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Die letzten des Geschlechts

Langsam, zögernd sprach sich die Kunde von Napoleons Sturz im Land herum. Niemand freute sich. Zuviel Badener hatten, mit Recht oder Unrecht, für den Kaiser geglüht, er hatte ihnen einen schönen Staat geschaffen, sie hatten dafür bezahlt. Viele waren für ihn gestorben, darunter der General Breisach an der Spitze seiner alten Brigade. Zwischen Napoleon und Baden stand die Rechnung glatt. So nachsichtig sind die Völker für ihre großen Quälgeister.

Nein, niemand freute sich.

Kaum daß Ulrich Rheinweiler sich der vielen Besucher erwehren konnte, die von beiden Seiten des Rheines ankamen, um von ihm ein billiges Wort über den erlegten Jäger zu hören.

Es kamen aber auch andre. Nach einem Auftritt mit bourbonengläubigen Verwandten aus dem Elsaß, die mit Halaligeheul bei ihm eingebrochen waren, wie er gerade mit dem Bischof Breisach und einigen Freunden bei stiller, ernster Gedenkrede beisammen saß, hatte er sein Haus für immer geschlossen. In seinem Schmerz schrieb er das kleine, viel später berühmt gewordene Buch »In Memoriam«, über »Napoleon als Verwalter«. Er zog seine Kinder auf, deren er nun vierzehn besaß, und sie allein schon verhinderten, daß die Eltern vorzeitig alterten. Die Urgroßmutter bewahrte ihr Marquisenfigürchen bis ins Grab, und meine Mutter hörte ihr weiches, dunkles Mädchenlachen zum letztenmal, als Liesel eines Wintertags auf der Durchreise nach Paris in Breuschweiler vorsprach. Sie war fünfundsechzig Jahre alt und begleitete ihren Gatten in die französische Hauptstadt, wo er auf oft erneuerte Einladung der Akademie über sein Lieblingsthema lesen sollte. In Paris erkrankte sie an einem »bösen Fieber«. Ulrich reiste mit ihrem Sarg nach Rheinweiler zurück.

Er begrub Liesel nicht in der Kapelle, sondern im Park, den er darauf in jahrelanger Mühe ganz und gar umgestaltete. Aus hohen Bäumen, die in englischer Art geordnet sind, blickt ihr Grab über hängende Blumengärten und durch das Parkgitter auf den Rhein.

Er selbst wurde sehr alt, und er erlebte es noch, daß er unter seinen Standesgenossen »der Franzos« hieß, und daß Narren neben andern Verkehrtheiten zu erzählen wußten, er, der Baron von Rheinweiler, sei es gewesen, der Napoleon »nach Baden gerufen und damit alles Unheil verschuldet« habe. »Es konnte nicht fehlen«, dachte er in Erinnerung an das prophetische Wort, das er einmal zu Liesel gesprochen. Das Volk hielt ihm ruhig die Treue, wenn es ihn auch ein wenig überlebensgroß sah, wofür man vielleicht am meisten die aus der Hauptstadt wieder aufs Land verzogenen Köchinnen verantwortlich machen muß, die durch Kathrins Schule gegangen. Deren Stimme wollte nicht sterben, obwohl ihre Person längst vermodert war.

Von seinen Buben wurden nicht weniger als drei Kavalleristen. Er hat dieser lebendigen, in sein eigen Fleisch und Blut gekleideten Torheit mit friedlichem Lachen ins Gesicht gesehn. Ein vierter folgte als Bischof dem Breisach nach. Ein fünfter ging, wie er schon einmal als Kind heimlich bis nach Basel gelaufen war, als Jüngling nach Amerika und blieb über den Tod des Vaters hinaus verschollen. Er kam mit Frau und Kind und einem Haufen wilder Pferde und auch, wie es hieß, mit beträchtlichem Gelde zurück und kaufte rings um Rheinweiler so viel Land zusammen, bis es sich lohnte, das Gut zu Pferde abzureiten. Von ihm rührt auch das geraniumrote Dach des Schlößchens her. Er hieß ebenfalls Ulrich und war der Vater meiner Mutter.

Er hatte eine lustige, verwegene Art, erzog seine Mädchen auf dem Rücken der Pferde, als habe er sie zu Zirkusreiterinnen ausersehn, und sperrte die Knaben in katholische Internate, gespannt, ob sie von dort durchbrennen würden oder nicht. Im Ablauf des Jahres rutschten alle Bauern Rheinweilers einmal zu ihm zu Tisch, er saß auch mit ihnen im Wirtshaus und versuchte ihnen zu erklären, was ein Cowboy und was ein Farmer sei. In einen von beiden hätte er am liebsten alle ihm erreichbaren Menschen, wenigstens äußerlich, verwandelt.

Die meisten Winter, gleich nach Weihnachten, brach er, »um sich auszulüften«, nach Amerika auf, kam aber immer nur bis Rom, Paris oder London, je nachdem, welchen Weg er für seine Amerikareise gewählt.

Von seinen oberrheinischen Standesgenossen hat er, mit Ausnahme der nächsten Verwandten, sein Lebtag keinen einzigen wissentlich zu Gesicht bekommen, und er leugnete zu wissen, was ein Großherzog, was Würdenträger und überhaupt, was ein »Hof« sei. Sooft jemand die Rede darauf brachte, rief er in echter Verzweiflung: »What is it?«, Worte, aus denen die Bauern eine Art Beschwörungsformel heraushörten. Sie hielten dann ehrfürchtig an sich, wie man vor einem unverständlichen, aber zweifellos traurigen Familiengeheimnis mit dem Hut in der Hand stillsteht, und warteten, bis Großvater das Schweigen brach.

Dies war nun der »Amerikaner« der Familie, der Sohn Ulrici Rheinweilerii, und als er starb, hielten sich die Pappeln, die sein Vater nach Rheinweiler hineingepflanzt hatte, sicher schon recht gut. Jetzt aber sind sie gewaltige Kerle geworden, die um das geranienrote Schlößchen herumstehn und immer weniger Lust zeigen, in Reih' und Glied zu den andern zurückzutreten, die ihren nicht minder feierlichen, aber zweifellos eintönigeren Dienst beim Rhein versehn.

Die Männer des Geschlechtes sind tot. Tante Sidonia sorgt dafür, daß das Wappen über dem Haustor in gutem Zustand bleibt. Alles andre beginnt langsam zu verfallen. Sie wiederum führt den Spitznamen: »Die Russin«. Warum? Sie hat einen Teil ihrer Mädchenzeit in Rußland verbracht. Aber ich weiß eine tiefere Bedeutung ...

Sie ist unverheiratet, und ihr vordem schönes Gesicht hat ein wildes Gebet versengt und verwüstet. Ihre Jugendbildnisse schauen sie an wie frohe, schuldlose Geschwister, die sie an den Teufel verraten hat. Zu ihrer stündlichen Strafe beläßt sie sie an den Wänden ihres Zimmers. Es ist das Zimmer, wo eines Nachts Ulricus aufwachte und die elsässischen Rekruten auf der Schiffsbrücke singen hörte: »Gottvater hat einen Sohn, und der heißt Napoleon« und sich sagte: »Ein kleiner Makkaronioberst Gottes Sohn? Warum nicht!«, von Herzen lachte und im Weiterschlafen noch fühlte, wie er die Schwelle eines lichten Traums betrat.

Um diese Schwelle kämpft Sidonia nun schon ein halbes Menschenleben lang vergeblich. Einmal war sie im Begriff, sie zu überschreiten, da stürzte ein Mensch mit durchschossenem Kopf darüber hin, und dort liegt er, und sie bekommt und bekommt ihn nicht fort, ihr verzweifeltes Gebet ist nicht stark genug, ihn aufzuheben ... Sie ist durch das Fegefeuer gegangen, soweit sie konnte, sie hat die Welt in Flammen gesehn und sich hineingestürzt, so tief es ging, und aller Schmerz hat sie nicht zu entsühnen vermocht. In einem Zimmer des Hotels Danieli zu Venedig liegt er vor ihren Füßen, sie flieht noch immer vor dem Anblick, aber sie muß an ihm vorbei, es gibt keinen andern Weg ins Freie, niemand will ihn aus dem Wege räumen, immer mehr schwindet ihr die Kraft, bald wird sie sterben, sie kommt nicht hinaus, kommt nicht zu Gott...

Auch ich habe ihn liegen sehn, den schönen Russen, ich war vierzehn Jahre alt, im Gange des Hotels wartete Maria Capponi, daß ich aus dem schrecklichen Zimmer herauskäme. Sie war ein Jahr jünger als ich, und tags darauf tauschten wir unsern ersten Kuß.

Wie viele sind dieser ersten Liebkosung in unserer zwanzigjährigen Freundschaft gefolgt und von wie verschiedener Art! Lieben wir einander? Haben wir – nicht uns, sondern einander je geliebt? Oder nicht vielmehr nur unsern Sinnen, unserm Geschmack, unsrer Phantasie mit Kunst geschmeichelt und uns, ach ja, uns sehr geliebt?

So viel weiß ich: enthielte unsre Liebe von der Inbrunst meiner armen Tante auch nur den hundertsten Teil – wir würden wahnsinnig, gingen miteinander in den Tod, nein, wir ertrügen es nicht!


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