René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Vorwort

Erlebnis der Landschaft

Ich erinnere mich, wie ein junger Dichter, der den Krieg als Artillerieleutnant mitgemacht hatte, mich um das Jahr 1921 besuchte. Er kam müde und verstimmt aus dem Ruhrgebiet, wo er Monate unter Tag gearbeitet hatte, um Geld für sein Studium zu verdienen. Ich führte ihn auf einen Berg und zeigte ihm die Schätze der Erde.

Kaum aber ergriff ihn die Schau über die Rheinebene, die Vogesen, die Weinberge, die dem südlichen Schwarzwald vorgelagert sind, und wollte ihn entrücken, als auch schon das wiedergewonnene Freiheitsgefühl in ihm sich seltsam empörte. Sein Artilleristengehirn begann nach Deckungen, Richtpunkten zu suchen, in einer Art Schwärmerei führte er Krieg mit Kanonen in dem gewaltigen Garten, der sich seinen Blicken darbot. Er verließ uns, ohne etwas andres von hier mitzunehmen als die Erinnerung an eine etwas phantastische Reliefkarte eines Kriegsschauplatzes, in die er allerhand Einzeichnungen gemacht hatte. Dabei hatte der Krieg ihn nie in diese Landschaft geführt, er sah sie zum erstenmal.

8 Seitdem weiß ich: auf ihrem langen und vielfältigen Rückzug aus dem Krieg werden die Jungen nur mühsam und mit stockenden Pulsen zur Landschaft, zu ihrer Kindheit zurückfinden. Sie werden vierzig Jahre alt werden, bevor sie von neuem unschuldige Erde betreten, bevor mit der sich verflüchtigenden Zweckhaftigkeit des Blickes die Bereitschaft zur Empfängnis wiederkehrt. Mit Politik hat das nichts zu tun, nicht einmal damit, in welchem Geiste einer den Krieg erlebt hat. Für alle war der Krieg da: Mondlandschaft, wissenschaftlich erzeugtes und beherrschtes Erdbeben, Zusammenbruch. Alle, die ihn erlebt haben, hat er erst einmal um und um gekehrt.

Um das Maß der Unschuld, der Glücksfähigkeit in sich zu ermessen, trete man vor die Landschaft. Selbst bei Künstlern, die keine oder nur eine geringe Beziehung zur Landschaft zu haben scheinen, etwa (um zwei Gipfel und Gegensätze zu nennen) Dostojewski und Raffael, stellt sich das Werk auf seinem Höhepunkt als geheimnisvoll verwandelte Landschaft dar, oder, mit einem Wort von Novalis: das Äußere, das Werk ist ihr »in Geheimniszustand erhobenes Inneres«, das Innere aber wiederum unbedingt das Abbild einer Landschaft, nämlich der Kindheit.

Andere, die so beschaffen sind, daß die Landschaft unmittelbar zu ihnen spricht, und denen der Umgang mit ihr zur zweiten Natur geworden ist, empfinden sie als ein 9 lebendiges Wesen, lesen ihr Leben von ihren Zügen ab, hören sie für sie sprechen, wandern in ihr wie mit der lautlosen Einen oder dem dramatischen Chor, der bald Freund ist, bald Feind. Am tiefsten gestaltet sich diese Zwiesprache, wenn es sich um die Heimat handelt, das heißt die naturgewordenen Worte und Gebärden der Vorfahren, die mütterliche Form, die uns gebildet.

 

Im südlichen Schwarzwald liegt ein kleiner Kurort Badenweiler. Er verhält sich zu Baden-Baden wie Kammerspiele zum großen Theater. Er trägt ein adelig stilles Gepräge. Von den Waldwegen sieht man in die Schweiz und das Elsaß hinein. Es ist, seitdem das Elsaß wiederum zu Frankreich gehört, eine Dreiländerecke. Hier wachsen Pappel, Edelkastanie und Rebe. Es gibt Pinien und Zypressen, ein dem Ort seitlich vorgelagerter Hügel, den heute ein herrlicher Buchenwald bedeckt, heißt der Ölberg, weil die Römer, die auch die Rebe hierher brachten, dort ihre Ölbäume stehen hatten. Durch die Burgundische Pforte, zwischen Vogesen und Jura, das Einfallstor der Völkerwanderungen, eilen die Gedanken in das Reich des Lichts mit der himmlischen Küste, in Roms »Provinz«, die Provence. Nach Avignon ist es nicht weiter als nach München, nach Marseille nicht weiter als nach Berlin. Hier habe ich mein Zelt aufgeschlagen.

10 Als ich noch den Platz suchte, wo ich mich niederlassen wollte, traf ich den Maler Emil Bizer, und dem war es gleich so klar wie der Herbsttag, der uns zusammenführte, daß es nur hier sein könnte. Er nannte mir keine Gründe, sondern ging mit mir spazieren. Wir sprachen nicht viel, aber vom ersten Tag an gingen wir nebeneinander her wie Freunde, die Wege und Waldwinkel ihrer Kindheit aufsuchen. Vom Hochblauen hinab zum Rhein, von Freiburg bis Basel, Blatt um Blatt des Bilderbuches schlug Bizer mir auf, mit leichtem Finger, schon im Weiterwandern, mit einem guten, flüchtigen Ernst in den Augen, der zu fragen schien: »Erinnerst du dich?« Und wenn etwa von Paris oder Berlin die Rede war, so sprachen wir davon wie zwei rheinische Alemannen, die mit Freude und Gewinn in Paris und Berlin gewesen sind. Einmal war eine Dame mit uns, die fiel bei dem Wort »Paris« in eine Art Rauschzustand – gleich rühmten Bizer und ich das nüchterne, wuchtige Basel. So fand ich nicht nur einen neuen, schönen Winkel meiner schönen, alten Heimat, sondern zu dieser Landschaft auch gleich einen Kameraden.

Wir sind nebeneinander aufgewachsen, Bizer rechts, ich links des Rheins, im großen gerundeten Garten zwischen Vogesen und Schwarzwald, der so eins und unteilbar ist, daß die politischen Grenzen deutlich als eine Fiktion erscheinen.

11 Es ist die Landschaft, die im »Simplizissimus« Grimmelshausen, auf einem Vorberg des Schwarzwaldes sitzend, als die Gegend schildert, »in welcher die Stadt Straßburg mit ihrem hohen Münsterdom, gleichsam wie das Herz mitten in einem Leibe beschlossen, hervorprangt«, und die Philesius am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in seinem Vogesengedicht überaus anmutig besang:

»Hier wächst lieblicher Wein auf sonnengesegneten Hügeln . . .«

Wird nicht jeder Badener, dem ich das Gedicht vorsage, lächeln wie einer, dem man von seiner vertrauten 12 Liebe spricht? Nicht minder erkennen wir Elsässer in Hebels Gedichten und Geschichten und selbst in Thomas Bildern den Abglanz unsrer Täler und Hänge. Daß sie dennoch verschieden sind, erhöht den Reiz der Familienähnlichkeit. Links des Rheins sind die Menschen lebhafter, glatter, aufgeweckter in jeder Beziehung, die Berge spröder und abseitiger. Auf dem rechten Ufer verhält es sich gerade umgekehrt. Da sind die Berge ein einziger, weitgeöffneter Park, alte Rast- und Erholungsstätte, wo schon alle Sprachen der Erde geklungen haben, die Bewohner aber eckiger, unzugänglicher, vielfach noch ganz in sich versunken. Der Fremde sieht den Unterschied greifbarer bei den Menschen, wir Alemannen empfinden ihn stärker in der Natur. (Um die Unterschiede in einer so kunstvoll geschlossenen Landschaft zu erkennen, muß man darin leben, die Unterschiede des Temperaments stoßen dem Fremden eher auf.) Im übrigen sehen die meisten, wie sie sehen wollen, nämlich politisch. Weshalb über keinen Erdenfleck so viel albernes Zeug geschrieben und geredet worden ist wie über diesen.

So ist das alemannische Rheinland.

 

Hier bin ich geboren. Hier bin ich zu Hause. Heimat, das ist für uns eine so köstliche, so lebendige Tatsache, daß wir darüber die unvermeidlichen Irrwege vergessen. 13 Menschen und Umstände können uns die Heimat verstellen, so daß wir nicht zu ihr hinfinden, sie verloren geben. Aber immer sind wir selbst es, wir allein, die ihr, notgedrungen oder leichtfertig, untreu werden, und wir brauchen nur reinen Herzens da zu sein, um den Ursprung wiederzufinden.

Es geschah mir nicht selten, daß mir hüben oder drüben des Rheins, hier in meiner Heimat, das Aufenthaltsrecht bestritten wurde, nicht gerade polizeilich, aber moralisch. Ich wußte dann nie, sollte ich weinen oder lachen über die Leichtfertigkeit eines zufällig in diese Gegend gewehten oder als Ladenhüter hier zurückgelassenen Zeitgenossen, der sich beschwerte, daß ich denselben Boden mit ihm trete: den Boden, mit dem alle meine Vorfahren ins Grab gegangen sind und worin sie treu liegen, dort, wohin sie gehören, in der großen alemannischen Familiengruft. Und auf dem ich nicht als Gewerbetreibender oder Verwaltungsbeamter stehe, bereit, einen andern Laden aufzutun, der sich besser verzinst, oder einem neuen Herrn zu dienen, wenn der alte bankrott ist, sondern als lebendiges Gewissen und lebendiges Lied dieser Landschaft.

 

Nein, wohin wir, im höchsten wie im gewöhnlichen Sinne, gehören, was Heimat ist, das wissen wir besser 14 und um so mehr, als unser Horizont keineswegs im Umkreis unseres Nestes beschlossen liegt. Wir sind weit gewandert, haben viel von der Welt gesehn, fremde Völker und Meere genug, wir werden hoffentlich noch oft den Wanderstab ergreifen. Wir verwechseln nicht den Hahn unsers Kirchturms mit der (übrigens recht irreführenden!) Freiheitsstatue im Hafen von New York oder anderen Sichtpunkten des Weltverkehrs. Aber mein Blick wandert vom Tisch zum Fenster hinaus auf die Hügel, die sich in die Rheinebene senken, und weiter zu der Linie der Vogesen, und ich genieße die gleiche Freude, wie wenn ich die Bewegung von Gemüt und Sinnen, die der Blick erzeugt, aus den Augen eines geliebten Wesens schöpfe. So persönlich sind für uns die Züge dieser Landschaft. So angefüllt mit Erinnerungen, Versprechen, Bekenntnissen.

Da sind Hügel (auf einem davon sitzt eine Ruine), wirklich wie von spielenden Engelshänden zusammengeschoben, und auch die beiden Sperber im unendlichen Himmel haben nicht mehr Gewicht als das Phantasiegebild eines Kindes. Dort eine bitter zerraufte Tanne: sie trotzt an der Nordecke eines Vorberges, wo der Wind sie zerreißt, das Moos sie auffrißt. Nur um weniges entfernt zeigt sich eine vergnügte Baumgruppe, hier nämlich scheint die Sonne, das Grün strotzt von Saft und Licht, und dann folgt am Fuß des Buckels ein Etwas, nichtssagend, die Holzwolle des ausgeleerten 15 Spielzeugkastens, ein Schatten, ein paar Punkte – das ist der kleine Kurort, Badenweiler. Die Art, wie er in das Bild gehaucht ist, so daß es nur herausfindet, wer die Landschaft genau kennt, dem aber, der es entziffert, das Herz höher schlägt, das klingt mir wie ein Gedicht im Ton eines Volksliedes.

Was sehe ich noch? Einen dieser selben Hügel, die sich eben noch fröhlich aneinanderduckten, jetzt aber, nah und groß gesehen, erhebt er sich, gewitterhaft aufglänzend unter dem Fetzen Himmel, der aus der Rheinebene herüberhängt. Alles an ihm ist Bewegung – Bewegung wie in einer alten Tragödie. Dann einen Vorberg, hinter dem die Hügel sich in hängende Weingärten 16 verwandeln, und zuletzt stößt der Blick unter einem aufschwebenden Vorhang in die Ferne, wo die Umrisse der Vogesen sich mit denen der Wolken vermischen. Manchmal liegen Berge und Tal im Dunst, dann herrscht über der Ebene die Weite des Meeres.

Jetzt ist die elsässische Ebene zum Greifen nahe – morgen wird es regnen! Deutlich erkenne ich das Rheindorf, das dicht am Strom liegt, über die Ziegeldächer schweift das Auge, über den Rhein und die elsässische Ebene (mit der italienischen Pappel im Wappenschild), die Vogesen krönt am Abend ein lichtes Wolkengebilde, und alles strahlt in jugendlicher Anmut, in einem Singsang von Licht.

 

Als ich hierher kam, war ich ein toter Mann. Für immer schien sie mir »zerstört, die herrliche Welt«, und ich wußte keinen Ausweg aus den Trümmern, wo es von den Hyänen des Schlachtfeldes wimmelte und den Schakalen der Lüge und den Schlangen, die bei der Verwesung wohnen. Wie unzählige andre ging ich in einem bösen Wachtraum umher, in den Städten schossen und schrien sie weiter, und so viel glaubte ich erfahren zu haben: mit Schreien und Schießen war den Menschen nicht zu helfen. Ich war bescheiden geworden, ich erhob meinen Anspruch nicht mehr zu den andern, was gelten sollte, mußte erst einmal für mich gelten. Und mir 18 jedenfalls war mit allem Händel nicht einen Schritt weiter zu helfen, dies wußte ich und sagte es mir vor, während ich über Hügel und Täler lief und hart arbeitete, um für mich und die Meinen die notwendigsten Lebensmittel zu beschaffen.

Zwei Jahre vergingen so, drei, vier – ohne daß ich mehr dachte und begehrte, als mein Leben zu fristen, versteckt und halb verschollen, doch immer inniger befreundet mit der Landschaft, der Kindheit, die mich voll unerschöpflichen Mitgefühls umgab.

Sie sprach zu mir, ohne daß ich es hörte, kaum, daß ich nachts im Hochwald den Laut der kleinen Wasser vernahm. Ich schien nicht zu hören, und jedenfalls lauschte ich nicht. Ohne es zu merken, öffnete sich mein Wesen weiter und weiter, die äußeren Bilder durchfluteten mich, wie ich, weit aufgeschlossen, durch die Jahreszeiten schritt. Ich ahnte nicht, daß diese äußern Bilder, wie der körperliche Blick sie streifte, Gestalt und Farbe meiner tiefsten Erinnerungen waren, die sich anschickten, von meinem ausgehöhlten Menschen Besitz zu ergreifen. Und langsam aufwachend, bildete sich mein zerstörtes Inneres neu nach dem Bilde der Landschaft, die meine Wahrheit war, Wurzel und Krone des Lebens, sie und nichts andres.

Ohne daß ich gerufen hatte, wurde mir eines Nachts, als ich abgemüht nach Hause kam, die Antwort – die 19 erste, ungeahnt, überwältigend. Wie alles Vollendete enthielt sie mit dem ersten zugleich auch das letzte Wort. Beim Anblick meines langen, niedern Hauses am Rande des Hochwalds trat ich, von einer Ekstase erfaßt, in das Geheimnis allen Lebens ein. Ich fühlte in seliger Erschütterung, von der die Nacht lautlos widerhallte, die Vermählung der Landschaft mit meinem wiedergefundenen und geläuterten Ich. Als schwacher Abglanz nur und trüber Laut blieb mir von dieser Stunde ein Gedicht.

Ich wandere
Am schwarzen Wald entlang
Nach Haus.
Aus einem einzigen Stern am Himmel
Bläst der Wind
Immer den gleichen Funken,
Als fürchte er die Nacht im Wald
Und hüte für das Tal, das sie bedroht,
Dies Lichtlein in der Not.

Plötzlich gießt der Mond
Sein Füllhorn aus!
Der Hügel blüht als Weißdornhecke
An einem See,
Darinnen Dorf und Tal versunken.
Mein weißes Haus, die Arche, 20
Schwimmt darauf
In atemvoller Stille.
Nicht einmal die Hunde rühren sich,
Da ich den Hof betrete,
Im Traum nur hören sie mich kommen.
Süß beklommen,
Öffne ich die Tür und trete
In ein Geheimnis ein.

Im dunkeln Zimmer,
Im dunkeln Bett,
Die Augen geschlossen,
Im dreifachen Sarg,
Sehe ich den Weißdornhügel,
Von seinem Licht umflossen,
Und, wie es sich von ihm löst,
Mein Haus, die Arche,
Auf dem breiten Tale schwimmend,
Das wiederum ein See ist
Wie vor Tausenden von Jahren. 21

 


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