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Er konnte ja gar nicht alles verstehen, was mit ihm vorgegangen war. Es war viel zu vielerlei, zu neu und zu seltsam. Da stand er nun auf einer grünen Wiese und sah einer Schar lustiger Buben zu, wie sie ihre Kletterkünste machten an der hohen Leiter der Heuscheuer. Sie lachten und überschrieen einander in lauterem Vergnügen, und hie und da rief einer von ihnen zu ihm hinüber: »So komm doch und spiel mit, Herbert.« Dann ging er zu ihnen hin und sah mit verträumten Augen zu, wie sie sich reckten und übereinander hinein purzelten. Aber nachmachen konnte er das alles nicht. Er war ein kleiner, zarter Junge von sechs Jahren, mit einem feinen, zierlichen Körper, hellblondem, lockigem Haar und großen, blauen Augen, die immer in die Weite zu sehen schienen. Eine große, starke Frau kam aus dem Haus und rief zum Essen, und als die Buben nicht sogleich zu spielen aufhörten, nahm sie einen von ihnen von der Leiter und stellte ihn sehr nachdrücklich auf den Erdboden. Da lachte er und rannte voraus ins Haus und drei andere hinter ihm drein, und die übrigen gingen über die Wiese hin nach einem andern, roten Haus, das dort drüben lag. Als Herbert unsicher stehen blieb, weil er nicht wußte, ob er gleichfalls ins Haus gehen solle, nahm sie seine kleine, weiße Hand in ihre große, arbeitsharte. »So, so,« sagte sie, »nun komm, mein Kleiner. Nun wollen wir essen, und das tüchtig. O weh, was bist du für ein mageres, kleines Büblein. Aber ich will dich schon zurecht füttern, jawohl, du armer Spatz.« Sie dämpfte ihr lautes, etwas hartes Organ ein wenig, als sie mit ihm sprach. Und als er so ergeben neben ihr hertrottete, überkam sie eine große Rührung und sie tupfte sich verstohlen die Augen mit dem Schürzenzipfel. Es war eine schwarz und weiß gestreifte Kattunschürze, und sie trug auch ein schwarzes Tüchlein um den Hals. Herbert hatte keine Trauerkleider an und er wußte auch nicht, daß sie sich für ihn ganz zuerst gehört hätten. Er wußte überhaupt so wenig mehr recht und deutlich, die Bilder wechselten so schnell in seinem jungen Leben. Er saß bei Tisch und aß ein wenig, und wenn er gefragt wurde, so gab er Antwort, manchmal in einer merkwürdigen, fremdklingenden Sprache, die niemand am Tisch verstand. Dann stießen die Buben einander an und lachten, und der alte Herr mit dem grauen Bart lachte gleichfalls. »So, nun sag's noch einmal und zwar deutsch,« sagte er. Und Herbert sah sich verlegen um. Wenn die Mutter dagewesen wäre, hätte er gern seinen Kopf in ihrem Schoß versteckt. Das hatte er zu Haus immer getan. Aber sie war nicht da. Sie war zum lieben Gott gegangen. Wo das sei, wußte Herbert nicht so genau. Er wollte aber später auch dahingehen, er mußte nur vorher noch lernen und eine Zeit lang hier bleiben. So hatte der Vater ihm gesagt, eh' er wieder abgereist war.
Es war Abend und Bettgehenszeit für die Kinder. »Paß auf, das gibt einen Spaß,« sagte der kleinste von den vier Brüdern, mit denen Herbert nun zusammen war. Es war ein stämmiger, fester Bub mit einem rotbackigen, runden Gesicht und lachenden Augen, und er war immer noch ein gutes Stück größer als Herbert. »Wenn Mutter uns gute Nacht gesagt hat, dann machen wir immer noch ein bißchen Spektakel, so mit den Kissen werfen und Purzelbäume schießen und so. Da muß man so furchtbar lachen, und dann klopft der Vater von unten mit dem Stock an die Decke und ruft: ›Ich bitte mir Ruhe aus.‹ Dann darf man nicht mehr laut sein, und dann lachen alle in die Kissen hinein, bis einer hinausplatzt. Da geht es dann von vorne an.« Hans war sehr erstaunt, daß dieser Bericht den Herbert nicht mehr entflammte. Er behielt sein stilles Gesicht bei, man mochte ihm sagen, was man wollte. »Er ist ein Langweiler,« sagte er insgeheim zu den Brüdern. »Und dumm ist er auch, er guckt immer so vor sich hin und sagt nichts.« »Mutter sagt, man muß ihn in Ruhe lassen, bis er selbst anfängt,« erklärte Max, der älteste, »und das kann man auch wohl, man spielt nur weiter, wie sonst, dann wird er schon einmal aufwachen.«
Und nun lag Herbert in seinem Bett und schlüpfte ganz tief unter Kissen und Decken hinunter. Das Bett stand in einem mächtig großen Schlafzimmer mit drei Fenstern, von denen man auf Feld und Wald hinaussehen konnte, und außer ihm standen noch die vier Betten der Brüder darin. Die Mutter war dagewesen und hatte gute Nacht gesagt. Herbert sollte Tante zu ihr sagen und zu dem graubärtigen Herrn Onkel. »Denn ich bin eine Schwester von deinem Vater, eine Stiefschwester, aber das tut nichts,« hatte sie ihm gesagt. Herbert wußte nicht, was eine Stiefschwester sei. Aber was wußte er denn überhaupt? Wie verirrt und verloren schwamm seine junge Seele in der Flut der vielerlei Eindrücke dahin. Wo war nur alles hingekommen, was ihn sonst umgeben hatte? Das weiße Haus mit der großen, luftigen Halle, in der der braune Jim den Pankah zog, daß ein leiser Wind entstand. Der weite Garten mit den brennend roten Blumen darin und den hohen Palmen; die vielen braunen Menschen, die zum Vater gekommen waren, und der breite Fluß mit den weißschimmernden Segelbooten darauf. Ja und wo war seine Ajah, die ihm immer nachgelaufen war, und das winzig kleine Schwesterchen, und die Mutter?
Es waren dann auch noch andere Bilder da. Ein großes, großes Schiff, das auf dem Meer schwamm, immer weiter hinaus, bis man gar nichts mehr sah von daheim, viele Tage lang. Und fremde Menschen, unzählige. Als man dann wieder Ufer sah, waren es andere, als die bekannten. »Das ist nun Europa,« sagte der Vater. Der war auch so ernsthaft und so still, gar nicht mehr so heiter und lebendig wie sonst. Die weiße, glänzende Stadt, die sich da an den Bergen hinaufzog, als man landete, hieß Genua. Sie sei so wunderschön, hatten alle Leute gesagt. Aber die Mutter war nicht mitgelandet. Das kleine Schwesterchen war schon früher einmal nicht mehr dagewesen, am Ende daheim schon. Dessen konnte Herbert sich nicht mehr recht entsinnen. Aber die Mutter war mit auf dem Schiff gewesen, das wußte er gewiß. Sie war immer aufs Verdeck getragen worden und er hatte neben ihr gesessen, so oft er durfte. Das war nicht sehr oft, denn sie war immer so müde. Und eines Morgens war sie nicht mehr dagewesen. Sie sei zum lieben Gott gegangen, hatte der Vater gesagt. Und alle Herren und besonders die Damen auf dem Schiff hatten sich dann viel mit Herbert abgegeben und ihm Schokolade geschenkt und ihn geküßt und gestreichelt. Es war alles so wunderlich gewesen. »Vater, warum sind wir nicht auch zum lieben Gott gegangen? Warum ist die Mutter da ganz allein hin?« hatte Herbert einmal gefragt. »Weil wir noch warten müssen, bis es Zeit ist, mein Bub,« hatte der Vater entgegnet.
Dann war eine lange, lange Eisenbahnfahrt gekommen und dann waren sie hier gewesen. Nun war der Vater auch fort. »Ich muß wieder zu meinen braunen Kindern,« hatte er gesagt. »Mitnehmen?« »Nein, Kind, das kann ich ja nicht, es ist viel zu heiß für dich. Ich fürchte, du bist schon zu lang in Indien gewesen. Nun sei nur froh mit deinen lustigen Kameraden und sei ein liebes Kind. Zur Mutter möchtest du? zum lieben Gott, wo sie ist? Ja, da sollst du auch hin. Vergiß ihn nur ja nicht. Wie lang das dauert? Ja, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Nicht so sehr lang, mein Bub, nicht so sehr lang.«
Und dann hatte er sich so schnell abgewandt und war fortgegangen und hatte sich nicht mehr umgesehen. Nicht ein einziges Mal. Herbert war nicht eigentlich traurig. Er hatte kaum Zeit dazu. Er mußte an einem fort neue Eindrücke in sich aufnehmen, mußte Antwort geben, sehen und hören, den ganzen Tag. Nein, traurig war er eigentlich nicht, es war etwas anderes. Betäubt und verwirrt, ganz überschüttet vom Leben, von dem Allzuviel der Erlebnisse, das war er. Es ging alles durcheinander in seinem Kopf. Und er war so müde. Als er die Augen zumachte, sah er die Mutter, wie von weitem, und dann glaubte er das Meer rauschen zu hören um das große Schiff her. Er war eingeschlafen. Unten saßen die Eltern der vier Brüder noch zusammen im Gespräch. »Um das Kind ist mir nicht bang,« sagte die Frau. »Es hat den ganzen Tag nicht geweint und war so still und vernünftig. Aber Ludwig tut mir so leid. Es drückt einem fast das Herz ab, wenn man an ihn denkt. Jetzt wieder da hinaus, Hals über Kopf, nicht den Urlaub ausgenützt, nichts. ›Ich bin gesund, ich brauche keine Erholung jetzt,‹ sagte er. ›Ich bin nicht meinetwegen nach Europa gereist, das wißt ihr ja.‹ Und nun wieder allein, wie er vor zehn Jahren hinausreiste. Das war damals anders, da war er jung und begeistert und hoffnungsvoll. Aber nun so.«
Der Mann nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ja, es ist nicht leicht,« sagte er nachdenklich. »Er wird wieder heiraten müssen. Nicht jetzt, mein' ich, natürlich. Aber so mit der Zeit. Er kann nicht mehr ohne Frau sein da draußen. Um den Buben ist mir auch nicht bang, der ist ja ganz am Platz bei uns. Der geht jetzt in die Schule mit unseren Buben, und lebt und spielt mit ihnen. Und hoffentlich hat er einen guten Lernkopf, da kann er dann zeitig auf eigenen Füßen stehen und es zu etwas Rechtem bringen.« »Du bist schnell weit mit deinen Plänen,« fiel die Frau halb lachend ein. »Deine Gedanken haben wieder einmal Siebenmeilenstiefel an. Man weiß ja noch gar nicht, ob er nur auch gesund ist. Er ist gar so zart und fein, und am End' ist er schon zu lang da drin gewesen und hat schon eine Krankheit in sich, und du setzst ihn schon ins Amt.«
»Ach was, du pflegst ihn zurecht, da ist gar kein Grund zur Sorge,« sagte er. »Gesund wird er schon sein, warum soll er das nicht? Ich war auch so zart und fein als Kind. Meine Mutter hat's immer gesagt, daß ich das gewesen sei. Und nun bin ich auch stark und groß geworden, und man sieht mir nicht mehr an, daß ich ein Sorgenkind war.« Nein, das tat man nicht. Er stand auf und reckte sich ein wenig. Da sah man erst recht, was er für ein Hüne war. Groß, breitschultrig, mit einem mächtigen Kopf auf dem starken, muskulösen Körper, war er ein Bild der Kraft und zugleich des behaglichen Lebensgenusses, trotz des früh ergrauten Haares und Bartes. Er war Schultheiß in dem kleinen Landstädtchen, ein tüchtiger, wohlwollender, gescheiter Mann. Er hatte eine helle, offene Freude an seinen lebhaften, kräftigen Buben, ließ ihnen alle Freiheit, ihre überschüssige Kraft auszutoben, und fuhr nur dazwischen, aber dann energisch, wenn es ihm einmal gar zu bunt wurde mit dem Getöse. Daß Herbert in Bälde mit ihnen froh und lustig sein werde, war ihm gar nicht zweifelhaft. Warum sollte er das auch nicht? Er hatte es ja hier ganz entschieden besser als »da drin«, und junge, lebensfrohe Gesellschaft mußte ja doch so einem Buben vor allem gehen. Das andere, das Fehlende, das würde er ja bald vergessen. Er war ja noch ein Kind, zum Glück, und eins, das noch gar nicht besonders aufgewacht schien. »In dem Alter gewöhnt man sich noch leicht um,« schloß der Schultheiß seine Betrachtung, und der Meinung war seine Frau auch.
So war denn nun die Wandlung vor sich gegangen. In den ersten paar Tagen hatten sich alle Insassen des Hauses ein wenig beengt gefühlt, so zu einer besonderen Rücksichtnahme verpflichtet. Sie waren alle so ein wenig zart und schonend mit Herbert umgegangen, hatten ihn nach seinen Wünschen gefragt und ihn so von der Seite mitleidig angesehen. Das konnte man aber nicht immer. Die Tante konnte nicht immer ihre Stimme dämpfen, wenn sie mit ihm sprach. Und die Buben konnten ihn nicht immer fragen, was man spielen solle. Das war auch beides nicht nötig. Herbert wußte doch nichts anzugeben, er kannte die Bubenspiele nicht, und die Ausdrucksweise der Menschen hier war ihm doch fremd und ungewohnt, da kam es auf ein bißchen Derbheit mehr oder weniger nicht an. Seine Mutter hatte ganz anders mit ihm gesprochen, es konnte einem nicht in den Sinn kommen, diese Tante mit ihr zu vergleichen. Sie war nun einmal ganz verschieden von seiner Mutter, und alle hier waren ganz verschieden von allen und allem, das er bisher gekannt hatte. Darein ergab er sich, ohne viel darüber nachzudenken. Das lag so auf ihm wie eine Wolke. Er fühlte es immer, es verließ ihn gar nicht, aber er hätte nicht davon reden können.
»Es ist ein seltsames Kind, ein ganz sonderbares,« sagten alle, die ihn kennen lernten. Aber das war er nun eben, davon machte man nicht viel Aufhebens. »So ist er in dem Indien drin geworden,« sagte seine Tante, wenn die Rede auf ihn kam. »Vielleicht hat ihm die Hitze so ein bißchen die Gedanken verbrannt, das soll vorkommen, wenn man die Kinder so lang drin läßt.« Sie war eine wackere, herzlich gutmeinende Frau, und sie hatte ein gesundes Maß von Gefühl und Verstand und Tatkraft. Aber es ging alles so gesund, einfach und geradeswegs zu in ihrem Hause, psychologische Studien machte sie auch an ihren eigenen Kindern nicht. Sie hatte keinen Schlüssel zu dem innerlichen Wesen des Kindes, das in ihrem Hause als Fremdling lebte, und vielleicht hätte sie auch nicht zu lesen verstanden, was da geschrieben stand. Es ging ihm nichts ab, das wußte sie, er hatte es so gut als eins ihrer eigenen Kinder, das war gewiß das Richtige. Denn waren diese nicht frisch und stark und abgehärtet, und sahen sie nicht ins Leben hinein so hell wie der klare Tag? Da war nichts Weichliches, Zimperliches, Krankhaftes. Sie konnten einen Puff ertragen, und den bekamen sie auch, wenn sie ihn nötig hatten. Alles zu seiner Zeit.
Daß der Herbert so dastehen konnte und vor sich hinträumen, wo er gerade ging oder stand, und daß er so ein bißchen still blieb und teilnahmlos, das war ihr eigentlich im stillen zuwider. Es war so recht ihrer Natur entgegen. Aber das sollte er nicht entgelten. Er konnte ja wohl nichts dafür, daß er so war. Er war eben ein Indier. Außerdem kam er jetzt in die Schule, da würde er schon aufwachen. Man konnte über das alles hinweg jetzt zur Tagesordnung übergehen.
»Höret, der Herr Himmelein ist ein besonderer. Streng ist er gerade nicht. Heißt das, er gibt keine Tatzen. Aber manchmal wollte man lieber, daß man zwei Tatzen bekäme, als daß er einen so ansieht, so.« – Heinrich wollte es nachmachen, aber seine runden, braunen Bubenaugen gaben den Blick nicht her, mit dem Herr Himmelein seine Schüler zu strafen pflegte. Sie lachten alle zusammen. Es war eine ganze Bubengesellschaft auf der großen Auwiese versammelt und sie ruhten jetzt eben ein wenig aus unter das Jägerspiel hinein. »Ja, jetzt lachet ihr,« sagte Heinrich. »Es ist einem allemal nicht zum Lachen dabei, man möchte unter den Tisch kriechen. Manchmal ist's aber auch fein, in der Geschichte und in der Naturgeschichte und so. Da sagt er Sachen, daß man gar nicht mehr dran denkt, daß man in der Schule ist, ganz anders, und dann kommt er so in Eifer, daß ihm sein langer Haarschepper ins Gesicht hereinfällt und dann wirft er ihn wieder zurück, so.« Heinrich versuchte es zu zeigen. Er mußte alles, was er sagte, mit dramatischen Gesten begleiten, das konnte er gar nicht anders. Aber sein Haar war kurz geschnitten, man bekam kein rechtes Bild davon, wie Herr Himmelein aussehen mußte, wenn er seine Haarlocke zurückwarf. »Er hat einen Hund,« fuhr er unbeirrt fort, »einen ganz ruppigen, wüsten Rattenfänger mit nur einem Aug'.« »Zeig's, wie er aussieht,« rief einer dazwischen. »Ach was, laßt mich in Ruh',« Heinrich tat entrüstet, drückte aber doch unwillkürlich ein Auge zu. »Er bringt ihn nie mit in die Schule. Aber heut morgen kratzt es auf einmal an der Tür und dann hüpft etwas dran hinauf, daß die Klinke herunterschnappt und herein stürzt der Hund und tut wie unsinnig vor Freude um den Präzeptor herum und leckt ihm alles, was er erwischen kann, die Stiefel und die Hosen und die Hände. Er war halt ausgerissen und das war natürlich ein Hauptvergnügen für den Hund. Den Herrn Himmelein hat's auch gefreut, das hat man gut gesehen. Aber er hat's nicht merken lassen wollen vor dem Hund. »Du gehst heim,« hat er gesagt und nach der Tür gezeigt, so.« Heinrich streckte gebietend die Hand aus. »Und da hat der Hund geheult und gewinselt und mit dem Kopf am Boden herumgerieben, weil er nicht fort wollte. Aber der Präzeptor ist ihm nur ein einzigesmal übers Fell gefahren, ganz fein und sachte, schier wie wenn er ein Kind wär' und hat gesagt: »so jetzt geh', Phylax,« ganz ruhig hat er's gesagt und gar nicht laut. Und da hat der Hund den Schwanz hineingezogen und ihn so angesehen,« es sollte eine Mischung von Wehmut und Ergebung sein, mit der Heinrich seine Genossen anblickte, »und ist fortgetrottet. Ich sag', wenn einen ein Hund so mag, so ist man dann etwas Besonderes und das sieht man auch sonst.« »O, das sagst nicht du, das sagt der Vater,« rief Max, »du redest's nur nach. Das wüßtest du nicht von dir aus, das mit dem Hund.« »Aber das mit dem Herrn Himmelein sag' ich von mir aus,« begehrte Heinrich auf, »und überhaupt können auch zwei Leut' das Gleiche sagen. Da dürfte man nicht viel sagen, wenn immer nur einer eine Sache sagen dürfte.«
Er saß auf einem Grasrain, hatte die Kniee heraufgezogen und sah sich im Kreise um. »Wo ist denn der Herbert?« fragte er auf einmal. »O, der ist schon lang nicht mehr da, der wird wohl nach Haus gegangen sein,« sagten die andern. »Oder am End' steht er noch am Waldeck droben als Treiber und wartet auf den Hirsch. Er hat's vielleicht gar nicht gehört, daß man alle zusammen gerufen hat,« meinte einer. Da fingen sie alle an zu lachen.
»Das ist wahr, das sieht ihm gleich,« rief Hans, der Jüngste, »er merkt nie etwas, als wenn man's ihm ganz deutlich sagt und ihn dann noch dazu am Ärmel zieht.« Und nun wußte jeder etwas zu sagen von Herberts Zerstreutheit und Vergeßlichkeit, das war ein genußreiches Thema. »Gestern hat ihm die Mutter ein frisches Hemd und die Sonntagshosen auf den Stuhl am Bett gelegt. Da hat er sein altes Hemd drauf geworfen, und als er sich anziehen sollte, da stand er immer vor seinem Stuhl und endlich sagte er: »Ich hab' nichts anzuziehen, es ist nichts da.« »Ja und Wecken hat er holen sollen, mit nach Haus bringen, als er aus der Schule kam. Da hat er zuerst den Korb in der Schule gelassen und als er beinah' zu Haus war, fiel's ihm ein und er ist umgekehrt und hat ihn geholt, wieder am Bäcker vorbei mit dem leeren Korb, bis an die gleiche Stelle, wo ihm der Korb eingefallen ist, noch einmal umgekehrt und dann endlich Wecken gebracht. Die Mutter ist derweil immer im Haus herumgetrippelt, so.« Heinrich stand extra auf und stellte sich von einem Bein aufs andere, »und als er dann heimkam, hat sie ihm nur einen kleinen Schubs gegeben. Du bist doch ein, ein, hat sie gesagt, sonst nichts. Jetzt weiß man erst nicht, was er ist.« »O, ein Träumer ist er, und ein Zauderer, man könnte ihn Cunctator heißen,« rief Max und dieser Einfall wurde sehr bewundert. Sie wußten es gar nicht, wie sehr sie sich über ihren Vetter und Kameraden lustig machten. Sie hatten ihn ganz gern, so ohne tiefere Zärtlichkeit, die ist Buben im Schüleralter selten eigen, aber mit einem natürlichen Zugehörigkeitsgefühl. Es war nur so amüsant, sich untereinander die Anekdoten zu erzählen, deren es immer wieder neue gab, sie dachten sich nichts Böses dabei.
Droben an der Waldecke stand um diese Zeit ein kleiner Bub' und sah in die ziehenden Wolken hinein. Er hatte noch seinen Treiberstecken in der Hand, einen dürren Baumast, denn hier hatte der Hirsch herausbrechen sollen bei der Treibjagd. Herbert tat längst bei allen Spielen mit, er stand nicht mehr scheu zur Seite, wenn sich die andern lustig tummelten. Nur, er war nicht mit Leib und Seele dabei, wie sie. Er war wie eine Uhr, deren Pendel man anstößt, daß er eine kleine Zeit lang hin und hergeht in hastigem, ungleichem Takt und der dann immer wieder stillsteht, sobald die Kraft des Anstoßes vorbei ist, weil das Werk nicht aufgezogen ist. Das war in der Schule so, und im Haus und beim Spiel. Wenn man ihn anrief, dann schreckte er auf, dann kam Leben in die Augen und eine leichte Röte ins Gesicht, und dann tat er, was er sollte, hörte zu, gab Antwort, spielte mit, alles, solang er daran dachte. Aber das dauerte meist nicht lang. Wohin dann seine Gedanken gingen, das wußte kein Mensch. Ob seine junge Seele verreist war oder ob sie schlief, ob er selber in sich hinein horchte und da etwas vernahm, das man außen weder sah noch hörte, wer konnte das sagen? Es war niemand, der den Schlüssel zu dem verborgenen Uhrwerk hatte. Und es war auch niemand, der ihn suchte.
Die Kameraden waren sehr lang nicht gekommen. Herbert hatte auf sie gewartet und hie und da waren lustige Hussarufe zu ihm gedrungen. Hans und zwei oder drei der andern waren auch so aufgestellt gewesen, nicht sehr weit von Herbert weg. Er sah sie nun schon länger nicht mehr. Aber sie würden ja schon wieder kommen, vielleicht kam es ihm auch nur so lang vor. Und dann vergaß er sie. Es waren so wunderliche Wolkengebilde am Himmel und sie zogen so schnell dahin. Manchmal sahen sie aus wie hohe Berge und dann wieder wie riesige Tiere. Und einmal saß auf einer hellgrauen Wolke eine ganz lichte, weiße, wie eine Frauengestalt. Aber auch sie zerfloß. Wo nur die Mutter sein mochte? Und das kleine Schwesterlein? Herbert fühlte wohl, daß mit ihnen etwas ganz anderes sei, als mit dem Vater. Von ihm kamen hie und da Briefe, darin stand von seinem Leben und seiner Arbeit, von den braunen Christen, die am Sonntag in weißen Gewändern in das kleine Kirchlein kamen, und von den Heiden, die schmutzig waren und böse und ihre kleinen Kinder plagten und nichts von Gott wußten. Dann standen auch noch Grüße drin und liebevolle Ermahnungen, daß Herbert gehorsam sein solle und den lieben Gott nie vergessen, der ihn immer sehe und höre, »damit wir einst alle miteinander bei ihm sein können.«
Also dort war die Mutter. Das hatte Herbert nun begriffen, daß man nicht so ohne weiteres ebenfalls dahin gehen könne, wo sie sei. Aber es war ihm sicher versprochen, hinzukommen. Nach dem lieben Gott hatte er gerade keine so große Sehnsucht, obwohl ihm gesagt war, daß er die Kinder lieb habe und alle Menschen, und daß es wundervoll bei ihm sei. Es war ihm mehr um die Mutter zu tun. Wie sehr ihn nach ihrer Liebe hungerte, das wußte er ja selbst nicht, er verstand sich nicht genug dazu. Aber das wußte er wohl, daß er nur für einige Zeit hier sei und dann zu ihr gehe. Nur, es war alles so unklar und so geheimnisvoll. Es war irgend ein Rätsel, das Herbert nicht lösen konnte. Er hatte den Tod nicht gesehen, das war es. Seine Mutter war ihm nicht gestorben, sie war auf einmal nicht mehr dagewesen. Und niemand hatte ihm gesagt, daß es für ein ganzes, langes Leben sei. Vielleicht dachte man, daß er es doch nicht verstehe, oder daß man ihm den Schmerz ersparen wolle. »Denn so ein Kind vergißt sich.« Aber er vergaß sich nicht. Er lebte in zwei Welten; wenn ihn die eine nicht lockte und rief, so tat es die andere. Und Herbert flüchtete bald aus sich heraus, bald in sich hinein und war überall in einem Fremdsein befangen, das weder Lust noch Schmerz so rechte hohe Wogen schlagen ließ. Aber das wußten die nicht, die ihn Träumer und Zauderer hießen.
Mitten im Ackerfeld, noch ein gutes Stück von den letzten Ausläufern der kleinen Stadt entfernt, stand ein kleines Haus. Ein winziger Garten ohne Zaun trennte es von den Weizenfeldern, die sich in dem weiten Gelände nach allen Seiten hin ausbreiteten. Wie ein Lerchennest lag es zwischen dem Halmenmeer, so ganz ohne Schmuck und Schutz von Bäumen und Büschen, nur ein paar farbenfreudige Blumenrabatten und eine Laube mit wildem Wein als bescheidenen Putz vorgesteckt. Es hätte nur noch kleines Volk darin zwitschern und jubilieren sollen, dann wäre das Lerchennest fertig gewesen. Es wohnten aber keine jungen Lerchen darin. Der Präzeptor Himmelein hatte es vor kurzem bezogen. Er hätte Wohnungen genug in der Stadt haben können, man nahm es ihm übel, daß er da heraus zog, »in die Einöde«. Es gab viele, die Heinrichs Meinung teilten, daß er ein Besonderer sei. »Aber so ist er schon lang,« sagten die, die ihn von früher her kannten. »Immer etwas eigenes. Und Neigung zum Einspänner. Da lebt er nun mit seiner Schwester und seinem Hund. Die Schwester bekommt man auch nicht zu sehen. Sie soll krank gewesen sein, so etwas da oben herum, im Kopf. Man muß ihn mehr in die Gesellschaft ziehen, das ist nichts.«
Aber Letzteres war leichter gesagt, als getan. Wenn einer nicht will, ist da nicht viel anzufangen.
Herr Himmelein war seiner Schwester zulieb hier heraus gezogen. Das erzählte er nur nicht jedermann. Er besaß die Gabe, die Leute reden lassen zu können. Die ist vielen ungewohnt und regt sie auf. Man soll ihnen wenigstens sagen, warum man so und so tut. Schweigend und gradaus seines Weges gehen, der ein wenig anders ist, als der der andern, das ist eigentlich fast unerlaubt. Aber er konnte es und tat es auch. Seine Schwester hatte er sich aus einer Nervenklinik geholt. Sie war krank gewesen. Irgend ein Lebenskummer hatte sie niedergeworfen. Nun war sie soweit genesen, daß sie wieder die ersten Schritte ins Leben tun konnte. Ihr Gemüt war aber noch ein wenig scheu, zaghaft, und ihr Wesen still und nicht froh. Das sollte hier vollends ausheilen. »So ganz in der Stille und Einfachheit, so am Mutterboden,« wie der Bruder sagte, »mit dem uneingeengten Blick über die Saaten und auf die dunklen Höhen ringsum am Horizont, unter dem weiten, offenen Himmel, da man leben und atmen kann und nirgends anstößt.«
Er hatte ein Opfer gebracht, als er die große Stadt verließ und sich in das Landstädtchen meldete um der Schwester willen. Sie hatte seine Jugend bewacht, und er war alles, was sie hatte. Er tat es ihr gern zulieb. Aber nun sah er, daß er etwas gewonnen hatte. »Mir ist auch Stille nötig,« hatte er gesagt, als sie sich sträubte, es anzunehmen; »man verliert sich ja in dem Getriebe.«
Und nun er mit ihr da lebte, fühlte er, daß es wahr sei. Man wußte von jeher, daß er ein tüchtiger Lehrer sei. Aber nun brachte er etwas mit in seine Schule herein, etwas Festes, Klares, Starkes, das holte er sich da draußen »in der Einöde«. Seine Buben spürten es, sie mußten ja aufwachen, wenn er sie so anfaßte. Und in dem und jenem dämmerte eine Ahnung auf, »es sei eine Lust zu leben«. Und dann nahm der Lehrer dafür eine frische Strömung mit in sein Lerchennest hinaus, etwas von dem jungen, werdenden Leben, das in der Schule um ihn her war. Das teilte er mit seiner Schwester. Er bemühte sich nicht, auf sie einzuwirken, er ließ sie nur an seinem Leben teil haben, wie früher. Und er freute sich, wenn in den Augen, die so einen grauen Blick bekommen hatten, etwas aufleuchtete von Glauben ans Leben und von Mut zum Leben.
Sie war älter als er und sie hatte ihn einst bemuttert. Nun war das vertauscht. Aber davon redeten sie beide nicht, das war eben so.
Dorothea Himmelein kniete an ihrer Blumenrabatte und senkte Asternsetzlinge ein. Ihr Bruder hatte die Blumen so gern, er konnte gar nicht genug davon haben. »Das Brot wächst um uns her, es winkt ja zu den Fenstern herein,« sagte er, »wir müssen uns Blumen dazu ziehen, sonst denken die Leute, wir haben nur Sinn fürs Futterkorn.« Als ob er darnach fragte, was die Leute sagten. Aber sie wollte ihm doch den Gefallen tun. Es ist wahr, sie vergaß auch am besten dabei ihre Gedanken, die immer noch so oft und gern rundum gingen in der Frage, wie sie nur so habe werden können, so herzensalt und so grau. Und sie wollte doch nicht mehr daran denken.
Da kam er aus dem Haus. Er trug den großen, weichen Filzhut in der Hand und schwenkte ihn zu ihr hinüber. »Hast mich singen hören?« fragte er. Sie nickte. »Ja, ›da wo ich nicht bin, da ist das Glück‹, hast du gesungen. Das paßt auf mich, auf dich nicht.« »Das paßt auf uns beide nicht,« sagte er. »Da, wo ich bin, da ist das Glück. Das ist das Rechte. Das sagst du auch wieder, ich erleb's. Da,« er bückte sich und streckte ihr eine Schnecke hin, die die Last ihres braunen Hauses über den Weg schleppte, »die sagt auch so. Die ist in sich selbst zu Haus. Das ist das Geheimnis des Gesundseins. Man kann's auch anders ausdrücken. Aber das kannst du selbst tun. So, und nun geh' ich. Unterhaltet euch gut mitsammen, ihr zwei Häuselschnecken. Ich bin ein Schulmeister, ich frag' ab, wann ich heimkomme, was ihr von einander gelernt habt.«
Phylax rannte in hohen Sprüngen voran, sein Herr kam hintendrein. Dorothea sah den beiden nach. Es fing an, sich etwas in ihr zu weiten. Das Gewitter hatte das Leben in ihr so verhagelt, so zerschlagen, es war alles am Boden gelegen. Und nun keimte etwas Neues empor, ganz sachte, ganz klein, es lag noch viel Schutt drüber, aber es lebte doch. Und es dünkte sie fast, es sei etwas Besseres als vorher. Etwas, das nicht verhagelt werde. Man konnte noch nicht davon reden. Und das dankte sie ihm, der dort hinging. Soweit man das einem Menschen verdanken kann.
Um diese Stunde des Tages war Phylax ein glücklicher Hund. Da hatte er seinen Herrn für sich allein und das war etwas Schönes. Er rannte hin und her, scharrte an den Maulwurfshügeln an den Grasrainen, bellte die Grasmücke an, die auf schwankem Stengel saß und sang, und kam immer und immer wieder zu seinem Herrn zurück. Der hatte ihn einst als elende, halbtotgeschlagene Kreatur blutend und mit nur einem Auge aus den Händen roher Gesellen befreit, nach Hause getragen und dort gesund gepflegt. Das band den Phylax auf Lebenszeit an ihn.
Es war so ein sonniger Abend, voll friedlichwarmer Schönheit. Herr Himmelein klappte das Büchlein zusammen, in dem er beim Gehen so ab und an gelesen hatte, und sah eine Weile in die sinkende Sonne. Das ganze, weite Tal war noch erfüllt von ihrem Licht, und über den grünen Kronen des Buchenwaldes, dessen letzter Ausläufer sich bis an das Flüßchen herunterzog, lag ein goldiger Glanz. Die Mücken spielten in der zitternd-warmen Luft, und von weitem her klang helles Jauchzen von Knabenstimmen.
Da störte ihm ein kurzes, scharfes Bellen, das Phylax ausstieß, die lebendige Stille. Er konnte ihn nicht sehen, nur hören. Rasch machte der Präzeptor vollends die wenigen Schritte bis zur Waldecke. Dort bellte der Hund an dem kleinen Buben hinauf, der sich aufgeschreckt und ängstlich an einen Baum drückte und fluchtsuchend um sich sah. »Das fehlte gerade noch,« sagte Herr Himmelein. »Phylax, hierher. Ich will dir [helfen] Kinder [zu] erschrecken! Aber so ist's, wenn's dem Unverstand zu wohl wird. Ein anderes Mal lasse ich dich daheim bei dem Fräulein; verstehst du?« Phylax verstand und wedelte entschuldigend mit dem Schwanz, um seine gänzliche Harmlosigkeit anzuzeigen. »So, nun komm heran, Kleiner.« Der Herr Präzeptor sah Herbert aufmerksam an. »Sag' einmal, warum hast du denn Angst vor einem Hund? Das darf doch ein Bub' nicht haben. Hat dir denn schon einmal einer etwas getan?« Das mußte Herbert mit einem Kopfschütteln verneinen. »Ich bin nur so erschrocken,« sagte er nach einer kleinen Weile und wurde rot. Seine Gedanken hatten aber auch kopfüber von ihrer weiten Reise in die Wirklichkeit zurück gemußt. Man sah es ihm noch an, wenn man Augen für so etwas hatte. Herr Himmelein hatte das. »Warum stehst du denn so ganz allein da am Wald?« fragte er. »Wartest du auf jemand?« Herbert schüttelte wieder den Kopf. »Ich glaube nicht,« sagte er und sah verlegen um sich.
»Du glaubst nicht, daß du auf jemand wartest?« Herr Himmelein sah prüfend in das feine, zarte Bubengesicht. Ob er am Ende nicht ganz richtig ist? Aber so sah es dann doch wieder nicht aus. Nur so rührend hilflos und unsicher stand das ganze Kerlchen da, der Anblick rührte etwas auf in seinem Herzen. »Du, hör, aber das weiß man doch, warum man dasteht,« sagte er. Ganz freundlich sagte er es, mit einem Klang in der Stimme, der Herbert aufhorchen machte. »Komm, jetzt sag' mir einmal alles, jetzt hast du dich besonnen, das sieht man.«
Ja, nun war das Uhrwerk wieder angestoßen und Herbert berichtete alles, von der Treibjagd, und daß die Brüder so lang nicht gekommen seien, und daß er dann alles vergessen habe, und nun auch wirklich nicht mehr wisse, ob er noch warte, oder ob man daheim auf ihn warte.
Herr Himmelein hatte einst auf der Universität »die Gluckhenne« geheißen, weil er einen so unwiderstehlichen Trieb hatte, alles Hilflose, Kleine, Geringe »unter die Flügel« zu nehmen. Er war viel geneckt worden mit dieser seiner Anlage, die den flotten Studenten so ein bißchen altväterisch oder frauenhaft erschien. Aber er hatte es doch nicht lassen können, »rührend dumme Streiche« zu machen, wie die Corpsbrüder sagten. Jetzt verstand er sich selbst besser als damals. Er hatte erst vorhin in dem kleinen Büchlein, das er in der Hand trug, eine Stelle gelesen, die ihm ganz persönliches, inneres Eigentum schien. »Mir träumt im Wachen von einem Muttersein der Seele gegen alle Dinge der Welt, gegen alle Menschen und gegen alle Sachen.« Das war es ungefähr, das lebte auch aus ihm heraus.
»Gelt, und das kommt hie und da vor, oft, daß du alles vergissest? Ganz und gar, bis man dich anruft?« fragte er, als Herbert seine Sache erzählt hatte. Der sah ihn groß an. Das war ja freilich wahr, aber woher konnte der Herr Präzeptor das wissen? »Ja,« sagte er ehrlich, »schon, aber nicht mit Fleiß. Ganz von selbst.« »Ja, ja, das glaub' ich, so etwas tut man ja freilich nicht mit Fleiß. Aber sag' einmal, weißt du's dann nachher gar nicht mehr, wo du gewesen bist mit deinen Gedanken?«
Das war nun ein bißchen viel verlangt. Das konnte man nicht nur so sagen. Herbert wollte aber doch gern eine Antwort geben. »Manchmal in Indien,« sagte er schüchtern, »aber nicht immer.« »Was, in Indien? Das ist aber weit fort.« Herr Himmelein sah ihn erstaunt an. »Das mußt du mir schon erzählen, wie das zugeht.« Er hatte einen weiten Spaziergang machen wollen, aber daraus wurde nun nichts. Denn er mußte sich von dem kleinen Buben im blau- und weißgestreiften Matrosenanzug aus dem Wunderland Indien erzählen lassen. Sie wurden ganz angeregt und fröhlich dabei, alle zwei. Herbert hatte noch niemanden so lebhaft und viel erzählt. Ordentlich ein junger Mann war er zu dieser Stunde. Und wenn sein Zuhörer, der nun längst wußte, wen er vor sich hatte (in einer so kleinen Stadt hört jeder vom andern), nicht vom Hörensagen gewußt hätte, welche Lücke in dem Leben des blonden Träumerbübleins sei, von Herbert hätte er's nicht erfahren. Der sprach von zu Hause und von Vater und Mutter, und erzählte aus der Zeit, da sie fröhlich zusammenlebten und nichts von Trennung wußten. Das andere, »das Fehlende«, wie der Onkel Stadtschultheiß sagte, das war ihm in dieser Stunde nicht vor Augen. Und der Präzeptor sah ihn an und wußte, daß noch eine Stunde kommen müsse, da er aufwache.
Als die Kameraden nun endlich auf die Suche nach dem »Zauderer« gingen, weil die Betglocke aus dem Städtlein heraufhallte und sie nach Hause mußten, da fanden sie ihn, wie er neben dem Herrn Präzeptor hin- und herging und eifrig redete. Beide Männer, der kleine und der große, hatten die Hände auf dem Rücken und sahen aneinander hinauf und herunter, und jetzt eben sagte der Herr Präzeptor: »Ich habe zu Hause ein schönes, großes Bild hängen, das mußt du einmal sehen, weil das Meer darauf ist. Es steht eine Frau da und sieht unverwandt auf das Wasser hinaus, weil weit hinten ihr Heimatland ist. Das kann man nicht sehen, daß es dort ist, aber sie weiß es und sucht es mit ihren Gedanken. Komm nur einmal und sieh' es an.«
Das wollte Herbert gern tun. »Und, ihr könnt mir's glauben,« erzählte Heinrich am andern Tag der aufhorchenden Klasse, »er hat sich nicht ein bißchen geniert vor dem Präzeptor. So haben sie einander die Hände geschüttelt beim Abschied!« Heinrich riß einem der Zunächstsitzenden fast das Handgelenk aus, und war mit einemmal stolz auf seinen Vetter. Das war etwas Neues.
Herbert war nicht besonders erstaunt über die Ehre, die ihm widerfahren war. Sie mußten es ihm extra begreiflich machen, daß es dann doch etwas Besonderes sei, wenn der Herr Präzeptor von der zweiten Lateinklasse eine ganze Stunde lang mit einem Schüler der Vorschule hin- und hergehe und sich mit ihm unterhalte. Von dieser Seite aus hatte Herbert das Erlebnis nicht angesehen. Es hatte ihn nur so heimatlich und wohltuend angerührt. Er hatte die Gluckhennenflügel gespürt, unbewußt. Die hatten das frierende Küchlein erwärmt, für eine kurze Weile. Es stand nicht lang an, bis er eines Tags in das Lerchennest hinausging, um das Bild zu sehen. »Siehst du, Mutter,« sagte der Schultheiß zu seiner Frau, »nun macht er sich doch. So ein Putzewacker und geht dahin, als ob das ein Gang zu einem Kameraden wäre. Ich muß sagen, ich hätte mich als Bub gescheut, das zu tun. Der wird noch –« »Ach, ich weiß nicht,« die Frau machte ein nachdenkliches Gesicht, »ich glaube, er geht halb im Schlaf hin. Er ist zu dösig, als daß er sich geniert, er merkt's gar nicht, daß man das könnte.« – Man darf es ihr nicht übel nehmen. Es war ihr oft wirklich eine rechte Prüfung, daß Herbert so ganz anders war als ihre Buben. Sie hatte oft das Gefühl, daß man ihn anders anfassen sollte, als diese. Und dazu hatte sie kein Talent, auch gar keins. Da mußte sich die brave Frau wenigstens hie und da ein wenig ärgern dürfen.
Es wurde ein wenig anders, als Herbert sich gedacht hatte. Der Herr Präzeptor war nicht da, nur seine Schwester. Sie wußte von dem kleinen Buben, er hatte ihr von ihm erzählt. Nur hatte sie nicht seine leichte, natürliche Art, mit Kindern zu verkehren. Es fiel ihr ein wenig schwer. »Also du willst das Bild sehen?« fragte sie. »Du wirst es nur nicht recht verstehen, fürchte ich. Siehst du, das ist es. Die Frau heißt Iphigenie, sie muß in einem Tempel sein und einer Gottheit opfern, und sie möchte doch gern heim zu den Ihrigen. Da sieht sie nun immer hinaus und wartet.« Doch, das verstand Herbert. Er stand lang und still vor dem Bild. Da lag das Meer so ruhig. Es kam nirgends ein Schiff daher, nirgends. Und Iphigenie sah immer hinaus und wartete. Das senkte sich wie eine schwere Last auf den kleinen Buben. »Kommen die andern gar nicht zu ihr?« fragte er endlich. Er habe einen gequälten Ausdruck im Gesicht, dachte Dorothea Himmelein. Der rührte sie. »Welche andern?« fragte sie. »Die sie noch hat, zu Haus und überall,« sagte Herbert. »Kann sie auch nicht zu ihnen gehen?« »Doch, ihr Bruder kommt und holt sie, später. Und es ist überhaupt eine Sage, die Geschichte ist nicht wahr. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Komm, nun hast du es lange genug angesehen. Hier habe ich dir etwas Gutes, das mußt du essen und kein so betrübtes Gesicht machen.« Fräulein Dorothea hatte selber ihre Lebenslast; aber das ernsthafte Kindergesicht tat ihr weh. »Das sollte anders aussehen,« dachte sie. Ihr Bruder freute sich, als er nach Hause kam. Sie schalt ihn aus, daß er einem Kind, das fern von seinen Eltern sei, solch ein sehnsüchtig machendes Bild zeige. »Ich habe ihn mit einem Stück Kuchen getröstet,« sagte sie. »Aber das tust du mir nicht wieder.« Solch einen Eifer hatte sie lange nicht gezeigt. Er lächelte in sich hinein. »Seine Mutter ist gestorben,« sagte er nachher ernsthaft. »Er versteht es aber noch nicht recht. Ich habe ihm das Bild so zeigen wollen, daß es ihn nicht bedrückt. Aber wenn du ihn getröstet hast, so ist's ja gut.«
Herbert kam mit einem so ebenen, versonnenen Gesicht heim, daß unter den Brüdern ein heller Aufruhr entstand. Sie hatten immerhin einen rechten Bericht erwartet. Denn es war ein Ereignis, daß einer von ihnen, und gerade der kleinste, in des Herrn Präzeptors Haus ging, »und dort seine Bilder sah und seine Schwester und seinen Hund,« sagte Heinrich.
Aber es war fast nichts aus Herbert herauszubringen. Da ließen sie ihn und beredeten eine andere Neuigkeit, die gleichfalls die Gemüter bewegte. Drüben in dem roten Haus am andern Ende der großen Wiese war heut Abend ein kleines Kindlein geboren worden. » So ein kleines.« Heinrich gab das Maß für das Kindlein zwischen seinen beiden Händen so winzig an, daß alle in Entrüstung ausbrachen. »O, o, du tust nur so. So kleine Kinder gibt's ja gar nicht,« riefen sie, und der Vater sah hinter seiner Zeitung vor: »Heinrich, man macht auch nicht über alles Witze.« »Wenn ich's doch sage!« Heinrich wußte es sehr genau. »Sie haben es in Baumwolle gewickelt und in ein Körbchen gelegt. Es ist ein Mädchen, und das wäre sonst fein, weil sie noch keins haben, nur drei Buben. Aber es ist ihnen ganz eins, die Hanne hat's gesagt. Die Frau ist so krank, daß man kein lautes Wort reden darf im ganzen Haus, und vielleicht stirbt sie. Und ich mache überhaupt gar keine Witze, es ist mir ganz ernst.« Die Mutter kam herein. Sie war so weich und so bewegt, wie selten; es wurde den lustigen, wilden Buben ganz feierlich zu Mute. Heute hielten sie keine Kissenschlacht.
Nach dem Gutenachtsagen schlüpfte einer um den andern noch einmal leise aus dem Bett, und dann standen sie zusammengedrängt am Fenster und sahen über die nebelverhüllte Wiese nach dem Haus hinüber, durch dessen geschlossene Fensterladen bald da bald dort hin- und herhuschende Lichter schienen, und horchten hinunter, ob auch heute wie sonst Vater und Mutter in traulicher Zwiesprache zusammensitzen. Ein Nachtvogel schrie draußen und die Bubenköpfe schmiegten sich aneinander, wie sonst nie. Sie taten vor einander, als ob es ihnen nur ums Hinaussehenkönnen sei, aber es war doch anders. Es war so etwas Grausiges um den Weg. Wie es wohl ihren Kameraden da drüben zu Mute war? Und was morgen geschehen würde? Herbert stand unter den Brüdern. Das Herz klopfte ihm laut und stark, er fürchtete sich und wußte doch nicht recht, vor was. Und auf einmal fing er an, von dem Bild zu reden. »Es ist kein Schiff drauf,« sagte er. »Die Frau wartet immer, bis eins kommt, denn sie möchte gern nach Hause fahren, natürlich, weil sie alle schon so lang nicht mehr gesehen hat. Aber es kommt keins, sie muß immer warten. Und wenn man endlich noch froh wäre, daß ihr Bruder kommt, so ist die ganze Geschichte doch nicht wahr.« Die andern verstanden den Bericht nicht so recht, er war ihnen auch jetzt nicht mehr so wichtig, wie vorher. Sie krochen bald wieder ins Bett und huschelten sich tief unter Decken und Kissen hinunter. Vielleicht würde es morgen besser sein, als man heut Abend fürchtete. Dann schliefen sie ein.
Es wurde nicht besser. Am andern Morgen kamen die Nachbarskinder mit gedrückten, verlegenen Gesichtern in die Schule. Es war so eine traurige Wichtigkeit um sie herum, das gab ihnen solch eine eigene Würde. Das ganz winzige Schwesterchen und die kranke Mutter, wie die beiden gesprächsweise in der Schule umgingen! und wie es dazwischen wisperte und flüsterte. »Vielleicht sterben alle beide, oder eigentlich wahrscheinlich!«
Am Nachmittag kamen die Buben gar nicht zur Schule, und gegen Abend kam der älteste von ihnen ins Schultheißenhaus: »Einen schönen Gruß von meinem Vater und er läßt sagen, daß meine kleine Schwester gestorben ist.« Er mußte dableiben, die andern kamen auch, »daß es daheim ruhig sei.« Und dann hockten sie alle auf der Holzbeige vor dem Haus beieinander, fingen an zu spielen, hörten wieder auf, horchten mitten drin auf, ob kein besonderer Ton von da drüben herüberdringe, und fühlten alle den dumpfen, schweren Flügelschlag des Unglücks, des größten, das sie treffen konnte. Herbert schlich einmal von den andern weg, leise, vorsichtig. Sie sahen ihn erst, als er schon mitten auf der Wiese war, auf dem schmalen Fußsteiglein, das zu dem Nachbarshaus hinführte. Da jagten sie ihm nach, ebenso leise, aber mit Winken und Kopfschütteln und zurückrufenden Gesten. Er wurde blutrot. »Ich habe gewiß keinen Lärm machen wollen,« sagte er. »Nur ein einziges Mal zum Fenster hineinsehen, nur einen Augenblick.« Er sagte es fast flehentlich. Aber da kam er schön an. »Wir dürfen selber nicht,« sagten die Nachbarsbuben. »Wenn sie doch selber nicht dürfen,« eiferten die Brüder. »Man sieht nicht zum Fenster hinein, wenn eins so krank ist. Und überhaupt, man kann auch nicht, die Vorhänge sind fest zu.« Da ließ sich Herbert zurückgeleiten. Aber er hätte so gern einmal hineingesehen, so brennend gern. Er konnte den andern nicht sagen, weshalb. Sie hätten ihn auch nicht verstanden, er verstand sich ja selber kaum in seinem Drang, die kleine Leiche zu sehen, und die schwerkranke Mutter. Es fing etwas an, aufzuwachen in ihm, das tat so weh, man konnte es gar nicht sagen.
Und dann kam es. Die Frau Schultheißin war die ganze Nacht in dem Nachbarhaus gewesen. Als sie am Morgen wiederkam, hatte sie ein rotes, verweintes Gesicht und schloß ihren Jüngsten, den Hans, als sie ihm den Blondkopf kämmte, so fest in die Arme, daß dieser verwundert aufsah. »O Kinder,« sagte sie, »wie froh könnt ihr sein, wie froh. Die drüben haben jetzt keine Mutter mehr. Sie ist vorhin gestorben. Ist das ein Jammer. Behüt' uns Gott; man mag nicht dran denken.« Dann nahm sie Herbert vor. Ganz sachte und zart ging sie mit ihm um, und als er einmal aufsah, da lagen ihre Augen so gut auf ihm, so mitleidig, wie er sich's nie denken konnte. Heute tat's ihm weh, und er wußte erst nicht, warum. Die Tante schickte ihn mit einem Auftrag hinaus, und als er wieder hereinkam, sahen ihn alle so ein wenig eigen an. Die Mutter hatte ihnen gesagt: »Redet mit dem Herbert nicht davon, daß seine Mutter auch gestorben ist. Er hat's scheint's vergessen, er sagt gar nie etwas davon, er war ja auch noch klein. Und er ist so schon so zart, es ist besser, es kommt ihm nicht mehr so stark ins Gedächtnis.« Darum sahen sie ihn mit einem neuen Interesse an, sie hatten's ein wenig vergessen gehabt, daß er so merkwürdige Schicksale hinter sich habe. Der Tag ging hin. Max durfte einen Kranz ins Nachbarhaus tragen und sah dabei die Kameraden, die bei seinem Anblick in neue Tränen ausbrachen und sie dann auch wieder trockneten, als sie ihm die vielen Blumenspenden zeigten und den Palmzweig mit weißseidener Schleife, der vom Verein »Eintracht« gekommen war. Dann noch ein Tag und dann der des Begräbnisses. Es war so viel feierliche, wichtige Arbeit drum und dran. Die Frau Schultheißin tat ihrem mütterlichen Herzen Genüge, indem sie vom frühen Morgen an in dem Trauerhaus wirtschaftete, kochte, buk, die Gäste empfing und die, welche das wollten, zu der stillen Frau in die Kammer führte. Den Kindern half sie in die neuen Trauerkleider und steckte ihnen große Kuchenstücke zu. Das alles tat sie anfangs gerührt, bewegt und leise, nach und nach wieder ein bischen geräuschvoll und resolut; so war nun eben einmal ihre Art, die ließ sich auch vom tiefsten Mitgefühl nicht lange unterdrücken. Ihre vier eigenen Buben kamen nach dem Mittagessen an; sie durften auch die Leichen sehen, es war ihnen wichtig und grauslich zugleich. Auf den Zehenspitzen schlichen sie hinein, die Mutterwaisen mit. Es war ein graues Halbdunkel in der Kammer. Aus unzähligen Blumen heraus sah das stille, weiße Gesicht der Frau und das rührende, kleine Gestaltlein des Kindes, das an ihrer Brust lag. »Das hat's gut, das Kleine, das darf gleich wieder mit,« sagte jemand. Da hoben die größeren Kinder wieder an zu schluchzen und die Schultheißenbuben krabbelten auch nach den Taschentüchern. »So, nun kommet nur wieder heraus,« sagte ihre Mutter und führte die eigenen und die fremden Kinder in eine andere Stube. »Euer Vater tut schwer genug, ihr müßt's ihm nicht noch schwerer machen. Nein, nein, jetzt seid nur still. So, so, abtrocknen und dann ruhig sein. Bleibet nur dahinten miteinander, die Hanne bringt euch einen Kaffee und Hefenkranz und nachher komm' ich und richt' euch noch einmal her.«
In der Kammer war aber noch einer zurückgeblieben. Es hatte ihn niemand kommen sehen und niemand beachtet. Er war den Brüdern hintennach gegangen und hinter ihnen drein in die Kammer geschlüpft und nun stand er da und staunte. Also das war nun die Frau, die er erst noch gesehen hatte, gesund und frisch? Und das war das kleine Kindlein? Herbert tippte die gefalteten Hände vorsichtig an; da ging ihm eine Eiseskälte durch die Adern. Also so war man, wenn man gestorben war? Und nun legte man sie in ein Grab, das wußte er, davon hatte man heut' schon geredet. Erde kam darauf und obendrauf legte man die Kränze. Aber dann war alles, alles aus. Herbert schauderte. Dann hatten die Buben keine Mutter mehr, nie mehr, im ganzen Leben nicht. Das war der Tod. Es schnürte ihm etwas den Hals zu. Er hätte rufen mögen, er war so allein. »Wo ist meine Mutter?« hätte er rufen mögen, »ich will zu ihr, jetzt gleich, und nicht mehr warten. Ich habe eine Mutter, sie ist nicht – oder doch?« Da war es wieder, was immer in ihm aufwachen wollte und nicht recht durfte, das Furchtbare. Er tat einen kleinen Schrei, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Die Tür tat sich auf und ein Mann kam herein. Das war der Mann der Toten. Er sah bleich aus und trug Kopf und Schultern schlaff und müde. »Was willst du, Büblein?« fragte er. »Komm nur heraus. Warum hast du gerufen?« Er wollte ihn fortführen. Aber Herbert hielt ihn am Ärmel fest, so gut er konnte mit seiner kleinen Kraft. »Nein, nicht hinaus,« sagte er. »Kann sie gar nicht mehr aufwachen und nie mehr kommen?« »Nein,« sagte der Mann dumpf, »das nicht. Sie hat gehen müssen, sie wär' gern noch bei uns geblieben. Eine Mutter gehört nicht in den Himmel, solang sie ihre kleinen Kinder noch brauchen. Verzeih' mir Gott die Sünd', ich weiß nicht mehr, was ich sage. Du verstehst's auch nicht, Büblein, du bist noch zu klein. Wiewohl, du hättest die deinige auch noch brauchen können und hast sie auch schon hergeben müssen.« Aber Herbert war noch nicht fertig. »Ist man immer so,« er deutete auf die Frau, »ist man gestorben, wenn man beim lieben Gott ist? Alle?« Eine große, zitternde Angst lag in seinen weitoffenen Augen. Er wußte nicht, warum er so fragen mußte. Er verstand den Zusammenhang nicht recht. Aber wer kann sagen, daß er ihn versteht? »Ja,« sagte der Mann, »freilich, was stellst du auch für Fragen? Alle müssen sterben, eh' sie zu ihm kommen. Das ist immer so gewesen.« Herbert war totenbleich. »Aber meine Mutter ist doch beim lieben Gott, der Vater hat's gesagt.« Er sagte es mit erloschener Stimme. »Und sie ist nicht so gewesen, und man hat sie nicht in ein Grab hineingetan.« Da war vielleicht doch noch eine Hoffnung. »Ja, freilich,« sagte der Mann mitleidig. »Das ist nichts Kleines, daß man sie hat ins Meer hinunter lassen müssen und nicht einmal an ihr Grab kann und nicht weiß, wo sie liegt. Das ist freilich traurig. Aber nun komm', das ist nichts für dich, so da drin sein und an das alles denken. Geh' nur zu den andern.« Damit machte er die Tür auf, daß der helle Tagesschein von draußen hereinfiel. Da sah er, wie starr das Kindergesicht war. Ganz versteint. Als hätte es den leibhaftigen Tod gesehen. Die Frau Schultheißin kam herein. Der Mann war sehr erleichtert, denn er wußte nicht recht, was anfangen mit dem kleinen Buben. »Ja, was tust denn du da?« sagte die Tante. »Wie siehst du denn aus, Bub? So sag' doch ein Wort, Kind. Ist dir's schlecht, oder was ist?«
»Meine Mutter ist gestorben,« sagte Herbert tonlos. Er fühlte, daß es wahr sei. Er konnte es selber aussprechen. »Man hat sie ins Meer hinunter gelassen.« Dann sah er auf und fragte mit den Augen. Vielleicht sagte die Tante, daß alles nicht wahr sei. »Ja, freilich, Kind,« sagte diese. »Aber das ist jetzt schon lang. Da fängt man nicht noch einmal mit Betrübtsein an. Geh' jetzt nur zu den andern. Sie sind da hinten drin und haben Kaffee und Kuchen. Nein, nein, jetzt mußt du nicht weinen.« Herbert sah groß auf. Das sei schon lang? Und er solle nicht noch einmal anfangen mit Betrübtsein? Seine Mutter war ihm jetzt eben gestorben, gerade vorhin, da drin in der Kammer. Er war ja noch gar nicht betrübt gewesen. Es ging ein scharfer Schmerz durch den ganzen Buben durch; doch, er mußte weinen, laut, das konnte man nicht hinunterdrücken, keinen Augenblick mehr. Er schlüpfte durch die Tür, und dann lief er, so schnell ihn die Füße tragen wollten, über die Wiese, den Fußweg am Mühlbach hinauf, ein Stück weit querfeldein. Als ob es noch nicht weit genug sei, kam es ihm vor; als ob er durch die ganze Welt laufen müsse, weit, weit fort von allen Leuten. Zu seiner Mutter. Die war gestorben. Die lag im Meer unten. Oder zu seinem Vater. Der war in Indien bei den braunen Kindern. War der auch gestorben? Nein, der nicht. Aber er konnte nicht zu ihm kommen, und Herbert durfte nicht zu ihm. Da schlug das ganze Elend des Verlassenseins über dem Kind zusammen, das nun nicht mehr träumte, das wach geworden war zum Leben und zum Leid.
Als drinnen in der Stadt die Glocken läuteten und die Schulkinder sangen, als am offenen Grab die Kinder und der Mann standen und Blumensträußlein und Erdschollen auf den Sarg hinunterwarfen, da lag im Feld draußen an einem Grasrain ein Büblein, das hatte das Gesicht ins Gras gedrückt und schluchzte, daß der ganze Körper bebte. Als ob es nie mehr, nie mehr aufstehen und aufhören könnte. Das weinte um seine Mutter. Und es war allein in seinem Schmerz, weil er um ein Jahr zu spät gekommen war. Er war den andern nicht heilig, weil er ihnen nicht mehr neu war. Nur ihm ganz allein. Es kam etwas übers Feld gesprungen, schnappend, hastig schnaufend. Das blieb vor Herbert stehen, hastete wieder davon, kam wieder, knurrte ein wenig, blieb dann wieder still stehen. Herbert hob einen Augenblick den Kopf und ließ ihn wieder sinken. Das war ein Hund. Er war zu müde, um viel zu erschrecken. Da ging er ja auch schon wieder, querfeldein davon. Es war Phylax. Er holte seinen Herrn. Er sah ihn mit dem einen, klugen Auge an, wedelte mit dem Schwanz, bettelte. Herr Himmelein mußte es merken. Er machte seinen gewohnten Spaziergang und las dabei, wie er das meistens tat. Was wollte nur der Hund? Er ging ihm nach, über das Brachfeld, bis an den Grasrain, vor dem der Hund still stand. Da lag das Kind und weinte. Es stieß manchmal Laute aus drunterhinein, halberstickte, klagende. Herr Himmelein stand still und wartete. Er nahm den Hut ab und legte ihn neben sich, als er sich nun auch auf den Rain setzte. Er wußte alles, eh' er ein Wort vernahm. Solch eine feine Gabe des Verstehens hatte er, daß er sein Herz auftun und warten konnte, bis das Kind kam und getröstet sein wollte. Er hatte nicht umsonst »Gluckhenne« geheißen. »Da hat er's nun erfahren, was ich ihm an dem Bild zeigen wollte, sachte und behutsam,« dachte er. »Und wie hat er's wohl erfahren? Ob er wohl den Tod gesehen hat?«
Herbert rührte sich. Er hörte, daß jemand neben ihm sei. Zwischen halbgeöffneten, tränenschweren Lidern lugte er hervor und dann machte er die Augen vollends auf, langsam und müde. »Meine Mutter ist gestorben,« sagte er. Sonst nichts. Das war auch genug. Er wußte nichts anderes mehr. Herr Himmelein rückte ganz nah zu ihm her. »Ja,« sagte er, »du armes Kind, und nun mußt du weinen.« Er nahm das müde Köpflein auf seine Kniee und strich sachte mit der Hand über das Blondhaar. Da wurde das Weinen leiser und stiller und endlich verstummte es. Herbert war eingeschlafen.
Die Abendschatten sanken herunter, da nahm Herr Himmelein das schlafende Kind auf seine Arme und trug es in sein Lerchennest. Das lag von allen Häusern am nächsten. Dorothea stand unter der Tür und sah wartend hinaus, weil der Bruder länger als sonst nicht kam. »Bscht,« sagte er, »leise.« Sie hatte fragen und sich verwundern wollen. Da wurde sie auch still. Geschäftig ging sie voran und deckte ihr eigenes, weißes Bett auf. »Da leg' ihn hinein,« sagte sie. »Komm Phylax, komm heraus, wir wollen das Kind nicht wecken. Es ist ein betrübtes Kind und solang es schläft, weiß es nichts davon.« Der Bruder ging noch einmal aus. Er mußte in das Haus des Schultheißen gehen und sagen, wo das Kind sei, und daß man es in Frieden ausschlafen lassen möge.
Da setzte sich Fräulein Dorothea an das Bett und sah dem kleinen Schläfer zu. Der Mond ging auf und seine Lichter stahlen sich über das Kindergesicht hin. Sie rückte davor, es sollte ihn nichts stören, der da lag und leis atmete und seinen Schmerz vergaß im tiefen Kinderschlaf. Sie wußte, was Leid sei, o, sie wußte es gut. »Alles Leid ist Kinderleid,« hatte ihr Bruder vorhin gesagt. »Wir sind alle Werdende, und das Leid erzieht uns zum Werden.« Das hatte auch ihr gegolten. Ja, sie war auch eine Werdende, sie wußte es wohl. Sie fühlte sich so verwandt mit dem Kind. Sie hätte es in die Arme nehmen und lieb haben mögen. Aber es schlief so tief, so müde. »Und wenn du aufwachst, ist es wieder da,« dachte sie. »Aber auch Liebe ist da, die dich lieb haben und trösten will.« So war es ihr auch gegangen. Und ein warmes Dankgefühl füllte ihr Herz und machte es warm und lebendig, darüber, daß Liebe sei in der Welt und Liebe über der Welt, und daß sie daran teil habe, sie und alle, die ihrer bedürfen.
Es war am andern Morgen. Herbert erwachte und schlug die Augen auf, und dann sah er verwundert um sich. Das Zimmer war voll Morgensonne, er kannte es nicht. Da an der Wand ihm gegenüber hing ein großes Bild, ohne Farben, und doch voll Glanz und Licht. Das Licht kam von der Sonne, die sich eben aus dem Meer hob und deren Strahlen tausendfach auf einem weiten, wellig bewegten Wasser lagen. Im Vordergrund saß ein Mann in einem Kahn, der hatte ein mild-frohes Gesicht und hob die Arme in die Höh', als ob er Menschen vor sich hätte, die er segnen wollte. Herbert mußte das Bild ansehen, eine lange Weile. Das war das Meer. Was war mit dem Meer? Das kam nun wieder, es war nicht gleich mit ihm erwacht. Aber nun war es da. Herbert drehte sich um und ließ das Gesicht mit einem leisen Ächzen in die Kissen fallen. Herr Himmelein stand unter der offenen Tür, schon seit einer Weile. Er rang mit sich, reden oder schweigen? Das Herz war ihm voll von tröstenwollender Teilnahme, aber war es nicht besser, still zu sein? War dieses Kind nicht schon geschädigt dadurch, daß man es über den Verlust des nächsten, was es hatte, schweigend hinübergeführt hatte? Der Schmerz ist heilig. Und kein Mensch hat das Recht, den andern um einen heiligen Schmerz zu betrügen. Diese Wunde mußte bluten. Sonst, er hätte so gern gesagt: »Sieh, das ist nun der Bruder, der übers Wasser kommt. Er vergißt keins, er holt sie alle in die Heimat, alle. Es muß keins umsonst warten, sie kommen alle hin und können da beisammen sein.« Aber es war wohl noch nicht Zeit. Schweigen und liebhaben, das war wohl das Beste. Zeigen, daß man auch unterwegs nicht allein ist. Da störte eine laute, helle Stimme die Morgenstille. Und dann kamen feste, eilfertige Tritte die Treppe herauf. »Nein, nein, lassen Sie nur, ich finde ihn schon. Da ist es ja wohl.« Dann kam die Frau Schultheiß ins Zimmer. »O du Bub,« rief sie, »du dumm's Büblein. Fortlaufen, ins Feld hinaus, so im Elend, du dumm's, dumm's Kind.« Aber sie hatte dazu Tränen in den Augen. Sie nahm das dünne Gestaltlein da im weißen Hemdchen an sich; wie eine rechte Mutter schloß sie es in die Arme. Es war auch in ihr etwas Neues aufgewacht, sie hatte heut nacht nicht viel geschlafen. Herbert fühlte es, das Neue, er schmiegte sich leise an sie, sein waches, wehes Herzlein war so des Anschmiegens bedürftig. »So nun komm,« sagte sie, »daß wir heim können. Es ist ein Brief von deinem Vater da, den müssen wir miteinander lesen. Komm, ich zieh' dich an heut, nein, es ist eins, ich muß ja sonst hinsitzen und warten.« Sie konnte keine besonders lieben Worte machen. Das hatte sie nicht. Aber jedes Band und jeden Knopf machte sie ihm mit Mutterhänden zu. Was hatte sie denn von dem hungrigen, halbwachen Kinderleid da neben sich verstanden? Sie hatte gar nicht gewußt, daß eins da sei. Das war nun anders. Der Herr Präzeptor hatte gestern abend so merkwürdige Dinge davon erzählt. Sie hätte sich nie so ausdrücken können, aber sie verstand es doch. Der stille Zuschauer unter dem Vorhang der Nebentür sah es in ihren Augen und hörte es in ihrer Stimme, daß sie es verstand. Da zog er sich leise zurück.
»So,« sagte die Tante, als nichts mehr zu bürsten und zuzumachen war, »nun komm. Jawohl, du darfst schon wieder hierherkommen, bald, natürlich darfst du. Der Herr Himmelein und das Fräulein haben's beide gesagt. Aber siehst du, ich muß dich jetzt heimbringen. Sie warten alle auf dich.« Ja, er wollte mitgehen. Es bedurfte gar keines Zuredens. Er faßte ihre Hand, und so ging er neben ihr her, die ihre großen Schritte seinen kleinen anzupassen suchte – in sein junges, mutterloses Leben hinein.