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»Ich will sie in Venedig wiedersehn ...«

Der Knabe war heimgekehrt, aber die Hälfte seiner Gedanken verweilte wachträumend in dem Märchenland, dessen Meerfarben um eine edelsteingespickte Krone rauchten, und dem er ebenso unerwartet entrissen worden war, wie der Entschluß einer Liebenden ihn jählings hineinversetzt hatte. Die andre Hälfte empörte sich gegen die von einem großen, fremden Gewitter aufgetürmten Hindernisse, die ihn abgehalten hatten, der Wirklichkeit seines eigenen Erlebnisses näherzukommen. Sie waren schuld, daß dieses nur wie ein helldunkler Schein und das Echo einer Musik in seinem Bewußtsein haften geblieben. Und sieh da! In seiner Trauer über Sidonias Geschick lebte keimhaft ein Siegesgefühl, der Triumph, daß jener Sturm sie aus seinem Wege geräumt und ihm das Land der märchenhaften Wirklichkeit als einzigem Herren überliefert habe. Es genügte, dahin zurückzukehren, damit sich alles erfülle ...

Er dachte an nichts andres, als wie es möglich wäre, dies zu bewerkstelligen.

Seine Umgebung war ihm in quälender und bedrückender Weise entfremdet – dort im Osten, am Ende des Kontinents, so schien es ihm, am Rande der Erde, öffnete, aus Wasserdunst und Feuerschein wie aus einem Spiegel tretend, das ihm bestimmte Leben kühlhäutig die Arme.

Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis für Winter. Es muß wohl ein Winter verflossen und noch einer dagewesen sein, bevor ich zum zweitenmal, »zum richtigen Mal«, wie ich mir sagte, nach Venedig aufbrach. Aber in meiner Erinnerung wölbt sich ein einziger blauer und goldgelber Sommer über dem Elsaß meiner Schülerjahre.

Tagsüber verwahrte mich Straßburg, sein Münster war das schlankeste der Welt, demselben Boden entsprungen, wie ich und die Meinen. Der rote Vogesensandstein atmete Licht, und in manchen Stunden zitterte der durchbrochene, spitze Turm wie kaum erstarrte Luft. Mich dünkte, er recke sich so, er vergehe vor Sehnsucht nach dem Himmelsstrich, von wo er den ersten Kuß der Sonne empfing.

Ich aß bei der uns befreundeten Familie Bock zu Mittag. Nach Tisch gingen Viviane von Bock, ihre Gouvernante und ich an den Kanälen, den alten Wallgräben, entlang spazieren, die mattgrün spiegelnd die innere Stadt umgeben. Der Münsterturm hing wie in einer Dampfwolke, die Fensterläden der Häuser auf der Sonnenseite waren geschlossen, unsre Schritte klangen auf dem heißen Pflaster des Stadens. Viviane schritt mit hängenden Armen, den Kopf lauschend zur Seite geneigt, und ihre Tritte waren die sanfteren Schwestern der meinen. Sie hatte ein gelblich blasses Gesicht und braune Augen, die sie gesenkt hielt. Wenn ein warmer Windstoß die Uferstraße heraufpuffte, sah sie ihn rechtzeitig kommen und führte die Hände mit einer langsamen, runden Bewegung zum Hut, als höbe sie einen antiken Wasserkrug auf ihren Kopf. Sie schien kostbare Gedanken zu verwalten in ihrem Ernst.

Ich sprach wenig und nur in allgemeinen Wendungen von Venedig und Maria, aber alles, was ich immer sagen mochte, erzählte von ihr und ihrer heimlichen Residenz. Alles erinnerte mich an sie: der in der Hitze blaßblaue Himmel und der schiefe Regensturz, der plötzlich das Wasser des Kanals mit Ruten strich, die gestutzte Akazie der Uferstraße, die Blumen auf dem Universitätsplatz und die gräßliche Garnisonskirche – das Wasser unter den breiten Hängeweiden fühlte sich mit dem Blick so kühl an, wie ihre Haut unter meiner Hand gewesen. Von tausend Dingen sprach ich und immer nur von ihr. Erriet Viviane das Vexierbild, das die Welt für mich geworden war? Sicherlich. Denn schlug sie einmal die Augen auf, so waren sie ungeheuer groß vor lauter Andacht und Mitgefühl.

»Pulcinella!« sagte sie dann oft mit einem Lächeln, das sich von den Mundwinkeln langsam zum Kinn hinabschlängelte.

Dort, wo der Kanal mit eins wieder zur Ill und einem lebendigen Wasser wird, machten wir zögernd kehrt ... Die tänzelnde Strömung zwischen den üppigen Ufern wollte uns weiterlocken, wir kannten die wilde, verworrene Flußlandschaft, die unvermittelt hier am Rande der Stadt begann und sich, von einem Versteck zum andern, bis an den Rhein erstreckte – ein herrliches Land, nicht auszuforschen, darin sich der Fluß in Windungen erging, die den Himmel umarmten, und in Buchten, auf deren Grund die Wiesen in ein unterirdisch Reich hinabführten, dann wieder ganz schmal, unter überhängenden Bäumen begraben, man mußte sich bäuchlings in den Kahn legen, um hindurch zu kommen! Früher, da hatten wir uns hineingewagt, zu zweit und mit Freunden, wohl ein dutzendmal, und waren dann immer aufatmend hier am Rande der Stadt »gelandet«, als wie von einer weiten und gefahrvollen Reise, und hatten gleichsam den Blütenstaub exotischer Gewächse auf dem Gesicht in die elterlichen Stuben getragen. Jetzt, fühlte ich, würde Viviane sich nicht mehr meinem Schutze anvertrauen, und ich – hätte ich im tiefsten des Rheindschungels etwas andres gesehn als die in buntgestreiftem schwanken Wasser getürmte Stadt und ihre goldhäutige, kleine Königin? Keiner von uns verspürte mehr Lust zu solch verzwickten Unternehmungen, wobei es galt, sich aus der Aufsicht zahlloser Menschen wegzustehlen und unbemerkt zu ihnen zurückzukehren. Doch veranlaßte uns irgendeine Anhänglichkeit, irgendein Bedauern, unter den Augen der Gouvernante eine Weile stillzustehn und die Augen auf dem Wasser ruhn zu lassen, das mit winzigen, glitzernden Wellenkämmen über breiten, sommerlich heiteren Flächen in unser verlorenes Paradies fuhr. Auf dem Rückweg zeigte sich die Gouvernante jedesmal wieder beunruhigt über unser Schweigen. Und wenn Viviane einmal die Augen aufschlug, so sagte sie nicht mehr: »Pulcinella!« Bei der Wilhelmer Brücke, die zum Bischöflichen Gymnasium führt, verließen mich die Damen. Es war fünf Minuten vor zwei, die Schulglocke läutete zum erstenmal, erst im Hof der Kleinen, dann im Hof der Großen.

Nach dem Unterricht begleiteten mich meine drei Freunde bis zum Schlachthausstaden, von wo das Bimmelbähnel nach Breuschheim seinen Weg nahm. Wurde ich im Wagen abgeholt, so setzte ich sie, einen nach dem andern, an ihrer Haustür ab. Die Landstraße lief zwischen zwei Reihen Obstbäumen, die mit der kleinen Dampfbahn ebenso wie mit der Kutsche im Schritte gingen.

Maria besuchte uns mit ihrer Mutter – ich freute mich nicht lange. Unter unsern Verwandten und neben der alle Luft verdrängenden Mutter glich mein Bronze-Idol in fataler Weise den andern weißgekleideten Mädeln mit fliegenden Zöpfen, wie der Ferienwind sie herbeitrug. Außerdem waren wir beide bigott geworden, sie, weil »Sidonias Unglück ihr eine Warnung gewesen«, ich infolge eines Sprunges in einen Tannenwipfel, von dem noch die Rede sein wird.

Kaum aber war die Freundin abgereist, da kehrte ihre ursprüngliche Gestalt zu mir zurück, so, wie sie damals gewesen war und in Ewigkeit für mich bleiben sollte. Mit frommer Scheu stand ich vor ihr, und oft mußte ich kämpfen, um nicht sündigen Gedanken zu erliegen. »Ich will sie in Venedig wiedersehn«, sprach ich wie ein Gebet, ich atmete nur dafür. Als meine Heiligen dann allmählich in ihre Rahmen und auf ihre Postamente zurückkehrten, herrschte sie wieder ganz allein im Palast der aufgehenden Sonne. Und ich konnte wochenlang des Glaubens leben, sie sei eine Prinzessin, die mich dort in dem weißen, von der Morgenröte berankten Haus erwarte. Die banale Sprache unsrer Briefe war nur ein Siegel, ja wir selbst nur ein Gespenst jenes andern Paares, das sich in Venedig in die Arme fiel.

Endlich geschah es.

»Los von hier! Unter Menschen!« rief meine Mutter eines Tages im Spätherbst. Ich stimmte nachdrücklich bei, nicht so sehr in der Freude, die soeben wieder eröffnete Schule zu schwänzen – ich stand nun glücklich in der Obersekunda – sondern, weil ich beschlossen hatte, bei der Gelegenheit mit Maria zusammenzutreffen. »Unmöglich,« behauptete ich, »unmöglich, es länger auszuhalten in diesem Breuschheim«, und zehn Minuten später saß ich in meinem Zimmer und schrieb an die Freundin. Sie möge, bat ich, ihre Mutter reiselustig stimmen, wozu, wie ich gerade an der meinen erprobt, weder List noch Tücke, sondern nur freundlicher Zuspruch gehöre. Mütter seien immer erholungsbedürftig. Natürlich würde sie, Maria, sich als nicht minder bedürftig erweisen und gehorsam die Mutter begleiten. Ich meinerseits werde versuchen, als Reiseziel Venedig durchzusetzen. Sollte es mir jedoch wider Erwarten nicht gelingen, so sollte sie, »nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz«, und koste es, was es wolle, ihre Mutter bewegen, an den von der meinen erwählten Ort zu reisen, der angesichts der Jahreszeit ja doch nur irgendwo im Süden zu finden sein werde. Sobald hier etwas bestimmt sei, würde ich es ihr mitteilen, und ich bat sie, unverzüglich das gleiche zu tun. Diesen Brief versiegelte ich mit einem Petschaft, das ich mir kürzlich hatte schneiden lassen, und brachte ihn behenden Schrittes zur Post.

Daran schloß sich, wie immer nach bedeutungsvollen Taten, ein Spaziergang durch den Park an. Da nun gab es merkwürdige Dinge zu sehn. Der Drommetenstoß, der den Sommer angemeldet hatte, gellte jetzt, im Spätherbst, von neuem durch den Garten: der türkische Riesenmohn glühte in verwüsteten Rabatten. Seit acht Wochen blühten auch die Veilchen zum zweitenmal, ein wenig blasser, kleiner als im Frühjahr, mit deutlichen Anzeichen von Überanstrengung, jedoch sie dufteten und blühten, massenhaft, und spannen noch übers Beet hinaus. Wahrlich, sie taten zuviel des Guten, indem sie jetzt noch einmal ihre blaue Zipfelmütze in den Wind hingen, der nicht mehr der Frühlingsbote war, sondern sein bitterer Bruder, der Herbstwind!

Wie verstand der es, dem Winter den Weg zu bereiten! So daß wir uns nicht mehr fürchteten, wenn der weiße Schrecken in Person erschien, vielmehr dankbar waren, nach soviel Geschrei und Gezerre, den eindeutigen Druck seiner Hand zu verspüren, und seinen Gang bewunderten und die Klarheit seines Blickes, bis die Größe der Pax hiemalis, des Winterfriedens, uns gar entzückte. Ja, inzwischen aber fieberte man und starb ... auf Abzahlung, »Los von hier! Unter Menschen!« widerhallte es im Schloß.

Schön waren die Herbstfarben – wie ein Haus, das am lichten Tag abbrannte. Die Natur gab ihr letztes hin, dann folgte die Kirchhofsruhe, ein Gedankenstrich, auf dem weißes Moos wuchs ... Warum nur wollten die Veilchen dabei sein, da die Sonnenblumen das Halali des Sommers bliesen, daß das Goldblech schier zersprang, und die hohen Staudenastern ihr schummeriges Murmeln und Flüstern vom Winter begannen? Dem Riesenmohn sah man es wenigstens an: er war toll geworden. Aber die Veilchen! Die lieben Mädchen taten einem leid, sie wurden alt und grau und konnten nicht fort. Was hielt sie fest und zwang sie, Jungmädchen zu spielen und immerfort zu blühen und zu spinnen?

Der Abbé Simon brachte es heraus: sie hatten für den Sommer gutgesagt und waren gekommen nachzuschauen, wie es um ihre Bürgschaft bestellt sei. Da indes der Sommer ausgeblieben war, so versteiften sie sich auf ihr Versprechen, sinnlos, wie die Kinder, meinten, die blaue Postkutsche, worin sie uns im Frühling verfrachtet, habe nur einen Unfall erlitten, wir säßen allzu ungeduldig an der Landstraße, aber die Reparatur sei bald beendet und dann, dann ginge es, juchheisa, über den Berg ... Da konnten wir lange warten! Die blaue Postkutsche saß bis über die Deichsel im Dreck, und dem Kutscher war gekündigt.

»Los! Aber wohin?«

»Nach Venedig«, bat ich.

»Nach Venedig? Warum nicht gar!« Meine Mutter war nie in Venedig gewesen. Wohin dann? Herbstwind stürzte mit blödem Humor, tagelang, nächtelang, übers Land und suchte, wen er erwürge. Es regnete dreimal am Tag und die halbe Nacht.

»Los von hier! An die Sonne!« Ich kam mit einem Zeitungsblatt angelaufen. Vous voyez, auf dem Markusplatz lustwandelte man in Sommerkleidern. Die Tauben brüteten von neuem. So stand hier im »Figaro« zu lesen. Ich las es vor, morgens und mittags und abends. Ich trieb es tagelang, und endlich gab meine Mutter nach. Sie schrieb Briefe, in denen sie für einen »festen Kern« von Menschen warb, den sie in Venedig vorfinden wollte. Es handelte sich für sie, die sich bisher zur Nordsee gehalten hatte, um eine so unerhört neue Unternehmung, daß ihr meine alleinige Waffenhilfe nicht genügte. Ohne ein sicheres Minimum von Bundestruppen, erklärte sie die Entdeckung des meerumflossenen Venedigs nicht auf sich nehmen zu können.

Sidonia antwortete, sie habe wichtige Arbeiten zu überwachen und könne nicht abkommen, worüber mein Vater die Hände zur Decke hob: was das für Arbeiten sein mochten?, mußte er sich immer wieder fragen, wir hier warteten darauf, die eingeregneten Kartoffeln herauszuhacken.

Es gab nichts, fast gar nichts zu tun. Unwirsch ging man im Wirtschaftsgebäude an den bereitgestellten Säcken mit der Wintersaat vorbei, die darauf warteten, daß die Acker frei würden. Die Knechte ließen fluchend den Wein ab, droschen, und abends saßen sie mit den Bauern im Wirtshaus und politisierten über das alte, ferne Welschland und das nahe, durch den biertrinkenden Kreisdirektor vertretene Reich. So schlechter Laune waren sie, abends angetrunken, morgens verkatert, daß man sich wohl hütete, ihnen den Besuch des Wirtshauses zu verbieten. Anders konnte die Welt in Rheinweiler auch nicht aussehn, und dies also war die wichtige Arbeit, die Sidonia überwachte! Vaters Schwester Mary dagegen machte keine Ausflüchte. Sie lud in die Touraine ein. Nun, die Touraine, das war ihr Kloster, die alte Jungfer verließ es nie. Onkel Albert-Léo, der ebenso fest hinter Paris saß, teilte zornig mit, seine Frau leide an Gicht, und sein Sohn, der Leutnant, verbringe seinen Afrika-Urlaub damit, durch das Fenster auf die grundlosen Wege zu glotzen, kurz, sämtliche Verwandten versagten. Was nun? Wir taten es Vetter Léo gleich und blickten morgens und abends stumm auf den regenüberschwemmten Garten. Maria blieb die Antwort schuldig. Mit trüben Ahnungen, schon halb entmutigt, fuhr ich zwischen Breuschheim und Straßburg hin und her.

Die einzigen Blumen, die dem Ungemach lächelnd standhielten, waren die japanischen Anemonen. Diese Fürstinnen bewahrten auch unter einer Traufe Haltung, wuchsen, von allen ihren weißen Blüten bedeckt, dem finstern Himmel entgegen. Sie machten mir Mut! Nachdem acht Wochen lang Wasser gefallen war, hatte es heute gehagelt. Nie hatten die Blüten der japanischen Anemone so groß und lauter dagestanden wie nach diesem Massaker.

Um die Ecke dicht versammelt, duckmäuserten noch immer die Veilchen und teilten sich mit den lebensgroßen Kimonos in den Triumph des Widerstands, wo doch die dramatische Situation sich bereits auf den Donnerkeilen der Äquinoktien zuspitzte. Der Hagel hatte es ihnen aber gezeigt und, in der Tat, plötzlich welkten sie. Bald waren sie nur mehr Asche. Wir fanden uns um einen Sommer betrogen.

Als unsre schlechte Laune so weit gestiegen war, daß wir einander im Hause auswichen, traf ein Brief der Marchesa Capponi ein. Sie war in Venedig im Hotel du Globe, einem alten, vornehmen Haus ohne Komfort, aber mit berühmter Küche, das gewisse italienische Kreise bevorzugten, von reizenden Freundinnen und geistvollen Herren umgeben, worunter sich auch der dem jungen Claus bekannte Lord Berrick befand, und ihr Brief bestätigte die Meldung des »Figaro«: in Venedig lachte blauer Sommer.

»Venedig, geistvolle Herren und schöne Damen – nous serons en pleine Renaissance«, sagte meine gute Mutter, und zwar ganz ungewöhnlicherweise französisch.

Die Marchesa hatte uns, wie schon erwähnt, mit Bob und Maria besucht. Um bei Bob anzufangen, so hatte sich dieser mit dem Abbé Simon angefreundet, niemand wußte warum, denn man hörte sie nie ein Wort wechseln. Der Abbé saß über Papieren und Büchern, und Bob, Whisky und Sodawasser vor sich, schaute ihm zu. Sie unternahmen, ebenso schweigsam, weite Spaziergänge und Fahrten in die kleinen elsässischen Städte, von denen sie tief befriedigt heimkehrten.

»Ein gefallener Engel«, äußerte der Abbé gelegentlich über Bob, und Bob über den Abbé: »Ein geborener Kirchenfürst.«

Die Marchesa und meine Mutter dagegen schwatzten sich innig aneinander, man traf die eine nicht mehr ohne die andere. Die Marchesa bevorzugte die Wagenfahrten im frischen Wald, und jedesmal, wenn sie an der Rottanne vorbeikamen, an deren Wipfel ich mit dem Madonnenbildchen des Monsignore in der Brusttasche geschaukelt hatte, kamen sie auf die Kinder zu sprechen.

Bald nach meiner Rückkehr aus Venedig nämlich hatte ich es mit meiner aus den Dorfbuben gebildeten Räuberbande unternommen, ein angeblich auf dem Vorsprung eines mächtigen Felsgebildes verborgenes Falkennest auszuheben. Die Räuber hatten ihren Hauptmann an der Leine unseres Schäferhundes hinabgelassen.

Die Leine war gerissen, der abstürzende Hauptmann zu seinem Glück mit dem Gesäß auf den Vorsprung zu sitzen gekommen. Während die Räuber noch oben beratschlagten, ob sie im entlegenen Dorf eine Leiter holen oder noch besser ein paar Stricke von einem Heuwagen, entschloß ich mich, aus Furcht vor einer Aufdeckung des aus vielen Gründen verwerflichen Unternehmens, eine zwei Meter entfernte Tanne unter mir anzuspringen und auf diese Weise den Boden zu erreichen. Ich sprang und griff mit ausgestreckten Händen in den Wipfel der Tanne. Der Wipfel krachte hellauf, bog sich mit mir hin und her, einmal, zweimal, der ganze alte Baum, so schien es, erbebte. Mit den Händen ziellos nach ungewissen Stützpunkten tastend, ließ ich mich am Stamm hinunter, rutschend, fallend, von Ästen aufgefangen, von denen ich mich wieder in die Nähe des allmählich dicker werdenden Stammes hinschwang. Mit blutendem Gesicht, zerrissenen Händen, in zerfetzten Kleidern, vom Tumult eines frommen Siegergefühls erfüllt, so langte ich auf dem Waldgrund an.

Und da stand, zwei Schritte von mir entfernt, sehr bleich, der Abbé Simon. In der Hand hielt er ein zerknittertes Blatt, das mir voraus zu Boden geflattert war, und in dem ich, als er es mir wortlos vorwies, die Madonna in Papierspitzen wiedererkannte, die der fremde Monsignore mir im Schlafwagen als Andenken zurückgelassen hatte. Ich küßte die Madonna auf das zerknüllte Gesicht, der Abbé nahm mich an die Hand, führte mich zu einer nahen Quelle und begann, mir Gesicht und Hände zu waschen. Als die Räuber, die inzwischen auf einem Umweg herbeigeeilt waren, sich erstaunt und furchtsam näherten, vertrieb er sie mit drohend geschwungenem Stock. Das Madonnenbild aber, das mir das Leben gerettet hatte, kam in einen goldenen Rahmen. Es steht noch heute neben der Evangelientafel auf dem Altar unserer Kapelle.

Dieses Bildchen war eine der ersten Sehenswürdigkeiten, die meine Mutter der Marchesa bei ihrem sommerlichen Besuch in Breuschheim zeigte. Maria und ich fanden uns oft vor dem Bildchen in der Kapelle ein, um dort, Seite an Seite, zu beten. So kam es, daß der Anblick der Rottanne die Damen bei ihren Spazierfahrten im Wald immer wieder auf die gleichen Gedanken brachte. »Der arme Junge!« seufzte die Marchesa, »der gute Monsignore«, meine Mutter. »Wenn ich nur seine Unterschrift unter der frommen Widmung lesen könnte! Ich ließ sie im ganzen Straßburger Domkapitel herumzeigen, alles umsonst. Unterschreiben die Italiener alle so unleserlich?« »Vielleicht«, meinte die Marchesa, »tat er es absichtlich, aus Diskretion.« Die Damen kannten das Vermögen unsrer beiden Familien, deren Geschichte und die Verhältnisse der Verwandten. Sie beichteten und kommunizierten gemeinsam ...

Jetzt also hatte die Marchesa geschrieben und sich, nach den Worten meiner Mutter, als wahre Retterin in der Not erwiesen. »Madame! Claus! Ich bitte zu reisen!« drängte mein Vater, den die langen und wechselvollen Vorbereitungen beunruhigten. Alle Mädchen mußten helfen, und trotzdem dauerte es volle zwei Tage, bis die Mutter fertig war. »Ob du wohl auch Maria vorfindest?« äußerte sie, als sie schließlich auch noch das Packen meines Koffers überwachte. »Hoffentlich!« rief ich stolz, trotz aller Zweifel so stolz, daß ein sorgenvoller Ausdruck sich in Mutters Gesicht stahl. Ich umarmte sie, und auch hierbei übertrieb ich wohl, denn unwillkürlich hielt sie den Kopf ab. »Hast du Angst vor Maria?« neckte ich. »Nein«, sagte sie und ließ sich nun doch auf die Wange küssen. »Aber vielleicht tätet ihr gut, euch ein wenig voreinander zu fürchten.«

Es sollte scherzhaft klingen, ich lachte, und sie war lieb und lachte, wenn auch ein wenig nachdenklich, mit mir. Ich konnte mich nicht entsinnen daß wir, wenn wir beisammen waren, je einer ohne den andern gelacht hätten. So flohen wir, Mutter mit Zofe Annele, der Abbé und ich. Mein Vater selbst kutschierte uns im Jagdwagen nach Straßburg.

Ernst erwartete uns. Die weiße Primanermütze ein ganz klein wenig schief auf dem rechten Ohr, so, wie die Studenten der guten Korps sie trugen, die Handschuhe in der linken Hand, kam er mit eiligen Schritten auf uns zu, führte, nachdem unser Vater sich verabschiedet hatte, die Mutter an eine Stelle des Bahnsteigs, wo es nach seiner Behauptung nicht zog, und unterhielt uns mit erleuchtetem Wohlwollen, bis der Zug einlief. Seiner ganz klein wenig hochmütigen Freundlichkeit sollten wir absehn, er wisse es zu schätzen, daß niemand auch nur den Versuch gemacht hatte, den pflichteifrigen Oberprimaner zu einer derart frivolen Unternehmung zu überreden, wie eine »Lustreise« nach Venedig in voller Studierzeit sie darstellte. Er war noch immer der Junge, der sich, von der Schule heimkehrend, geweigert hatte, an einem Kinderfest teilzunehmen, und auf Mutters Frage, warum er nicht mit den andern spielen wolle, geantwortet hatte: »Null Fehler. Recht gut. Erster Platz.« Auch unterließ er es jetzt nicht, den Abbé scherzhaft zu ermahnen, mich in der »Ansichtskartenbude da unten« im Auge zubehalten, damit ich nicht »total verbummle«, wozu der Abbé, der diese Art Landsknechtsprache nicht schätzte, mit einem zerstreuten Kopfnicken hoch über die weiße Primanermütze hinweg lächelte.

Auch meine drei Freunde waren zum Abschied erschienen, zu meiner großen Verwunderung aber, wie sich herausstellte, mit gutem Grund. Von den dreien beachtete Ernst nur Arno von Steinberg, dessen Vater, der stiernackige Zeus, als Staatssekretär unter einem alten, liebenswürdigen Fürst-Statthalter, das Reichsland Elsaß-Lothringen zu regieren unternommen hatte. Der andre, François Kern, war eines namenlosen Bürgers Kind, Hubert Adam gar der Sohn eines Weinbauern. Ihn liebte ich am meisten, zeichnete er sich doch sowohl in der Philosophie als auch in der Dichtkunst aus, woraus er uns mit verschwenderischen Händen zu spenden wußte. Auch kannte er jedes Dorf im Land und die hintersten Wälder der Vogesen. Und schlau war er wie keiner, das zeigte sich auch jetzt.

»Du,« sagte Hubert Adam, »wir sind gekommen, weil wir im Streit liegen, wegen deiner Idee, weißt du. Ich meine, das Elsaß, natürlich mit dem unentbehrlichen Anhängsel Lothringen, müßte offen und ehrlich internationalisiert werden. Der Kern aber will davon nichts wissen, weil das, wie er behauptet, auf die Wiederherstellung des Kirchenstaates hinausliefe, weißt du, wegen unserer felderbeherrschenden Pfarrer –.« Francois Kern unterbrach ihn, indem er an die schöne, schwarze Halsschleife griff, die im Luftzug um sein gebräuntes Mädchengesicht flatterte, und mit weicher Stimme ausrief: »Natürlich, natürlich, freies Elsaßland, freies Pfaffenland, ich verlange mindestens das französische Protektorat. Und paar Regimenter Zuaven als Garnison.« Bei dem Wort Zuaven verabschiedete sich Arno Steinberg, der mit einem Ohr zugehört hatte, eilig von Ernst, um, auf den Absätzen herumschießend, »mit Verlaub dazwischen zu fahren«. Halblaut und eindringlich sprach er von der Schärfe des deutschen Schwertes, das jeder zu spüren bekäme, der an das deutsche Reichsland Hand anlegte, und drohte uns dreien, ganz einfach, mit Krieg. Dies für den Fall, daß wir es mit unsrer staatsfeindlichen Verschwörung weitertrieben, statt auf seinen eigenen Vorschlag von Elsaß-Lothringens Erhebung zur »Kaiserpfalz«, einem wunderbaren Luxusgebilde und persönlichem Besitz des jeweiligen deutschen Kaisers, einzugehn. Protest, heftigster Protest.

» Darum, erklärte Adam Hubert listig, » darum sind wir hergekommen. Claus soll dir in aller Form bekanntgeben, daß deine Kaiserpfalz ein für allemal abgelehnt ist.«

»Genug Kaiserpfalz, mehr als genug, was sind wir denn viel andres, als das, jetzt schon!« ereiferte sich François Kern und dabei drückte er mit schmeichelnder Hand die Lavallière an die Brust. »Allez, messieurs,« sagte ich – Arno belegte mich mit einem Lächeln wie mit einer Absolution die aber, auch das stand in seiner Miene, nur mir, mir allein galt – »so zwischen Tür und Angel Italiens läßt sich, das nicht recht bereden.« »Nein,« fiel Kern wieder ins Wort, »wir wollen auch nur die Kaiserpfalz endlich vom Programm absetzen.« Hubert Adam sagte nichts, er sah mich nur mit lustigem Augenzwinkern an.

»Ach,« warf ich hin, »das ist ja gar nicht Arnos Ernst. Er will uns ja nur aufziehn.« Da meldete sich Adam: »Gut. So ist von der Kaiserpfalz keine Rede mehr. Ehrenwort?«

»Ehrenwort«, sagten Kern und ich gleichzeitig. »Los Arno!« Ich nahm seine Hand, »schnell dein Ehrenwort, ich muß einsteigen. Kaiserpfalz und französisches Protektorat fallen gemeinsam – einverstanden?« »Ehrenwort«, murrte Arno. Sodann grüßten sie gemeinsam zu meiner Mutter hinüber und machten kehrt.

Als Ernst die Mutter im Abteil eingerichtet hatte, schob er mich auf den Gang hinaus und drückte mir ein kleines Paket in die Hand: »Steck das zu dir, Claus«, sagte er. »Ich denke, du bist alt genug, eine ernste Sache mit Ernst zu behandeln. Du wirst da unten Frau Hartmann kennen lernen und dich ihr von deiner scharmantesten Seite zeigen und ebenso ihrer Tochter, die du ebenfalls antreffen wirst da unten. Dieser übergibst du unter vier Augen das kleine Paket.« Er räusperte sich. »Übrigens kannst du deinem Freund, dem jungen Steinberg, nach deiner Rückkehr mitteilen, er habe zu warten, bis ich ihn verabschiede, wenn ich mit ihm spreche. Ich bitte dich darum. Danke.« Darauf zog er, was ich seine Grimasse nannte, nämlich er griff hastig zur Mütze und riß sie seitlich bis zur Schulterhöhe herunter, was mich bei einem so anmutigen Menschen als ein erstaunlich stilwidriges Kunststück jedesmal wieder aus der Fassung brachte. Unwillkürlich, ebenso automatisch kehrte ich ein Grinsen heraus, das wohl ein Reflex seiner krampfhaften Bewegung war, und das ihn veranlaßte, sich mit zusammengezogenen Brauen und unwilligen Mundwinkeln abzuwenden. Der Zug fuhr ab, ohne daß er mich eines weiteren Blickes gewürdigt hätte. Aber er grüßte auch nicht mehr mit der Mütze, sondern hob nur die Handschuhe, unter leisem Neigen des Oberkörpers bewegte er sie ein ganz klein wenig in der Luft, was recht hübsch war.

In Rheinweiler, das wir in sausendem Schwunge streiften, stand Donja, sie war von der Mutter benachrichtigt worden, hinter einem offenen Fenster des Schlößchens und winkte. Man sah nichts von ihr, als das weiße Tuch.

Wir aber, wir eilten zu den Sommerkleidern auf den Markusplatz, das weiße Tuch im finstern Fenster verwandelte sich in sie. Zu den brütenden Tauben ... Ich hörte Donjas schwirrendes Lachen, dann lag sie wie eine glückselig Sterbende im Hochzeitsboot ... In den Sommer.

Da flog ich in Gedanken bereits durch die blau und grün strahlende Poebene.

In mein Schlafabteil mußte ich mich indes wiederum mit jemand teilen, und zwar mit dem Abbé. Dafür durfte ich mich diesmal entkleiden, und von möglichen Entgleisungen, gegen die es gegolten hätte anzubeten, war nicht die Rede.


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