem Herzog von Nivernais, einem Melomanen, der bei seinem schwachen Magen Musik als einzige Nahrung genießt. Doch darüber sprechen wir morgen, wenn wir den Zweck deiner Sendung erörtern.«
In dieser Nacht schlief Emilie wenig, trotz der Ermüdung der Reise. Sie lag in dem kühlen frischen Leinen des breiten Himmelbettes und schwelgte in wachen Träumen in Paris, in Liebesintrigen, in Tanz, in Melodien, in Triumphen, in Bewunderung, die der Hof von Versailles ihr darbrachte. Manosque, Gabriel, der kleine Gogo waren sehr ferne, blasse Schemen der Erinnerung geworden.
Der nächste Morgen brachte die entscheidende Aussprache. Schon in der Nacht hatte die schwarze Katze gefaucht. Sie fürchtete die kleine vibrierende Frau mit dieser betörenden Stimme. Jeder Mirabeau war ein Musikfanatiker. Wer konnte wissen, welchen Einfluß die Besitzerin dieser gottbegnadeten Kehle auf das musiktrunkene Herz des Marquis gewann! Also fort mit ihr! Wenn Gabriel in die Zitadelle geworfen wurde, durfte sein Weib freilich die Gefangenschaft mit ihm teilen. Wollte sie ihm aber fernbleiben, so ward ihr die Trennung von ihm naturgemäß moralisch leichter, wenn ihr die Ausrede der Strapazen des Kerkers blieb.
So ward Madame de Pailly ganz Milde und Versöhnlichkeit gegen den verhaßten Sohn des Geliebten. Der Alte aber wies diesmal jede Einmischung schroff ab. Er wußte, was er wollte, und handelte.
Nach dem Frühstück bot er der Schwiegertochter ritterlich den Arm, ihr Bignon zu zeigen. Im Taumel der neuerwachten Zukunftsphantasien schritt sie neben dem Marquis dahin und wußte nicht, ob sie Gnade oder Strenge erhoffen sollte.
Stolz wies der Alte ihr sein Besitztum.
»Alles bei mir dient der Nützlichkeit, nichts dem reinen Schmucke«, belehrte er. Und als sie im Park waren: »Sieh, Bignon, diesen Blumenkorb! Ist es nicht eine hübsche Mischung von Bäumen, Wäldchen, Bächen und Kulturen, daß man meinen sollte, alle Vögel des Landes haben hier ihr Stelldichein? Nachtigallen nisten hier in Mengen. Jede Nacht des Sommers ist voll ihrer süßen Klage. Dort siehst du die Wirtschaftshöfe – die Mühle – die Meierei.«
Und er erzählte ihr, wie er dauernd das Gut verbessere. Ach, sie wußte von ihrem Manne, daß diese »Verbesserungen«, die seine Manie waren, sein und seiner Frau Vermögen verschlungen hatten.
Endlich begann er, von Gabriel zu sprechen. »Ich werde für ihn handeln«, entschied er.
»Oh«, rief sie. Freude und Trauer rangen in dem Worte.
»Ich werde ihn dem ordentlichen Gerichte entziehen, werde in Paris Schritte tun, eine neue lettre de cachet gegen ihn zu erwirken. Er soll in die Zitadelle, der Bursche!«
»Vater,« bat sie matt, »üben Sie Gnade!«
»Ich übe Gnade. Er soll in die grausamste Zitadelle, bis ihr Kommandant mir für seine Reue und sein Wohlverhalten bürgt. Dann kommt er in ein anderes Wundergefängnis, das noch höhere Besserungserfolge erzielen soll. Und so fort, stufenweise fortschreitend, bis er als dauernd gebessert entlassen werden kann. Größere Nachsicht und Geduld kann man von mir als Vater nicht verlangen.«
Sie wollte entgegnen, fühlte die Verpflichtung, zu bitten, zu flehen, alle Kraft auf das Ziel zu richten, das Verhängnis abzuwenden. Doch er schnitt ihr das Wort ab:
»Spare alle Bitten. Keine Macht kann mich von meinem Entschluß abbringen. Dieser unbescheidene Schwätzer, Verschwender und Taugenichts soll mir kirre werden! Du hast als Gattin redlich und treu deine Pflicht getan. Es ist auch bereits entschieden. Der Brief an den Herzog von Vrillière ist heute morgen abgegangen. Also lassen wir es. Du bleibst hier. Der kleine Gogo ist – wie du sagtest – bei den Gassauds gut aufgehoben. Eh bien. Sei glücklich bei uns. Paris harrt deiner. Mit dieser Stimme wirst du Herrin der Stadt und des Hofes sein.
Sie schwieg, trunken in Zukunftswahn. Doch das Schuldbewußtsein trieb sie zu einem letzten Versuche, die Pflicht ihrer Mission warmblütiger zu verfechten. Aber der Menschenfreund wehrte: »Abgetan, absolut abgetan!!«
So fügte sie sich in das angenehm Unvermeidliche.
Der Bailli zuckte kleinlaut die Achseln. »Diesmal hat er nicht so recht auf mich gehört, kleine Frau. Weiß nicht, wieso. Unbegreiflich!«
Emilie schrieb zärtliche Briefe nach Manosque voller Bedauern, voller Mitleid, halb ehrlich, halb heuchlerisch, und genoß die Sommertage von Bignon. Man lebte fröhlich und gesellig. Alle Tage galt es »Verbesserungen« zu feiern: heute ein neugebautes Bad im Bache, morgen eine grünumsponnene Laube, dann wieder eine Brücke, einen neugegrabenen Wasserlauf, eine Chaussee, einen Springbrunnen. Bald wurden Geburtstage und Namensfeste der schwarzen Katze, des Gutsherrn, des Bailli, Bonnettes festlich mit Versen und Couplets, lustigen Verkleidungen, Blumenprozessionen, Illuminationen, Feuerwerk begangen. Der Wein floß in Strömen für die Bauern, Geigen sangen, Menuett und Kontertanz schritten ihre Reigen. Und bei allen diesen Zerstreuungen kosteten Emilies gesellschaftliche Talente einen kleinen Vorgeschmack des Jubels, der ihrer in Paris – in Paris!! – harrte. –
Bitterböse Briefe flogen heran aus Manosque, voller Vorwürfe über ihren Mangel an Energie, an Hartnäckigkeit, an liebevoller Aufopferung. Dann wurde Mirabeau eines frühen Morgens wie ein Beutelschneider von Häschern aus dem Bette gezerrt und per Schub in den Kerker des Château d'If auf der Reede von Marseille befördert.
Emilie aber reiste mit dem ganzen Trosse von Bignon nach Paris. Jammervolle Schmerzensschreie gellten von der Zitadelle zu der jungen Frau hinüber, die berauscht wie ein Falter in das Licht der Hauptstadt flatterte. Sie schrieb lieb und sänftigte seine Verzweiflung. Er flehte sie an, seine Haft mit ihm zu teilen. Sie erfand Ausflucht auf Ausflucht. Er klagte, er sei schwer erkrankt, er barmte um ihre Pflege. Sie schwankte. Da kam der Schwager Boniface nach Paris. Er war nach einer Auslandsreise in Marseille gelandet und hatte den Bruder besucht. Er brachte Nachricht von ihm. So schwer krank war Gabriel nach dieser Schilderung, die auf dem Augenscheine beruhte, nun eben nicht. Er erzählte erbauliche Geschichten von der Frau des Kantinenwirtes auf Schloß If.
Da lächelte Emilie befreit von Gewissensqualen und schrieb: »Boniface hat mir viel Neuigkeiten von dir gemeldet, ohne dabei ein gewisses Kantinenweib zu vergessen. Wohl bekomm's, Monsieur! Spaß beiseite, mein Freund, du mußt sehr bei Kräften sein. Ich war wirklich schon beunruhigt.«
Ein wütender Brief war die Antwort mit dem strikten eheherrlichen Befehle, sofort nach If zu kommen. Doch zugleich erreichte Emilie ein anderes Schreiben. Herr Mouret, der Kantinenwirt des Schlosses If, war sein Absender. Er teilte Emilie »einen ebenso skandalösen wie infamen Streich mit, der gemeinsam von Ihrem Herrn Gatten und meinem perfiden Weibe ausgeführt worden ist«. Sein Weib war unter Mitnahme seiner gesamten Ersparnisse in Höhe von viertausend Livres geflüchtet.
Emilie lächelte ihr spöttisches Lächeln. Mehr hatte sie in dem Pariser Trubel nicht mehr für diesen Mann, der ihrem Gefühl völlig entwachsen war.
Sie lächelte und schlug laut Lärm, ihr Gewissen zu übertäuben. Bald traf die Nachricht ein, daß Madame Mouret, das Kantinenweib, bei Herrn von Briançon, dem Geliebten der Marquise de Cabris, Zuflucht gefunden hatte. Sie wurde dort verhaftet.
Emilie aber schrieb ihrem Manne ein heuchlerisch empörtes Entrüstungsschreiben. Er antwortete:
»Sie sind ein Ungeheuer. Ich will Sie nicht zugrunde richten, ob ich es schon sollte. Aber mein Herz blutet bei dem Gedanken, das zu opfern, was es so zärtlich geliebt hat. Indessen sollen und werden Sie mich nicht länger an der Nase herumführen. Führen Sie Ihr Schandleben, wo immer Sie es wollen. Gehen Sie mit Ihrer doppelzüngigen Falschheit noch weiter, als Sie es bisher getan haben. Adieu für immer!«
Sie legte den Brief gelassen zu den übrigen und vollendete ruhig und mit Sorgfalt ihre Toilette. Sie sang heute abend im Schlosse Toulouse bei dem Herzog von Penthièvre. Auch die Prinzessin Lamballe, die im gleichen Schlosse wohnte, würde unter den Gästen sein und morgen der Königin von der göttlichen Stimme der Gräfin Mirabeau berichten. Auch der Vicomte Castellane war geladen. Er fehlte nie, wenn sie sang oder tanzte oder schauspielerte. Er hatte seine triftigen Gründe. Die kleine sinnliche brünette Frau hatte wahrhaftig andere Sorgen, als über Fanfarenbriefe dieses Gefangenen zu grübeln. Sie legte ein wenig Rot auf die Wangen und unterstrich das interessante Schwarz unter den Augen.
Am selben Tage war Graf Mirabeau aus dem gefälligen Château d'If in das – dem Rufe nach – strengere Schloß von Joux bei Pontarlier überführt worden.