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Unterwegs

Tagebuchblätter eines Verstorbenen.


Sanatorium N.. im Schwarzwald,
1. Mai 189..

Waldesrauschen, wunderbar
Hast du mir das Herz getroffen!
Treulich bringt ein jedes Jahr
Welkes Laub und welkes Hoffen!

Mutter würde zwar sagen, daß jetzt nicht die Zeit sei, von welkem Laub zu reden. Jetzt, im Frühling, wo alles sproßt und treibt. Sie würde mir überhaupt Feder und Papier wegnehmen und versuchen, mich zu einem kleinen Gang »hinaus in den Maien« zu bewegen. Was hat sie nicht alles versucht, als sie noch lebte und für mich sorgte! Es war mir oft lästig, aber – o könnte ich ein einziges Mal wieder ihr gutes, faltiges Gesicht sehen, in dem jedes Fältchen fragte: »Wie geht dir's, mein Sohn? Und was kann ich für dich tun?«

Damit belästigt mich heutzutage niemand mehr. Es hat jeder für sich zu tun und zu denken, und es ist ja auch gut so.

Ich möchte gewiß nicht, daß ein fremder Mensch anfinge, sich in meine Angelegenheiten zu mischen. Und ich werde auch jeden für sich tun lassen, wozu er Lust hat. Es kam mir nur eben so in den Sinn, als ich über die friedliche Gegend hinsah: dunkle Tannenwälder, sprossende Saatfelder dazwischen und der leichte Rauch der Hütten. Und darüber die würzige Harzluft und das leise Rauschen vom Wald herüber. Da fiel mir Lenau ein mit seiner Herbstklage. Frühlingslieder passen nicht für mich; denn der Frühling liegt weit hinter mir. Dieser Frühling da draußen wird auch wieder vergehen, und wenn es Herbst ist, werde ich meine Wanderung fortsetzen, irgend wohin, irgend nach einer Gegend, die geeignet ist, mein Leben wieder eine Weile künstlich zu verlängern. Wozu? Es ist närrisch, daß ich's überhaupt tue, denn es hat weder für mich noch für irgend sonst jemand einen Zweck, wenn ich versuche, mich zu erhalten. Aber es ist nun einmal üblich, daß man's tut, und da ich zufällig über die nötigen Geldmittel verfüge, so mag es noch eine Weile so fortgehen.

Wenn ich fähig wäre, Wünsche zu hegen, so möchte ich wohl der Fabrikarbeiter sein, der mir heute im Wald begegnete. Er sah ein wenig erfrischt aus, aber immer noch elend genug. Morgen reist er nach Hause, um seine Tätigkeit aufs neue zu beginnen. Er war von irgend einer Krankenkasse hiehergeschickt, um seine kranken Lungen zu kurieren. Nun ist seine Zeit vorbei. Es ist sicher, daß er in der rauchigen, steinkohlengeschwängerten Luft in Kürze aufs neue elender als zuvor sein wird. Aber als ich ihm das sagte, lachte er. »O Herr,« sagte er, und seine verwitterten Züge nahmen einen warmen Ausdruck an, »dafür laß ich unsern Herrgott sorgen. Rechtschaffen froh bin ich, daß ich wieder ins Geschäft komme. Ich habe ein Weib daheim und drei Kinder, für die muß ich sorgen. Kann sein, es langt doch, bis der Bub etwas verdienen kann, mit meiner Kraft, mein' ich. Und es geht mir ja besser, viel besser, der Doktor sagt's und ich spür's auch. Weswegen soll ich mich da absorgen?«

Ich könnte ihn beneiden. Und ich beneide ihn auch. Denn schließlich, sein Leben geht dahin und das meine auch, und wenn er am Ende ist, dann hat er sein Tagewerk hinter sich. Und ich? –


3. Mai. Es ist ebenso zwecklos, wie alles andere, was ich tue, müßige Bemerkungen in mein Buch einzutragen. Aber da man sich nicht abgewöhnen kann, zu denken, und da es mich eine Weile vom Grübeln abhält, so kann es ja auch nichts schaden, hier und da ein wenig mit diesem stillen Kameraden zu plaudern. Jedenfalls ist er mir lieber, als die Gesellschaft unten. Wenn ich Schriftsteller wäre, so würde ich mich eine Zeit lang unter diese kranken Menschen mischen. Welkes Laub und welkes Hoffen! Letzteres zwar nicht ganz, wenn ich an das junge Mädchen denke mit den braunen Stirnlocken, das unaufhörlich davon schwatzt, daß es »nur eben ein wenig krank,« eigentlich »nur zur Vorsorge hier« sei, und daß es im nächsten Winter auf alle Fälle wieder schlittschuhlaufen und tanzen werde. Und dabei sitzt ihm der Tod im Nacken! Und Fräulein Brand, die verlobt ist und nicht mehr lang mit der Hochzeit warten möchte! Und der Student, der den Doktor, so oft er ihn sieht, mit der Frage quält, ob er bestimmt zum Herbst wieder auf die Universität gehen könne!

Das ist noch kein welkes Hoffen, aber es wird schon noch welken! Übrigens sagte mir heut der Doktor, daß ich zu viel allein sei. Ich solle mich mehr an die Gesellschaft anschließen, Schach spielen oder Luftkegel oder mit irgend einem kleinen Trupp Menschen ausgehen. »Sie werden mir sonst selbstquälerisch,« sagte er. »Sie könnten sich besser erholen, wenn sie nicht so viel nachdenken wollten!« Der Doktor gefällt mir. Er hat kluge, aufmerksame Augen, und man kann ein vernünftiges Wort mit ihm reden. Er muß ja natürlich diese hoffnungsvollen Leute in ihren frohen Erwartungen bestärken. Bei mir hat er noch nie versucht, sanguinische Gefühle zu wecken. Er möchte nur, daß ich nicht so viel auf den Abgrund sehe, dem ich mich entgegenbewege, weil das die Sache weder ändert, noch angenehmer macht. Da hat er auch recht; denn ich komme gar zu leicht darauf, darüber zu grübeln, was etwa jenseits des Abgrunds liegen könnte, und das ist ein undankbares Geschäft und führt zu nichts, als daß ich verstimmt und noch ungenießbarer für mich selbst werde, als ich schon vorhin bin.


5. Mai. Wenn ich das Lied nicht niederschreibe, bringe ich's nicht aus dem Sinn! Und es ist nicht angenehm, fortwährend Reime vor sich hindenken zu müssen, deren Inhalt ganz und gar nichts mit meinem jetzigen Sein zu tun hat!

Ich hatte mich richtig aufgerafft und war mit meiner Hängematte in den Wald gewandert. Es ist ja nur ein paar Minuten dahin, und ich hatte bald ein lauschiges Plätzchen gefunden zwischen hohen Tannen und doch mit einem freien Ausblick vor mir.

So liebe ich's, blau verschwommene Höhenzüge, fern am Horizont, man kann sich denken, es sei dort irgend ein schönes Land, etwa die Jugendheimat oder so etwas. Und Sonnenschein, der hereingrüßt unter das grüne Dach, und ein lindes Lüftchen, das einem eine Illusion von Genesung und künftiger Kraft bringen könnte, wenn man dergleichen zugänglich wäre.

Also so weit wäre ich für den Augenblick mit meinem Schicksal zufrieden. Aber dann fing die junge Gesellschaft aus dem Kurhaus an zu singen. Sie hatten sich nicht weit von mir hübsch zusammen gruppiert; als ob nicht jedem von ihnen Ruhe und Stille viel zuträglicher wäre! Und dann zu singen! Was haben diese Leute mit ihren kranken Lungen und schlechten Zukunftsaussichten zu singen? Aber natürlich, das kümmert sie wenig; ich war einst auch so! Ja so, ich wollte das Lied niederschreiben, obgleich ich's längst kannte. Nur damit ich es los werde. Ein Liebeslied natürlich.

Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß
Als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß;
Keine Rose, keine Nelke kann blühen so schön,
Als wenn zwei, die sich lieben, beisammen tun stehn.

Und nun kann ich mich selbst belächeln. Mich damit aufzuhalten! Es regte mich nur ein wenig auf, weil mir ohne alles Zutun dabei längst entschwundene Zeiten aufsteigen, Zeiten, in denen ich das Lied auch sang! Und auch noch den Schluß davon:

Setze du mir einen Spiegel ins Herze hinein,
Dann kannst du erkennen, wie treu ich es mein'!

Es ist aber schon lange her, ganze fünf Jahre, und damals war ich noch jung. Jetzt bin ich's nicht mehr, der Doktor mag sagen, was er will. Ein Greis von dreiunddreißig Jahren bin ich. Und Annemarie, die das Lied mit mir sang und mich dazu anlachte, so, als ob sie meine, was sie singe? O die ist noch jung! Wenn ich es einmal nicht glauben will, hole ich nur das Bild heraus, auf dem sie mit ihrem Gatten und dem kleinen Harry in einer blühenden Laube sitzt und noch ebenso lacht wie einst. Sie ist nicht falsch, gar nicht, ich habe sie nur falsch verstanden. Töricht, sich aus freundlichen Worten und lustigen Augen Dinge herauszulesen, die nicht drin sind! Übrigens liegt zum Glück der Ozean zwischen uns. Und auch noch vieles andere.


6. Mai. Was habe ich alles in Amerika gelassen! Gesundheit, Lebensmut, Ideale; man kann nicht alles aufzählen. Aber ich habe Geld verdient, und Geld zu haben ist doch auch angenehm. Man kann sich so bequem zu Tode pflegen.

Laß einmal sehen! Fünf Jahre war ich drüben. Manche andere brauchen zehn und mehr Jahre, so viel zu erreichen, als ich. Ich habe Glück gehabt, sagen die Leute. Glück! Es ist zum Lachen! Ich weiß nicht, was Glück ist. Einmal glaubte ich es zu wissen, damals als ich als junger Ingenieur in das Haus meines deutschen Chefs kam und seine Tochter sah. Als ich mit ihr sang und sie mich anlachte. Das dauerte, bis sie den andern nahm. Dann schlug ich mir für immer alle Sentimentalitäten aus dem Sinn und arbeitete Tag und Nacht. Dann hatte ich Glück! Das mit der preisgekrönten Zeichnung und mit der patentierten Maschine.

Es war aber eine unruhige Art von Glück, ich mag nicht daran denken, es macht mich müde. Ich habe es aber ausgebeutet so gut ich konnte. Ich habe es auch genossen, wenn man das Genuß heißen kann. Weltausstellung, Riesenhotels, Reisen, feine Gesellschaften und dazwischen arbeiten, arbeiten, bis ich nicht mehr unterscheiden konnte, ob mein Kopf selbst summte oder ob es das Getöse um mich her war, was mich unfähig zu allem machte.

Ich denke, es ist ganz gut, daß ich das alles einmal niedergeschrieben habe. Jetzt weiß ich noch, daß ich das alles erlebt habe, später könnte ich denken, es geträumt zu haben; denn es ist jetzt so still um mich, so lautlos still. Die Leute im Haus schlafen schon; ich kann mich nicht daran gewöhnen, so zeitig zur Ruhe zu gehen. Ja so, ich soll das Fieber messen, will der Doktor. Da muß ich ihm schon den Gefallen tun. Wozu übrigens? Wenn ich mir anstatt der unruhigen, hastenden Traumgebilde, die meine Nachtruhe zu begleiten pflegen, etwas aussuchen dürfte! Ein einziges Mal möchte ich mich in das kleine Haus am Neckar zurückträumen können, und die Mutter müßte kommen und mich zudecken und sagen: »Schlaf wohl, mein Kleiner!« Denn das sagte sie noch, als ich einen Kopf größer war als sie. Und dann müßte der Nachtwächter unten an der Ecke ins Horn stoßen und singen: »Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb' in Ewigkeit!« Komisch, ich glaube wirklich und wahrhaftig, daß ich damals mit Sicherheit annahm, irgend ein unsichtbares Wesen nehme sich die Mühe, meinen Schlaf zu bewachen und mich morgens wieder fröhlich aufzuwecken! Die Mutter lehrte mich mit diesem Wesen reden, und es störte mich gar nicht, zu denken, daß hunderttausend Leute im gleichen Augenblick höchst verschiedene Dinge mit ihm zu bereden hätten.

Damals kannte ich allerdings New-York noch nicht und nicht Philadelphia. Aber wenn ich den Begriff »Glück« erklären sollte, so möchte ich wohl jene Zeit dafür aufstellen. Das Traumleben, das man Kindheit heißt. Wo einem das Weltall als ein Kreis erscheint, dessen Mittelpunkt man selbst ist. Und über dem Einer steht, der für jedes Menschenkind zugänglich und nahe ist.


15. Mai. Neun Tage Pause gemacht in diesen Aufzeichnungen. Mit gutem Grund. Zuerst hatte ich einige Tage Fieber und begehrte nichts, als still auf der Veranda zu liegen und den Zeitstrom rauschen und sachte verrinnen zu hören. Stunde um Stunde, Augenblick um Augenblick. Der Doktor besuchte mich häufig, blieb auch, wenn er konnte, ein Weilchen gemütlich bei mir. Ich glaube, obgleich ich das sehr gern habe, war ich doch manchmal recht unliebenswürdig gegen ihn und hatte allerlei an der Hausordnung auszusetzen. Er versteht es aber, einen umzustimmen. Was nur diese jungen Leute unten im Haus immer zu lachen und zu schwatzen haben?

Es ist qualvoll, von oben zuzuhören, wenn sie vormittags zur vorgeschriebenen Zeit kommen, um Milch zu trinken, und sich dazu auf der Veranda des Speisesaals lärmend unterhalten. Wenn man selbst dabei ist, läßt sich das eher ertragen. Ich ging am vierten Tag wieder hinunter und setzte mich in eine ungestörte Ecke. Aber diese Unterhaltung! Es ist immer gerade zu der Zeit, da der Doktor Sprechstunde abhält. Da wird dann über Resultate verhandelt. Man kann genau sehen, was einer für einen Bescheid bekommen hat, denn er wird entweder mit einem strahlenden oder mit einem enttäuschten Gesicht herauskommen.

»Ein Pfund zugenommen,« verkündet der lange, dünne Postbeamte Keller, genannt »Senkrecht«, und macht sich mit Todesverachtung daran, vier Glas Milch zu trinken. »Der Doktor sagt, ich solle bis zu sechs steigern,« sagt er wichtig. – »Von morgen ab soll ich täglich unter die Dusche kommen,« sagt der dicke Keim, dem kein Mensch ansähe, daß er schwer krank ist. »Das ist doch ein gutes Zeichen, nicht?« Er sieht sich, Bestätigung suchend, im Kreis um. – »Ich weiß nicht, Sie sollten nicht so zuversichtlich sein,« sagt Fräulein Böckler, die immer darauf aus ist, alle frohen Hoffnungen zu dämpfen, obgleich sie selbst sich prachtvoll erholt. Wenn ich einen unangenehmen Menschen kenne, so ist sie es. Darin ist das ganze Haus mit mir einig. Sie ist äußerst religiös, und wenn ich nicht zufällig schon in meinem Leben religiöse Menschen kennen gelernt hätte, die es verstanden, Freude und Behagen um sich zu verbreiten, so möchte ich sagen, daß man keine Leute mit solchen Lebensansichten in ein Sanatorium aufnehmen sollte. Denn sie scheint es für ihre Pflicht zu halten, all' die Leute, deren Hoffnungstriebe noch grün und frisch sind, ähnlich den hellen Spitzen, die man jetzt an den Tannen sieht, darauf aufmerksam zu machen, daß diese Triebe in Bälde so dunkel werden, wie die alten Äste, daß »welkes Laub und welkes Hoffen« zum Menschendasein gehöre, und daß es sich nicht verlohne, darauf zu bauen, daß die Strecke zwischen dem Abgrund und ihnen noch verlängert werden könne.

Meine Mutter war auch fromm, aber auf ganz andere Art. Ich glaube, wenn sie hier wäre, würde sie sich mit ihrem freundlichen Lächeln unter all diesen Leuten bewegen, jedem etwas Gutes tun und in Bälde die Vertraute aller Jungen und Alten werden. Und wenn ihr einer gar zu zuversichtlich erschiene, so würde sie nachdrücklich sagen: »Wenn Gott will, mein Lieber! Und er will, was uns gut ist!« Und einem traurigen, verbitterten Herzen würde sie so viel Gutes aufzuzählen wissen, das ihm noch geblieben sei, daß es das Leben wieder erträglich fände. Meine Mutter ist ja nie über ihren kleinen Kreis hinausgekommen; es ist ihr nie schwer gemacht worden, so in dem kindlichen Glauben an einen Vater, der für alle sorgt, zu bleiben. Aber ich, obgleich ich ihn nicht mehr teilen kann, seit mir das Leben die Täuschungen genommen hat, ich gäbe den ganzen elenden Rest meines Lebens mit Freuden dahin, wenn ich in ihrer Atmosphäre des Friedens und der Zuversicht einschlafen könnte.

Ich bin jetzt viel unten, auch zu den Mahlzeiten. Es ist allmählich eine bunte Gesellschaft da zusammengekommen, und das Haus füllt sich täglich mehr. Jedesmal, wenn man zusammenkommt, erscheint ein neues, blasses Gesicht an der Tafel, ängstlich oder verbittert oder blasiert aussehend. Es sind so vielerlei Kreise, aus denen diese Menschen kommen. Es ist hier nicht wie in dem Nebenhaus für Unbemittelte, das ebenfalls so voll ist, daß es bei weitem nicht alle angemeldeten Kranken aufnehmen kann. Dort sind es fast ohne Ausnahme »Existenzen«, die sich in einem schweren Tagewerk bei geringer Kost und schlechter Luft abgearbeitet haben und deren ganzes Hoffen darauf geht, dieses schwere Tagewerk in einiger Zeit wieder aufnehmen zu können. Hier sind neben zärtlichen Müttern und sorglichen Familienvätern, jungen Mädchen und zu schnell gewachsenen Jünglingen auch Leute, die vor den einfachen Leuten im »alten Haus« tief den Hut abziehen müßten. Solche, die niemals mit voller Energie an den Aufgaben der Menschheit teilgenommen haben, die das Leben genießen wollten, so lang es irgend anging, auf alle Weise, und die nun Ruinen sind. Und was bin ich?


20. Mai. Es ist merkwürdig, welch zwingende Macht das Leben, das täglich in vielerlei Bildern sich entrollende Leben auf einen ausübt! Als ich ankam, war es mir höchst gleichgültig, was die Leute um mich her taten, erlebten und erlitten. Wenn sie mich nur in Ruhe ließen, sonst begehrte ich nichts von ihnen. Das heißt, ich begehre auch jetzt noch nichts, aber es wundert mich, daß ich mich zuweilen versucht fühle, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, wenn die Leute zuviel von ihrem eigenen Befinden sprechen. Oder daß ich fast Streit bekam mit dieser Fräulein Böckler, die dem neuangekommenen blassen Mädchen so eifrig versicherte, es sehe sehr elend aus und es werde gut tun, sich in Gottes Hand zu ergeben. Ich weiß nicht, auf welchem Standpunkt die Neuangekommene steht, und es möchte ja je nachdem zu ihrer Beruhigung dienen, sich in Gottes Hand zu ergeben. Aber der Rat war in einem solchen Grabeston gegeben, daß er sicher nicht zur Aufmunterung eines Heilung suchenden Patienten beitragen konnte.

Ich habe das denn auch der alten Tante gesagt und noch einiges dazu. Sie sieht mich seitdem nur so von der Seite an. Aber, wie gesagt, ich wundere mich über mich selbst.


22. Mai. Heute habe ich einen Lobspruch vom Doktor erhalten. Ich hatte es nicht lassen können, dem vierblätterigen Kleeblatt von jungen Leuten, das mit ganz erhitzten Köpfen beim Tarock saß, eine kleine Standrede zu halten, und er war dazu gekommen und hatte mich seinen Assistenten genannt. Es war aber nichts an der Sache. Ich kann nur nicht mit ansehen, wenn diese unverständigen Menschenkinder, statt ihrer Kur zu leben, sich förmlich in Fieber hineinarbeiten um ein paar Nickelstücke. Und daheim sitzen ihre Mütter und sorgen sich ab. Man kann ja nicht wissen, es kann ja der und jener darunter sein, der noch einmal dem tätigen, regen Leben zurückgegeben werden soll.

Als ich nach meinem Zimmer ging, begegnete mir das blasse Mädchen aus der Residenz. Ich nenne sie so, weil ich bis dahin ihren Namen nicht wußte. Jetzt weiß ich ihn, denn wir stellten uns gegenseitig vor. Meyling heißt sie, Andrea Meyling. Sie war stehen geblieben, um Atem zu schöpfen, ehe sie die zweite Treppe erstieg. Als sie mich sah, flog ein feines Rot über ihr Gesicht. Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie entschlossen: »Sie haben es gestern gut gemeint, als Sie zu verhüten suchten, daß mich Fräulein Böckler entmutigte. Ich danke Ihnen.«

Einen Augenblick war ich überrascht von dieser Anrede. Das junge Mädchen hat ein so ernsthaftes Gesicht. Ich hätte sie für schüchtern und vielleicht etwas ängstlich gehalten; wenn sie sprach, machte sie aber einen andern Eindruck. Ich kann nicht recht sagen, welchen. Etwa, als ob ihr niemand zu sagen nötig hätte, was sie von sich zu halten habe. Oder als ob sie irgend einen festen Grund unter ihren Füßen fühlte, von dem sie überzeugt ist, daß er nicht ins Wanken kommen könne.

Diesen Eindruck bekam ich im Lauf des Gesprächs. Ich sagte irgend eine Redensart, etwa: »Ja, man muß unter allen Umständen an der Hoffnung festhalten, das gehört zur Genesung.« Sie sah mich sekundenlang wie prüfend an, dann sagte sie: »Ich möchte wohl wissen, wer das Leben ohne Hoffnung ertragen könnte! Ich einmal nicht, ich hoffe vieles.« – »Nur nicht gar zu vieles,« warnte ich, denn es reizte mich nun doch, daß sie einen so sichern Ton anschlug. Da bekam sie noch einmal einen roten Anflug. »Ich kenne eine Art von Hoffnung, die keinesfalls trügt,« sagte sie leiser als vorher und schlüpfte dann schnell in ihr Zimmer, als ob es ihr fast leid tue, soviel gesagt zu haben. Soviel ist sicher, es ist ein etwas ungewöhnliches Mädchen.


24. Mai. Es interessiert mich wirklich, zu beobachten, wie schnell sich Fräulein Meyling hier im Hause einlebt. Ich hätte ihr das anfangs gar nicht zugetraut. Sie sieht blaß und kraftlos aus und scheint sich auch sehr wenig wohl zu befinden. Und weil sie für jetzt noch keine Spaziergänge machen, sondern still im Garten liegen soll, so findet sie sich fast von selbst mit dem kranken Teil der Gesellschaft zusammen, dem es ebenso ergeht. Da ist ein kleiner Pavillon, von hohen Tannen umgeben, dessen sechs Liegstühle fast immer besetzt sind. Ich weiß nicht, ob es klug ist, daß Fräulein Meyling einen davon für sich in Beschlag nahm, denn es sind eben ein paar schwerkranke Menschen da, mit denen sie lieber nicht soviel zusammen sein sollte. Ich sagte es ihr sogar, ganz gegen meinen Vorsatz, jeden tun zu lassen, wozu er Lust hat. Aber sie lächelte nur ein wenig. »Ich fürchte mich nicht,« sagte sie. »Fräulein Böckler hat mir ihren Balkon angeboten, denn mein Zimmer hat keinen. Aber ich fürchte, ich würde mich nicht gut mit ihr vertragen. Sie spricht ziemlich viel und manches, mit dem ich nicht recht einig bin. Und unter diesen Patienten sind, glaube ich, einige, die etwas Freundlichkeit und Aufmunterung bedürfen. Da bin ich dann nicht ganz umsonst hier.« – Ich habe dies wörtlich hier aufgeschrieben, weil es mich so merkwürdig anmutete. Es scheint wirklich Menschen zu geben, die immer und unter allen Umständen etwas für andere zu tun finden und darüber ganz vergessen, daß ihnen selbst manches abgeht, was sie vom Leben beanspruchen könnten. Sie strecken, wenn sie in eine neue Umgebung kommen, sogleich Fühlfäden aus, nicht, um sich selbst den bequemsten Platz zu erobern, sondern um herauszubringen, wer etwa ihrer Liebe und Fürsorge bedürftig wäre.

Fräulein Meyling scheint mir zu dieser Art von Menschen zu gehören. Ob sie fromm ist, weiß ich nicht, aber auf alle Fälle muß sie irgend etwas in sich haben, das sie davor bewahrt, bitter oder verzagt und mutlos zu sein. Noch mehr, sie hat auch etwas an sich, an dem sich andere erfrischen können. Ich komme schon noch dahinter, was es ist.


25. Mai. Dieser arme Kerl, der Wegscheidt! Es fällt ihm so schwer, sich zu gestehen, daß er dicht vor dem Abgrund steht. Offenbar ist er nicht sehr begierig, zu sehen, was auf der anderen Seite ist. Er wendet seine Blicke krampfhaft rückwärts. »Ich bin noch so jung,« sagte er gestern zu mir. »Und ich habe viel Widerstandskraft! Was meinen Sie, könnte ich nicht nach Hause reisen? Man erholt sich manchmal am besten zu Hause.« Es war mir unmöglich, diesen Menschen zu belügen. Er würde auf der Reise sterben; er kann jede Stunde den unheimlichen Gast, den wir Tod heißen, bekommen. Ich sagte nur: »Der Doktor ist nicht dafür, daß Sie abreisen, er meint, die Reise würde Ihnen schaden.« Da kam eben Fräulein Meyling vom Garten her. Sie brachte eine voll erblühte Rose und legte sie dem Kranken auf die Decke. »Ich habe sie vom Direktor bekommen,« sagte sie fröhlich, »das muß man zu schätzen wissen.« Dann sah sie meinen ernsten Blick und verstand mich sofort. »Bleiben Sie ein wenig bei mir, wenn Sie können,« sagte Wegscheidt. »Und wenn Sie mir etwas zur Beruhigung sagen können, so tun Sie's. Ich bin ein wenig ängstlich, denn meine Frau kommt heute nachmittag, und sie ist so aufgeregt. Wenn sie mich weniger wohl findet, wird sie halb verzweifeln. Und man muß doch an der Hoffnung festhalten, sagen Sie, Fräulein Meyling.« Das alles stieß er in kurzen Absätzen heraus und seine Wangen bekamen eine heiße Röte. Fräulein Meyling sah mich bittend an und ich ging; denn ich verstand, daß sie gern etwas sagen wollte, das nicht für mich bestimmt war. Nur für den – ich sage nicht gern für den Sterbenden – aber er ist es doch. Ich wollte, ich hätte es auch hören können; denn, o, ich wußte auch nicht mehr von dem dunkeln Geheimnis, als dieser arme Kerl. Und sie sieht aus, als ob sie sich nicht davor fürchte.


26. Mai. Nein, sie fürchtet sich nicht davor. Ich habe sie gerade heraus gefragt. Sie war gestern noch eine Zeit lang bei Wegscheidt und sprach in sanftem, fast mütterlichem Ton mit ihm. Ich konnte ihre Stimme hören, aber kein Wort verstehen. Nachher ging sie ins Lesezimmer, das eben ganz leer war. Wegscheidt lag in seinem Stuhl auf der Veranda, die an die Veranda des Lesezimmers stößt. Und Fräulein Meyling setzte sich ans Klavier. Ich habe nicht leicht jemand so sanfte Töne anschlagen hören. Sie sang mit leiser, lieblicher Stimme ein Lied, dessen Melodie mir aus meinen Kindheitstagen bekannt ist. Vom Text weiß ich nur noch, daß darin vorkommt: »Daß ich fröhlich zieh' hinüber, Wie man nach der Heimat reist.« Dann stand sie auf und legte sich in den Garten. Ich muß sagen, eine solche Auffassung der Sache ist mir noch nie vorgekommen. »Wie man nach der Heimat reist.« Das wäre ja furchtbar einfach! Doch ja, die Mutter dachte ähnlich, aber ich glaube, das hing mit ihrer ganzen kindlich-naiven Vorstellung alles dessen zusammen, was sie die »unsichtbare Welt« hieß. Ich konnte nicht anders, ich mußte sie fragen. Fräulein Meyling nämlich. Sie war ein wenig erregt, »denn,« sagte sie, »es ist nicht leicht, einem Menschen, der noch mit tausend Fäden an der Erde hängt, zu sagen: Laß alles liegen und stehen und sieh zu, daß du den Heimweg findest.«

Ja, den Heimweg, so sagte sie, und das klang so natürlich bei ihr. Ich habe immer, seitdem ich erwachsen und in der Welt herumgekommen bin, den Eindruck gehabt, daß Religion etwas Unbehagliches sei, zu dem man sich erst feierlich stimmen müsse. Und wenn ich, seit ich krank bin, manchmal dachte, es sei möglich, daß jenseits des Abgrunds noch eine Fortsetzung unserer Geschichte komme, so war mir das höchst peinlich und fremd, und ich hätte gewünscht, sicher zu sein, daß es nicht der Fall sei. Aber ich muß sagen, es klingt ganz anders, sie sagen zu hören: »Sieh zu, daß du den Heimweg findest!« Sie sagte noch einiges, was ich nicht niederschrieb. So viel ist sicher, sie fürchtet sich nicht.


27. Mai. Wegscheidt ist abgereist. Man sagte den Kurgästen so. Er ist auch abgereist, nur in anderer Weise, als die meisten ahnen. Ich sah ihn noch einmal. Er lag da wie ein müdes Kind, und er fürchtete sich auch nicht mehr vor dem Schritt ins Dunkle. Fräulein Meyling sagt, daß einmal irgend ein Kirchenvater gesagt habe: »Glauben ist unsere zitternde Rechte, die sich in Gottes erbarmende Vaterhand legt.« »Das hat er auch noch gekonnt,« fügte sie einfach hinzu, als wir heute früh hörten, es sei alles vorüber. Ihr scheint das völlig zu genügen.

Die arme, junge Frau kam nicht mehr. Sie hat zu Hause ein schwerkrankes Kind zu verpflegen. Das ist viel Elend auf einmal für sie. Es gibt dessen überhaupt so viel, daß man nicht begreifen kann, wie manche Leute in lauter Lust und Fröhlichkeit dahinleben und nichts davon zu bemerken scheinen.

Ich sagte das zu Fräulein Meyling, die heute sehr angegriffen aussieht und ebenfalls schwer am Jammer der Menschheit zu tragen scheint. »Ja,« sagte sie nachdenklich, »es gibt Leute, denen das Verständnis für fremdes Leiden abgeht, weil sie selber noch nicht viel davon erfahren haben. Ich habe auch schon solche kennen gelernt.«

Sie war, ehe sie hieher kam, als »Stütze« in einer vornehmen Familie und scheint dort nicht viel Freundliches erfahren zu haben. Man muß letzteres zwar mehr erraten, als sie es selbst sagt, denn sie hat eine Gabe, aus allem das Beste herauszufinden. Sie hat keine Eltern mehr und scheint auch kein Vermögen zu haben. »Aber,« sagte sie heiter, als wir auf das Kapitel »Aussichten« kamen, »ich glaube nicht, daß es viele Menschen gibt, die dennoch so viel Liebes auf der Welt haben wie ich. Sieben Geschwister, denken Sie mal, und keines würde das andere verlassen. Sie sind nur allerdings zum Teil viel jünger als ich und müssen sehr streben, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber man fühlt sich doch zusammengehörig, das ist allein schon viel wert. Und Freunde habe ich, nahe Freunde, und nicht wenige, das ist an sich schon ein Reichtum.«

Ich möchte wissen, ob auch nur einer ihrer Freunde bereit sein wird, für sie zu sorgen, wenn sie es nötig haben wird.

Sie selbst macht sich keine Sorgen. »Ich werde wieder gesund,« sagt sie, »ich fühle es. Und dann findet sich wieder ein Eckchen, in das ich hineinschlüpfen und vielleicht ein paar Menschen nützlich sein kann.« Als ob es sonst nichts zu wünschen gäbe!


15. Juni. Sonntag. Wie belebt heute unser stilles Örtchen ist! Es sind ziemlich viele Besucher gekommen, die sich nach dem Befinden ihrer lieben Angehörigen erkundigen wollen. Die Tafel im Speisesaal war übervoll und es herrschte ein angeregtes Gespräch. Merkwürdig, erst durch solch frische Strömung vom Meere des Lebens da draußen kommt unsereiner wieder darauf, daß alles in der Welt seinen gewohnten Gang fortgeht. Musikfest – Ferienkolonie – Schwarzwaldverein – elektrische Straßenbahnen – bald von der einen Seite, bald von der andern her hörte man solche Schlagworte aus dem Gespräch heraus, und man nimmt unwillkürlich Anteil an dem allem. Man entwöhnt sich hier so ganz von allgemeinen Interessen; aber erfrischender und anregender noch ist es, zu sehen, wie diese Menschen, die zusammengehören und die nur die Krankheit für einige Zeit getrennt hat, sich ihres Besitzes freuen. Die Kranken an den Gesunden, die Gesunden an jedem Schatten von Besserung, den sie an ihren Lieben entdecken können.

Da ist Frau Michael aus Ludwigshafen. Sie strahlt förmlich vor Freude. Der Arzt hat ihr gesagt, daß er mit den Fortschritten ihres Mannes sehr zufrieden sei. Und dieser sitzt neben ihr und entwickelt einen Appetit, wie sie ihn nie an ihm gesehen hat. Ich habe sie beobachtet, wie sie Messer und Gabel ruhen ließ und fast andächtig zusah. Fräulein Brandts Bräutigam ist auch hier. Er ist voll Zärtlichkeit, aber es ist eine angstvolle Art von Zärtlichkeit. Er hat auch Grund dazu. Sie selbst macht Pläne von baldigem dauernden Zusammensein, spricht sehr vernünftig davon, sich noch eine Zeit lang hier gedulden zu wollen, »um die Sache gründlich zu machen«.

Ich wünschte, ich hätte niemals angefangen, mich für die Menschen um mich her zu interessieren, es macht einen nur weltschmerzlich und unruhig, soviel grünes Laub und grünes Hoffen welken zu sehen.

Fräulein Meyling hat auch Besuch, eine Schwester und einen jungen Vetter, der mit in ihrem Elternhaus erzogen wurde. Er führte sie vorsichtig und ritterlich am Arm, als sie alle drei zusammen einen kleinen Gang machten. Fräulein Emma Meyling, die etwas älter ist als Andrea, hat sich ebenfalls mit dem Arzt besprochen und ist nun voll Zuversicht. Er scheint ihr Gutes für die Zukunft in Aussicht gestellt zu haben. Ich habe der kleinen Gruppe lang nachgesehen, so lange, bis sie im Wald verschwanden. Ich wurde von einer Herrengesellschaft aufgefordert, mit nach H. zu fahren, aber ich dankte. Ich bin ein wunderlicher Gesell. Eben noch wünschte ich so sehr, mich an irgend jemand anschließen zu können; ich kam mir so einsam und verlassen vor. Und nun ich's haben konnte, paßte es mir doch nicht.

Die letzten Wochen haben mich etwas verwöhnt. Ich habe nur selten mehr das Bedürfnis gehabt, mich schriftlich auszusprechen, denn Fräulein Meyling wurde mir nach und nach wie ein guter Kamerad, mit dem ich alles bereden konnte, was mich bewegte. Sie hat – es ist komisch, es zu sagen, da sie jünger ist als ich – sie hat etwas Mütterliches in ihrem Wesen. Es hat mich noch nie gestört, daß sie fromm ist. Im Gegenteil. Dort unten auf der Straße steht Doktors Theo und starrt unverwandt herauf. Ja so, er ist ja auch ihr Freund und sie seine Freundin und er vermißt sie auch. Er wird auf eine Geschichte gehofft haben. Geh nur heim, Bürschchen, sie will heute nichts von uns. Sie hat ja Besuch.


1. Juli. Wie die Zeit vergeht! Scheinbar inhaltslos, ereignislos, und doch, wieviel liegt darin!

Von unten dringen heitere Stimmen herauf. Eine fröhliche Gesellschaft ist zu einer Partie Luftkegelspiel versammelt. Der Mann, der von den roten Beeren nascht, während er am Rande des Abgrunds hängt! –

Nein, ich will nicht mehr so reden. Sie sagt, es sei nur recht, sich an dem Freundlichen zu freuen, das sich einem biete, und Leute, die im Schatten stehen, haschen nach jedem Streifchen Sonnenlicht. Sie ist auch dabei und lacht so herzlich, wie nur eins von allen. Ich könnte auch mitmachen, aber ich will nicht. Ich kenne mich selbst nicht mehr; denn es kommen Wünsche über mich, die ich nicht hegen darf, Hoffnungen, die ich ertöten muß, Pläne steigen mir auf, die ich nicht verwirklichen kann. Wenn es so wäre, wie die Mutter sagte, daß ein Vater sei, der aller Menschen Wege in der Hand hat, könnte er nicht auch den meinigen, anstatt in Nacht und Graus, eine Weile in Freude und Sonnenschein dahingehen lassen?

Es war heute den ganzen Tag trübe und regnerisch, jetzt, am Abend, drängt sich die Sonne noch durch die Wolken. Einige sind purpurn angehaucht. Soll so mein Leben sein?

Aber ich darf es nicht hoffen! Ich darf nicht. Obgleich ich glaube, daß ich besser würde, wenn ich glücklicher würde, daß ich vielleicht von diesem einfältigen Kinderglauben angesteckt würde, den Andrea hat. Andrea! Ich darf nicht so sagen! Sie darf nie wissen, daß ich sie tausendmal im stillen so nenne.

Sie blüht wieder auf, ihr Schritt wird elastisch und ihre Augen werden hell, und der Doktor sagt, sie werde wieder gesund. »Nur sollte sie nicht wieder so sehr in den Kampf ums Dasein hinein müssen,« sagte er, als er von ihr sprach. »Sie ist nicht sehr krank, nur etwas zart, und wenn sie sich schonen könnte, so könnte sie wieder ganz frisch werden.« Und ich habe Geld und Gut, und wozu?


Im August. Ich sehe nicht nach dem Datum; denn es ist nichts zu verzeichnen, von dem ich selbst oder irgend ein Mensch nach mir einmal sagen könnte, in Freude oder Leid: Geschehen am so und so vielten.

Wenn ein Menschenherz nach und nach seine Unruhe, seine Wünsche und Pläne und auch seine Bitterkeiten nicht mehr allein tragen kann, wenn es tastend anfängt, nach einem gewissen, klaren Grund zu suchen, auf den es sich mit all' dem Seinen stützen kann, wenn es anfängt, wo es in der Kindheit aufgehört hat, mit einem unsichtbaren und doch nahen Wesen zu reden: du mußt ja dasein, denn ich muß dich haben – so läßt sich das nicht auf gewisse Tage beschränken, mit bestimmten Daten bezeichnen.

Ist wirklich nur ein Monat hingegangen, seit ich das letzte Mal über diesen Blättern saß? Mich dünken es Jahre zu sein! Ich weiß noch, als wenn es heute geschehen, wie ich an jenem Juli-Abend aufhörte zu schreiben, aus dem Zimmer stürzte und einen einsamen Spaziergang unternahm. Wie ich rannte, als gälte es ein Ziel zu erreichen, nur, um meiner Unruhe zu entfliehen, wie ich, als der Mond aufging, keuchend und schweißbedeckt an der Douglastanne stand und über das weite Land hinsah. Die weißen Abendnebel stiegen aus den Tälern auf, das Mondlicht goß seinen Schimmer drüber hin. Eine Liedstrophe fiel mir ein, ich weiß nicht mehr, woher ich sie habe: »Ein leises Säuseln kommt und geht, Als flüstr' es: Friede, Friede, Friede!« Ich habe mich ins Moos geworfen, ich hatte kein anderes Verlangen, als: Friede, Friede, Friede! Ich dachte nicht an Erkältung und Fieber; denn ich wollte mit mir selbst fertig werden, ehe ich mich wieder unter Menschen begab, ehe ich Andrea wieder sah. Einen Augenblick begehrte mein ganzes Sein danach, ihr zu sagen, daß sie meine und ich ihre Lebensaufgabe sein möchte, daß ich in ihrem Besitz glücklicher, besser, frömmer werden könnte, als ich je gewesen sei. Dann wieder verneinte ich mir alle Wünsche, wollte mich zur Einsicht meines hoffnungslosen Zustandes zwingen, zur Entsagung. Ich glaube, ich habe auch versucht, mit Gott zu reden. Es mag wunderlich genug gewesen sein, was ich vorbrachte; aber ich sehnte mich nach jemand, der mich verstände, und der es verstände, die Verwirrung in meinem Innern zu lösen. Und es war mir, als ob das kein Mensch könnte.

Wie ich nach Hause kam, ist mir nicht mehr klar. Ich weiß nur noch, daß in später Stunde noch der Doktor an meinem Bett saß und beruhigend mit mir sprach, daß die pflegende Schwester mir später Eis auflegte, und daß trotz aller vorbeugenden Maßregeln mitten in der Nacht eine starke Blutung entstand.

Die folgenden Tage sind mir auch nicht mehr recht im Gedächtnis. Ich mag wohl zu schwach gewesen sein, um Eindrücke festzuhalten. Das fühle ich mehr noch, als ich es weiß, daß mir der Doktor sehr zum Trost war. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Arzt nur ins Zimmer kommt, um anzuordnen, zu untersuchen, zu befehlen, oder ob der Patient sich von seiner Sorgfalt umgeben und beschützt fühlen kann. Ich konnte ruhig die Augen schließen und wissen, daß für mich geschehe, was Menschen vermögen.

»Daß ich fröhlich zieh' hinüber, Wie man nach der Heimat reist,« das summte mir fortwährend durch den Kopf, ohne daß ich den Gedanken klar erfassen konnte. Es war wie eine Glocke, die man von weitem läuten hört, deren Hall sanft und lieblich das Ohr streift, ohne daß man sich besinnt, was es bedeuten soll.

Dann kam ein sonniger Tag, an dem ich zum erstenmal wieder auf der Veranda lag und dachte, daß es doch auch schön und erfreulich sei, auf der Welt zu leben. Da brachte mir die Schwester ein Sträußchen, aus Glockenblumen und Gräsern lose und zierlich gebunden. Ein Kärtchen lag dabei mit einem gedruckten Spruch: Ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. »Herzliche Grüße und Wünsche sendet A. M.« stand hinten darauf. Ich lag lange und hielt das Sträußchen in der Hand. »Zu mir gezogen aus lauter Güte,« wiederholte ich im stillen. War es wirklich so, gab es einen, der mich samt all' meiner Unruhe, Bitterkeit und meinem vergeblichen Hoffen »zu sich zog«? Damals fing vieles an in mir aufzuwachen, das ich längst vergessen hatte; aber das kann ich hier nicht niederschreiben. Andrea – ich kann sie hier nicht anders nennen – kam zu mir. Ich bat den Doktor, sie mir zu schicken. Als sie das erste Mal hereinkam, wurde sie blaß und konnte nicht gleich sprechen. Ich mußte mich ja wohl ziemlich verändert haben; aber es tat mir doch wohl, zu sehen, daß es ihr weh tat, mich so zu sehen. Was bin ich für ein Egoist! Aber ich habe ja sonst keinen Menschen, der sich für mein Wohl und Wehe interessiert, ausgenommen den Doktor.

Sie setzte sich zu mir auf die Veranda. »Endlich,« sagte sie, »endlich hat man mich zu Ihnen gelassen! Ich wollte, ich könnte hier Pflegschwester sein; denn es ist hart, die Menschen, mit denen man in besseren Tagen fröhlich zusammengelebt hat, verlassen zu müssen, wenn sie schwach und elend sind; aber nun darf ich täglich kommen, solange Sie noch oben bleiben müssen. Der Doktor hat's gesagt.« Ich mußte sie unverwandt ansehen. Sie erschien mir so lieblich in ihrer Sorge für mich, und dabei lag ein so lebendiger, lebenswarmer Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie hatte sich auch verändert in den letzten drei Wochen. Sie schien mir mehr als zuvor »dem Leben wiedergegeben«. Aber mein Herz schlug jetzt nicht ungestüm. Ich darf sie nicht begehren, ich wußte es. Und solange ich noch lebe, wird sie mir ihre Teilnahme bewahren, das wußte ich; denn sie hat ein warmes, treues Herz.

Es waren schöne Tage, die nun folgten. Es ging mir langsam besser, ich konnte fast den ganzen Tag draußen liegen, und Andrea kam jeden Vormittag und Nachmittag je eine Stunde, um mir vorzulesen oder mit mir zu plaudern. Meistens war die Schwester dabei, oft auch der Doktor. Mehr Besuche sollte ich nicht empfangen. Wenn ich mir gewünscht habe, einmal glücklich zu sein, – ich glaube, ich darf diese Tage dafür ansehen.

Ich hätte noch vor einem Vierteljahr höhnisch gelacht, wenn mir jemand gesagt hätte, daß so mein Glück aussehen sollte! Aber ich kam mir vor, wie ein Kind, und Andrea hätte die Mutter sein können. Nein, nicht ganz. Ich kann es nicht recht beschreiben; aber so friedlich und still nach innen und außen, so versorgt, beschützt und umgeben hatte ich mich noch nie gefühlt, ich hätte gar nicht gewünscht, daß diese Tage ein Ende nähmen. –

Was ist es doch für eine Wohltat, solch eine Sonnenart zu haben, wie Andrea hat. Sie scheint einen frohmachenden, inneren Schatz zu besitzen. Aber sie spricht nicht davon, worin er besteht. »Ich kann es doch nicht so recht ausdrücken,« sagt sie. Einigemal in diesen Tagen las sie mir vor und ich hörte ihr so gern zu, obgleich sie manchmal Gegenstände wählte, die mich früher gelangweilt hätten. »Ei, so heb' ich meine Hände Zu dir, Vater, als dein Kind,« kam neulich in einem Lied vor, demselben, das unser Nachtwächter zu Hause sang. Da legte sie das Buch einen Augenblick in den Schoß. »Das ist allein schon Glück genug,« sagte sie, »daß man das kann.« Es ist auch ein Glück, wenn man es kann, das sage ich auch. Ich sage nicht, daß ich es habe; aber manchmal dämmert so etwas in mir auf, als ob ich es nur zu ergreifen brauche.

Jetzt fange ich an, wieder ein wenig im Garten hin und her zu gehen und mit den andern Menschen zusammenzukommen. Die Gesellschaft hat sich sehr verändert, solange ich nicht drunten war. Viele Leute sind abgereist, viele neue gekommen; aber im ganzen ist das Bild doch dasselbe. Fräulein Böckler habe ich nicht mehr vorgefunden. Sie hat sich mit allen andern gezankt und soviel Unfrieden gestiftet, daß man sie zur Abreise veranlassen mußte. Es ist gut, daß ich diese Erfahrung erst jetzt machte. Vor einiger Zeit hätte ich noch gesagt, daß Religion die Menschen sauertöpfisch mache. Jetzt weiß ich, daß sie, wenn sie das Leben eines Menschen ist, befreiend und beglückend wirkt. Fräulein Böckler scheint die ihrige nicht im Herzen, sondern nur im Mund gehabt zu haben.


5. September. Förmlich lebenslustig wurde man hier in letzter Zeit. Was war das für ein Fest »zur Feier der fünfundzwanzigjährigen Wiederkehr des Tages von Sedan«! Dekorationen, Festessen, Reden, Deklamationen, ganz wie »in der Welt draußen«. In der Mitte des Speisesaals ein Tisch, an dem vier geladene Veteranen aus dem Dorf saßen, das eiserne Kreuz auf der breiten Brust, im höchsten Staat und mit glänzenden Gesichtern. Einer von ihnen hielt eine Rede, ich hatte das Bedürfnis, ihm dafür die Hand zu schütteln. Mochte die Ausdrucksweise holperig sein, der Inhalt war lautere, freudige Begeisterung fürs Vaterland. Hier hat das Deutsche Reich noch starke Stützen. Urwüchsige, kerngesunde Stämme, die sich nicht von jedem Wind biegen und beugen lassen. »Starrköpfige Bauern« nennt sie mancher im Land, »denen nicht beizukommen ist mit neuen, geistvollen Ideen«. Mag sein, die Zeit wird's lehren, ob das ein Schade ist. Man kam in Stimmung, einige vergnügte Menschenkinder arrangierten sogar eine Polonaise zu den Klängen der vier Posaunenbläser, die sich eingestellt hatten. Andrea schritt mit dem kleinen Theo seelenvergnügt mit. Sie hatte ihn, der zu Ehren des Tages mit an der Tafel essen durfte, vorher auf einen Stuhl gestellt und der stramme kleine Bube hatte auf ihre Anweisung hin fröhlich durch den Saal gerufen: »Lieb' Vaterland magst ruhig sein, wir kommen auch noch hintendrein!« Jetzt trug er einen Stern auf der Brust, den ihm Andrea zur Belohnung aus einer Flaschenhülse aus Staniol ausgeschnitten hatte; er fühlte sich sehr. »Es gibt auf der ganzen Welt nichts lieberes als Kinder,« versicherte Andrea in allen Tonarten. »Wenn ich wieder gesund genug bin, suche ich mir eine Stellung in einem Haus, wo es Kinder in allen Größen hat; aber ich muß sie um mich haben, lieben, versorgen und erziehen dürfen, sonst macht es mich unglücklich!« Sie wird nicht lang zu suchen haben. Leute mit selbstlosem, warmem Herzen und starkem Pflichtgefühl gibt es wohl nicht zuviel auf der Welt. Wenn sie aber ihren Wunsch erfüllt sieht, dann bin ich ganz allein.


15. September. Er geht schon in Erfüllung! Vor einer Stunde wurde die Post ausgeteilt und es war auch ein Brief an Fräulein Meyling dabei. Sie hatte ihn kaum überflogen, als sie mit lebhaft gerötetem Gesicht zu mir herkam. »O denken Sie nur,« rief sie schon von weitem, »ich brauche mir gar keine Stellung zu suchen. Da ist ein Brief meines Vetters aus Genf, dessen Frau immer krank ist und der sechs Kinder hat. Er möchte mich für sein Haus haben, ich soll mich der Kinder annehmen und des Hauses und der armen Lucie. Seine Frau heißt Lucie.« Sie schien sich keinen Augenblick zu besinnen, ob sie der Aufgabe gewachsen sei, und ob es wohl sehr verlockend sein werde, diese kranke Frau und die zweifellos sehr ungezogenen Kinder zu versorgen. Sie sah nur eine Lücke, in die sie eintreten konnte, und das war, um mit ihren eigenen Worten zu reden, »schon ein Glück an sich«.


Den 20. Wunderbarerweise hat der Doktor nichts dagegen. Es ist schon hin- und hergeschrieben, Andrea soll alle mögliche Unterstützung haben und sich nicht überanzustrengen brauchen. Als ob sie anders könnte, als allen dienen, die in ihre Nähe kommen! Aber solche Leute kann man nicht zurückhalten; man müßte ihre Natur unterbinden. Am 30. reist sie ab. Es ist, als ob sie vorher noch allen, die um sie her sind, Liebes und Gutes erweisen möchte, – wie es die scheidende Sonne macht, die noch jedes Laub vergoldet. – Sie weiß nicht, was sie mir damit antut. Ich weiß jetzt, daß sie auch nicht ahnt, was sie mir für Schmerzen bereitet hat, sie ist liebevoll und freundlich, hilfsbereit und kinderfröhlich, weil sie es in sich selbst ist. Und sie hat mich mit in ihr Herz geschlossen, weil ich krank bin und weil ich mutlos und verzagt war.

Es tut mir weh, das zu erkennen, aber sie darf das nicht entgelten. Und ich darf sie weiter lieben ohne Reue, denn (diesen verschwiegenen Blättern darf ich's ja wohl anvertrauen, was ich niemand sagen könnte), denn ich glaube jetzt, daß Gott mir diesen Sonnenschein in meinen Weg hereingeschickt hat, und daß, wenn er ihn weiterziehen läßt, er mich dadurch »zu sich zieht, aus lauter Güte«.

Der dicke Keim verehrt Andrea auch. Er bringt ihr Blumen und trägt ihren Liegstuhl, wohin sie will. Er ist ein beschränkter Mensch mit einem etwas hündischen Wesen. Es regt mich auf, wenn ich sehe, daß er sie förmlich anstrahlt, und ich kann es nicht mit anhören, wenn er sagt, daß Fräulein Meyling mit ihm befreundet sei. Andrea ist gleichmäßig freundlich gegen ihn, wie gegen alle andern. Ich ließ sie gestern deutlich merken, daß es mir zuwider sei, sie mit ihm verkehren zu sehen. Da sah sie mich lächelnd an. »Ist er nicht auch ein Mensch,« sagte sie, »und menschlicher Teilnahme bedürftig? Ich möchte mich wohl hüten, jemanden abzustoßen, nur weil er wenig begabt und nicht sehr fein erzogen ist! – Wenn er auch manchmal etwas schwer zu ertragen ist,« fügte sie ehrlich hinzu.

Da habe ich wieder mein Teil zu lernen. Denn, wenn ich so sagen soll, es ist gesunde Logik in diesem Christentum, das Andrea lebt. Was einer nicht verschuldet hat, soll man ihn auch nicht entgelten lassen, und die Liebe strebt, wie ein Magnet zum andern, zu dem Kern im Menschen, der ebenfalls Liebe ist, und läßt sich nicht von der Schale abschrecken, die oft genug nicht liebenswert erscheint.


Mitte Oktober. Es ist rauh geworden und stürmisch. Die zarten Silberfäden des Altweibersommers sind zerrissen und verweht, die Bäume im Garten stöhnen und ächzen unter der Gewalt des Nordostwinds. Ich glaube nicht, daß es so bleibt; es mag noch eine Weile mild und freundlich werden, ehe der erste Schnee fällt. Aber ich werde nun doch abreisen. Es ist viel leerer jetzt im Hause, als im Sommer; einige von den Patienten haben im Sinn, den ganzen Winter auszuhalten, der hier oben viele sonnige, frostklare Tage bringen soll. Ich kann das nicht tun; denn ich habe eine Unruhe in mir, wie die Zugvögel haben mögen, die es im Herbst nach wärmeren Ländern zieht. Ich werde vielleicht an einem neuen Ort, unter neuen Eindrücken eher meine Ruhe finden, obgleich es mich manchmal dünkt, daß die düstern Melodien, die der Herbstwind in mir hervorruft, einem noch tieferen Grunde entspringen, als dem Heimweh nach dem Sonnenschein des Sommers.

Die Zugvögel haben eine Hoffnung, die nicht trügt, in der Brust. Eine Hoffnung, die sie nicht auf die Beschwerden des Weges achten läßt. Ich kenne ein schönes Lied von ihnen, wie sie auf der Reise matt werden und ihre Mutter sagt:

Fühlt ihr nicht im tiefsten Innen
Unaufhaltsam einen Zug,
Neuen Frühling zu gewinnen?

Und:

Der die Sehnsucht hat gegeben,
Er wird uns hinüberheben!

So weiß ich auch nicht recht, wohin mich meine Sehnsucht zieht, und wo das Land ist, das meinen zukünftigen Frühling zeitigt. Vielleicht muß ich auch über das Meer, über den dunklen Abgrund, den niemand auf Erden kennt, um zur Ruhe zu kommen. Es mag wohl sein, daß es mir nahe ist, obgleich ich immer wieder hoffe, noch eine Zeit lang hier zu leben. Aber ich will mich nicht fürchten. »Der die Sehnsucht hat gegeben, Er wird mich hinüberheben!« Man könnte es anders ausdrücken, aber das verstehe ich einmal nicht. Ich lese aber gern für mich in dem Buch, das mir Andrea heimlich ins Zimmer legte, dort ist es klarer ausgedrückt, als ich es sagen könnte. »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« Und: »Ich lebe und ihr sollt auch leben.« Nein, ich will mich nicht fürchten.


Heute, am 25. Oktober, kam ein Brief von Andrea. Ich schreibe seinen Inhalt hier nieder, weil ich die Blätter immer in der Tasche trage und sie vielleicht bald zerlesen sein werden.

»Mein lieber Freund!« schreibt sie, »wenn Sie doch wüßten, wie viel ich an Sie denke und wie gern ich manchmal ein ruhiges Plauderstündchen mit Ihnen haben möchte! Es ist jetzt alles so ganz anders, als vor einigen Wochen, obgleich es auch so gut und recht ist. Ich kann ja froh sein und dankbar, daß ich wieder zu etwas nütze sein kann auf der Welt – und das kann ich hier. Aber die stille Zeit des Ausruhens und Kräftesammelns war auch schön, und wenn es nicht sündhaft wäre, möchte ich mich manchmal dahinein zurückwünschen. Denn sie scheint mir jetzt fern, fernab zu liegen. Manchmal schließe ich einen Augenblick die Augen und versetze mich in unsern schönen Schwarzwald, male mir die liebliche Gegend vor und versuche, mir vorzustellen, wie es an meinen Lieblingsplätzchen aussah. Und denke an all' die lieben Menschen, mit denen mich der Sommer zusammenführte.

»Lang darf das nie dauern. Denn es geht so lebhaft zu im Hause, und obgleich drei Dienstboten da sind, ist es doch sehr nötig für mich, immer am Platz zu sein. Auch mit meinen Gedanken! Die Kinder sind lieblich und ich habe sie schon sehr ins Herz geschlossen. Nur habe ich es ein wenig schwer, mich an ihre Art zu gewöhnen. Denn manchmal kommen sie mir etwas unkindlich vor. Etwas launisch und in mancher Art altkluger, als ich's gewohnt bin. Aber wir werden schon miteinander zurechtkommen und manchmal sind wir jetzt schon sehr fröhlich zusammen.

»Lucie, die Frau meines Vetters, habe ich sehr lieb. Ganz besonders deshalb, weil sie mir so sehr leid tut. Sie leidet an den Nerven, kann oft nachts nicht schlafen und dann am Tag keinerlei Unruhe ertragen. So hat sie nur wenig von ihren Kindern. Es kommt mir fast nicht recht vor, daß diese schon so anhänglich an mich sind, denn das muß doch einer Mutter leid tun. Gegen mich ist sie immer freundlich, nur natürlich manchmal etwas gereizt. Ihr Gemüt leidet sehr unter ihrem Zustand. Mein Vetter hat schon graues Haar, trotzdem er erst vierzig Jahre alt ist. Er hat auch schon viel durchgemacht im Leben, das geht nicht spurlos vorüber. Und ich freue mich so sehr, daß ich ihm sein Haus etwas behaglich machen kann. Er ist viel dankbarer, als ich verdiene, und wenn ich ihm ein Leibgericht aus der Schwabenheimat auf den Tisch bringe, so wird er ordentlich gerührt.

»Aber ich schwatze unaufhörlich von hier und ich wollte doch so gern ein wenig bei Ihnen einkehren. Sagen Sie mir doch recht bald, daß es Ihnen leidlich geht und daß Sie mutig und fröhlich sind!

»Ich kann den Abschiedstag nicht vergessen. Es schien mir, als ob es Sie schmerze, daß ich fortgehe. Entschuldigen Sie, daß ich es sage, aber es täte mir so leid, wenn unser Zusammensein nicht auch noch in der Erinnerung freundlich und wohltuend auf uns beide wirkte. Ich vermisse Sie ja auch, Sie haben mir so viel Freundliches erwiesen, ich mußte mich nie fremd und unverstanden fühlen unter den vielen Menschen.« (Als ob sie mir nicht tausendmal mehr gewesen wäre! Aber es tut mir doch wohl, sie so sagen zu hören.)

»Pflegen Sie mir meine Hinterlassenschaft recht! Suchen Sie zu verhindern, daß Fräulein Hagen sich alle Augenblicke den Puls fühlt und daß der kleine Marburg so viel Billard spielt. Und wenn Sie können, spielen Sie doch manchmal eine Partie Schach mit Herrn Leidner, denn das ist ihm Bedürfnis. Und seien Sie ein wenig freundlich gegen Keim und grüßen Sie ihn von mir. Er hat wenig höhere Interessen, aber er ist anschlußbedürftig, und er sagte, er werde mich vermissen. Das täte mir leid!

»Es ist spät am Abend, da ich dieses schreibe, und die Kinder schlafen längst. Ich erzählte ihnen viel von Doktors Theo, was sie höchlich interessierte. Manchmal habe ich ordentlich Sehnsucht nach dem drolligen Bürschchen. Ich möchte alles Liebe, was ich auf der Welt habe, beisammen haben! Aber das brächte am Ende nur Verwirrung und Unheil, und es ist gut, daß sich die Menschen ihr Leben nicht nach Belieben einrichten können.

»Ehrlich gestanden, ich habe ein wenig Heimweh. Ich weiß nicht recht, wonach, denn ich habe ja keine eigentliche Heimat auf Erden. Und ich lebe ja gern und freue mich so sehr meiner wiedergeschenkten Gesundheit und neuen Schaffenskraft. Nur, man schlägt nirgends so recht Wurzel, wenn man bald da, bald dort eine Weile daheim sein soll. Man kommt sich so zugvogelartig vor. Aber das wird ja wohl gut sein. Denn wir Menschen auf Erden sind ja ebensowohl unterwegs, als es die Zugvögel sind, und auch uns wird, wie ihnen, einmal der Weg nach Hause gezeigt werden.

Und nun grüße ich Sie treulich.

Ihre Andrea Meyling.«


30. Oktober. Es ist mein Reisetag. Ich werde den Winter in Cannes zubringen. Es fällt mir nun doch schwer, zu scheiden. Denn ich habe hier viel erlebt und vieles nicht umsonst.

Es ist jetzt mild und sonnig und die Luft trägt wieder den leisen Harzgeruch vom Wald herüber. Von den Leuten im Haus habe ich soeben Abschied genommen. Vom Doktor fiel mir's nicht leicht. Er ist mir fast ein Freund geworden, und er sagte mir auch auf meine Bitte, wie es mit mir stehe. Den Schwarzwald werde ich wohl nicht mehr sehen. »Fahr' wohl, du Berg, du grüner Wald, Du jugendduftig Tal!«

Ich gehe doch gesünder, als ich kam. Denn mein Herz ist gesund geworden. Ich bin nicht mehr grämlich und bitter, auch nicht mehr hoffnungslos. Und ich gehe nicht mehr einem dunklen Abgrund entgegen, der mir Angst und Schrecken verursacht. Nein, ich bin auf dem Heimweg.


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