René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Himmlische Landschaft

Ost und West

Unter den Wolken gibt es an erlesenen Tagen erlesene Gebilde. Angelockt von einem strahlend blauen Himmel, kommen sie einzeln oder in lichten Scharen.

Es ist wortwörtlich Sonntag, die Wolken haben Ausgang.

 

Da ich die Feste feiere, wie sie fallen, gehe ich an solchen Tagen in die Ebene und setze mich auf den Rand eines Straßengrabens. Nach Osten blicke ich auf den Schwarzwald. Drehe ich mich um, habe ich, in größerer Entfernung, die Vogesen vor mir.

Die Wolken über den Vogesen erinnern an jenen Wurf Spucke auf einer Mauer, von der Leonardo behauptete, ein Maler könne aus ihm heraus-sehn und -zeichnen, was ihm beliebe – so eine Spucke enthalte die Schöpfung.

Über dem Schwarzwald sind sie körperlicher . . . Dafür übertreffen die Vogesenwolken nach Sonnenuntergang 88 die andern an Deutlichkeit, Vielfalt und Farbenpracht . . . Denn dann sind sie von unten beleuchtet, und die sinkende Nacht mischt sich in das Spiel.

 
Robben

Über den Badischen Belchen schieben sich drei – vier Wolken. Wie weiße Robben liegen sie da, die Vorderflossen auf dem Grat, und schauen in die Ebene.

Sie haben sich den Belchen ausgesucht, weil er als höchster Berg die beste Aussicht bietet.

Die eine der Robben ist ein Junges. Neugieriger als die andern, liegt es fast ganz auf dem diesseitigen Hang. Obwohl es, streng genommen, da schlechter sieht als von ganz oben.

 
Verwandlung

Die Robben verwandeln sich in Seelöwen, sie wachsen weiter, die Flossen werden zu Beinen, und dann setzen sie sich als Elefanten in Marsch . . . Je weiter sie kommen, desto weißer werden sie. Nie hat es auf der Erde weiße Elefanten gegeben, die so weiß gewesen wären.

Mitten über der Ebene machen sie halt. Sie knien nieder, kippen um und sind nur noch ein Haufen Elefantenmittagsschlaf.

 
Kavalkade

Eine Weile danach erscheint über dem Schwarzwald eine Kavalkade. Männer in weißem Burnus und Turban 89 reiten auf weißen Rossen, Zaumzeug funkelt, Speere blitzen, und als ich über mich blicke, hat der Elefantenmittagstraum eine Oase geboren . . . Blaues Wasser fließt und vertieft sich zu Brunnen, in der milchigen Luft ragen Palmen.

Ich fahre auf meinem Gesäß herum. Hoch über den Vogesen liegt eine weiße Stadt, vom Mittelmeer bespült, ich unterscheide flache Dächer, Minarette und ein Tor, das mit rosigem Schatten gefüllt ist.

 
Wüstenvögel

Der Kavalkade folgte eine Schar Wüstenvögel unbekannter Art. Einer der Vögel hat drei Paar Flügel und wird beim Fliegen immer länger, ein andrer hebt ein Bärenhaupt und rudert mit dünnen, gefiederten Beinen – einen Leib besitzt der überhaupt nicht. Ein dritter ist rundlich und träge und bleibt immer mehr hinter den andern zurück.

Schließlich wird mir klar: dieser Letzte ist niemand anders als der Mond, der fürwitzig in den hellen Tag hineinrollt.

 
Der Abendstern

Als die Sonne untergegangen war, zeigte sich ein Reich seliger Archipele über den Vogesen, lichtgerändert, in einem gelben Meer.

90 Das Meer lag ganz still. Durch seine gespannte Fläche schimmerten Korallenbänke.

Ringsum verdämmerte der blaue Ozean . . .

Von einem der Archipele hatten sie eine Rakete in den Himmel geschossen, die war hoch oben hängen geblieben.

Ein Kirchturm nach dem andern erkannte den Abendstern und begann zu läuten.

 
Sonne auf Schienen

Wolken, die der Morgensonne Abenteuer in den Weg legen, kenne ich nicht. Die Sonne kommt zu mir durch den Wald, und bis sie erscheint, sind die Händel, im Guten oder Bösen, für die nächsten Stunden abgetan.

Im Winter sickert sie durch den Nebel, der sich im Wald festgesetzt hat. Manchmal aber bricht sie mit der Gewalt einer Maschine durch. Der kleine Hans sagte einmal: »Die Sonne kommt auf Schinjen durch den Wald . . .«

Sind die Schienen da, erscheint auch bald, blau und silbern, die Lokomotive.

 
Wahrsagungen

An einem 24. Dezember war ich ganz allein im Haus. Natürlich kam es mir nicht in den Sinn zu feiern. Abends, 91 gleich nach Sonnenuntergang, sah ich auf dem Elsässer Belchen einen geschmückten Weihnachtsbaum – das goldene und silberne »Engelshaar« glühte. Auf der Spitze des Baumes warf ein Engel, im Begriffe aufzufliegen, ekstatisch ein Bein nach hinten. Er war aus karminrotem Glas.

Später löste sich die Wolke in phantastische Gebilde auf, die an jene Figuren erinnerten, wie sie beim Bleigießen zum Wahrsagen dienen. Ich rätselte an ihnen bis in die sinkende Nacht.

 

Eines Morgens erhielt ich aus Italien die Nachricht, jemand, den ich sehr liebte, sei tödlich erkrankt. Damals dauerte es Wochen, bis man ein Visum für den Paß bekam, und ich konnte vernünftigerweise nicht hoffen, jenen Menschen wiederzusehn . . . Der Himmel über der Ebene blieb den ganzen Tag mit krötenhaften Wolken bedeckt, die Erde war ohne Licht.

Wenige Stunden später kam ein Wind auf, der fegte den Himmel blank und erhellte die Erde.

Als die Sonne, von glühenden, schwanengleichen Wolken begleitet, sich den Vogesen näherte, traf die Nachricht ein, daß der schon Totgeglaubte operiert worden sei und sich außer Gefahr befinde.

Die Nacht darauf gab ich einem Stern, der besonders schön und an die äußerste Himmelsgrenze gerückt 92 schien, den Namen des Freundes. Den Namen, o Wunder, eines Lebenden!

 

Ein andres Glück, das mir geschah, als ich schon nicht mehr darauf hoffte, wurde durch die Sonne, den guten Hirten, angekündigt, der sich an der Spitze seiner Schafherde über den Himmel bewegte.

Auf dem Kamm der Vogesen drehte er sich nach seinen Tieren um . . .

Die Herde errötete unter seinem Blick, drängte sich dichter zusammen. Er stieg den jenseitigen Hang hinab, langsam folgten die Tiere.

Es dauerte wirklich etwas lange, bis sie alle drüben waren . . .

Begreiflich. Ihr Weg führte sie durch eine blühende Heide, in der es viel zu knabbern gab.

 

Auch meinen Leichenzug habe ich droben gesehn . . . Keine Prophezeiung könnte glaubhafter sein.

Es war ein Armenbegräbnis. Hinter einem Sarg schritt eine einzige Gestalt, und die löste sich in Luft auf, bevor der Leichenwagen mit dem Grauschimmel den Kirchhof erreicht hatte (als den ich den Elsässer Belchen ansah).

Freilich war es Spätherbst und kalt und der Weg recht weit. 93

 
Nach dem Regen

Man sieht jeden Zug der Vogesen, jeden Einschnitt, die Sandsteinbrüche streuen rosa blühenden Oleander zwischen die Waldmassen.

Aus den Tälern steigen kleine Wolken, hellgrau und flockig, und lassen sich auf den Hängen nieder.

Die Bergkette entlang und bis tief in die dampfende Ebene entfesselt die Sonne Schleiertänze des Lichts. Jeden Augenblick wechseln die Dinge Gestalt und Farbe . . .

Der Rauch einer Lokomotive, die Mülhausen zudampft, nimmt unbeholfen daran teil – wie sich eben ein zahmer Lindwurm anstellt, wenn er in einen Elfenreigen gerät.

 
Gefährliche Hochzeit

Am Frühlingshimmel beobachtete ich, wie eine gewaltige Gottesanbeterin (Mantis religiosa) bei der Liebe (und leichtem Südwest) ihr ebenso stattliches Männchen auffraß. Nicht etwa in einer Art Raserei, nein, bedächtig, mit Überlegung und Umsicht.

Das Männchen schien es gar nicht zu merken. »Wie es ja«, stellte der Doktor fest, dem ich es erzählte, »wie es ja auch auf der Erde durch das Aufgefressenwerden nicht gehindert wird, bei der Sache zu bleiben, solange die Kauwerkzeuge der Gemahlin das wesentliche Organ nicht angreifen. Und dann ist es natürlich zu spät.« 94

 
Hagel

Braungelbe Wolken, von denen es brodelnd herabhängt, kündigen Hagel an.

Sobald sie sich zeigen, legen gescheite Leute ihre Teppiche hinaus, um sie vom Himmel ausklopfen zu lassen.

 
Nächtliches Gewitter

Bei jedem Blitz erblassen die Wolken und sind starr vor Schreck über das, was sie da schon wieder angerichtet haben.

 
Überraschung

Welch ein Spaß, wenn eine Eingängerwolke, die niemand beachtet, plötzlich aus heiterem Himmel einen Regenschauer entsendet!

Die Frauen lachen und blinzeln nach oben, als sei dort ein zweideutiges Wort gefallen . . . Die Kinder kommen gelaufen und strecken die Hände in den Regen. Lauwarm fällt er von der Sonne . . . Alles, was ringsum glänzte, glänzt doppelt.

Die Hühner glauben, der Gartenschlauch des Nachbars erlaube sich einen Scherz mit ihnen, und flüchten kreischend in den Stall.

Nur der Hahn, seiner Würde bewußt, bleibt draußen. Der Kamm schwillt ihm vor Entrüstung. Jeder Schritt fordert heraus, verachtet, befiehlt, dem Unfug ein Ende zu setzen . . .

95 Tatsächlich hört das Rieseln bald wieder auf.

 

Man muß sich solch eine Wolke ansehn!

Die Unschuld in Person.

»Wie, zum Teufel, kommt die Jungfer zu dem Kind!« 96

 


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