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Ulricus

Man sieht wie durch ein Fernrohr, es wird regnen.

Das Dach des Rheinweilener Schlößchens blüht geranienrot im langgestreckten Garten der andern Dächer, darin einzelne Pappeln die Wege anzeigen, die Wege für Mensch und Tier, und zwei lange Reihen von ihnen den Rhein, an dem, bis zum Meere, Gottes Mühlen stehn.

Es war Hochmut der kleinen Rheinweilener Barone, bewußter Hochmut, daß sie dieselben Pappeln, die Napoleon den Rhein entlangpflanzen ließ, hernahmen und neben die Misthaufen ihres Dorfes setzten, als wäre für sie seines strömenden Weges hier ein Ende, als sollte seiner langatmigen Geschichte von ihnen das Schlußwort gesprochen sein. Das Wappen der Reichsfreiherren von Rheinweiler war viel älter als dieser gärtnerische Einfall meines Urgroßvaters, welcher Einfall aber im Wappenspruch selbst seine Rechtfertigung fand, der lautete: »Nicht weiter.« Das gleiche besagte das Gatter im Schild, durch das der Vollmond blickte.

Mein Urgroßvater war Revolutionär aus Vernunft gewesen und wurde infolgedessen ein Anhänger Napoleons. Er setzte sich seinerseits in die Geschichte, indem er den badischen Staat gründen half. Napoleon, der einmal im Schlößchen übernachtete, erhob ihn beim Morgenkaffee in den Grafenstand.

Urgroßvater sah sprachlos zu, wie der Kaiser ein Dutzend Milchwecken schlang und dazu, in einer Minute, die Kaffeekanne leerte. Er fand keine Zeit zu antworten.

»Schade, daß Sie nicht Soldat sind«, sprach der Kaiser, da stand er aber schon unter der Tür. »Vous auriez gagné une bataille et je vous aurais fait prince.«

Am Fuß der Treppe wartete ein Trupp schöner, glänzender, funkelnder Männer, frisch wie Indianer, blitzende Pferde hinter sich, die den Kaiser anwieherten, während ihre Herren salutierten und mit eins alle Kirchenglocken zu beiden Seiten des Stroms das Angelus läuteten, als sei der Herr selber aus der Nacht getreten.

»Ein schöner Tag, Sire,« sagte Ulricus Rheinweiler. »Schöne Pferde«, fügte er hinzu.

Die Rheinstraße durch das Dorf hinunter zog Artillerie, blitzblank Mann, Fuhre und Roß. Sie zog hinter dem Schloßgitter vorbei, hell, breit, unaufhaltsam wie, auf der Rückseite, der Rhein.

»Schöne Kanonen«, schloß Ulricus.

Da wandte sich der Kaiser und reichte ihm zum Abschied die Hand. Sein Blick fiel auf das Wappen über der Tür: »Nec ultra«.

Er sperrte den Mund auf: »Ah!« lächelte er mit dem Gesicht eines italienischen Gassenbuben. »Warum nicht?« fragte er. »Wir leben doch! Heißt nicht leben – fortschreiten?«

Mein Urgroßvater erzählte:

»Ang'schaut hat er mich wie e Rekrut, von obe bis unte und besondersch in der Bruschtweit'...«

Der Kaiser saß im Sattel. Die glänzende, funkelnde Meute von Menschenjägern hinter ihm. Alle Gottseibeiuns im Sattel. Die Generale hinter den Marschällen. Die Adjutanten hinter den Generalen. Die Burschen hinter den Adjutanten. Jetzt trabten Dragoner auf der Straße, ihre Helme vergoldeten hastig das Parkgitter. Ein Offizier sprengte durch das offene Tor davon.

Die Glocken schwiegen, und die Armee stand still.

»Na, sagt er, so rede Sie mit Ihrem Großherzog ... Und beim Wegreite guckt er noch mal aufs Wappe... Bis nach Mittag hat's weiter gemacht uf der Straß, Kavallerie und Infanterie und Schenie, und alles sauber wie am Sonntag morge...«

In der Nacht gab es Lärm. Elsässische Rekruten rückten im Eilmarsch über die Schiffbrücke. Sie sangen:

»Gottvater hat einen Sohn,
Und der heißt Napoleon ...«

Das Fenster des Schlafzimmers stand offen. Der volle Mond schien herein.

»Hörsch«, flüsterte Ulricus, und er hob seine Frau hoch und bog ihr Gesicht in den Mondschein:

»Hörsch, Liesel? Hörsch?«

»Gottvater hat einen Sohn,
Und der heißt Napoleon ...«

»Eine Schande!« murmelte sie, »Deutsch singen sie ... Deutsche! ... auf Napoleon.«

Sie verstand nichts von Weltgeschichte.

Er aber, der alte Humanist, der seinen Namen immer lateinisch schrieb, jedoch Katholik in einer protestantischen Enklave, er jubelte über das Aussingen eines Mysteriums, vor dem der preußisch gesinnte Pastor sich unter die Bettdecke verkroch, weil das Wunder auf Lafetten fuhr.

»Warum nicht?« rief er und stützte sich im Bett auf, bis er das Glitzern der Bajonette sah, und wie sie das ebenfalls entzündete Parkgitter mitnehmen wollten auf die Wanderschaft. Er streichelte das vom Mond entsetzte Gesicht seiner Frau. »Schlaf, Liesel, schlaf.« Und legte es sanft in die Kissen zurück.

Während er wieder einschlief, erschien es ihm immer deutlicher als recht und natürlich, daß in Zeiten der Erneuerung wie dieser, wo das Wunderbare auf allen Straßen des Erdteils herumlief, kein großes Geheimnis sich klein genug machen könne, um den verwirrten Menschen wenigstens eine Ahnung vom Sinn des Geschehens zu vermitteln ... wie damals ... vor langer Zeit in jenem fernen Land ... und später... Wie immer, wenn der Herrgott den Menschen wieder einmal einen Ruck gab!

Der kleine Makkaronioberst Gottes Sohn? Warum nicht! Ulrico lachte das Herz, und er fühlte noch, wie er die Schwelle eines großen, lichten Traums betrat.

Paar Tage darauf fuhr das Ehepaar vierspännig in die Stadt. Erst aber stellten sich die Kinder, die die Eltern nicht abreisen lassen wollten, wie der Wagen heranfuhr, alle acht mitten in die Durchfahrt, und nur der Kleinste schrie, der Zweijährige, den die vierjährige Annette, meine Großmutter, an der Hand hielt. Ulricus mußte Hals über Kopf zwischen den Kutscher und den Diener auf den Bock springen und ihnen helfen, die Zügel der scheuenden Pferde zu halten, und gleich mit einem zweiten Sprung in den Wagen zurück, wo Liesel drauf und dran war, sich wie aus einem brennenden Haus auf das Pflaster zu stürzen. Mit Hilfe vorbeigehender Bauern, die der Verwalter dazu antrieb, die aber erst eingriffen, als sie Ulricum selbst brüllen hörten: »Weg mit den Kindern!«, wurden diese eingefangen, und die Kutsche konnte passieren.

Ulricus zog den Galadegen, um den Kindern zu drohen, die, von den Bauern freigelassen, nunmehr hinter dem Wagen herrannten. Mit der andern Hand und einem Knie hielt er seine Frau fest, denn sie rang wider ihn und rief schluchzend: »Laß mich hier! Laß mich bei den Kindern! Ich will nicht zu Napoleon!«

Die Kinder, die ihren Sieg über die Mutter erkannt hatten, liefen, was sie konnten, um sie, die gleich aus dem Wagen stiege oder fiele, in Empfang zu nehmen. Wenn sie sich schließlich dennoch in ihrer Erwartung getäuscht sahen, so lag das nicht an einer falschen Rechnung von ihnen, sondern einzig und allein daran, daß die Pferde durchgegangen waren.

Vom Wagen war nichts mehr zu sehen als eine Staubwolke, da sammelten sich die acht Kinder langsam auf der Mitte der Straße. Die ältesten kamen, außer Atem, zu den mittleren zurück, die hilflos bald nach vorn, bald zurückblickten, wo Annette mit dem Kleinsten auf dem Hintern saß. »Papa ist schuld«, greinte Annette und putzte dem Büble die Nase.

»Nein,« stellte der Alteste fest, er war aber auch schon zwölf Jahre alt, »nein, die Pferde.

Plötzlich fanden sie sich alle befriedigt. »Die Pferde sind schuld«, rief Annette den beiden Kindermädchen entgegen, die nun auch eintrafen. »Die Ferde sin dudange«, lachte das Büble, und alle lachten mit.

Unterdessen hatte Ulricus alle Mühe, den Galadegen wieder in die Scheide zu bringen. Als es ihm endlich gelungen war, nahm er Liesels Kopf in den Arm, sagte, ohne selbst zu wissen, wen er damit meinte, die Pferde oder die Kinder: »Laß sie laufen!« und küßte mit kleinen zarten Küssen ihr verweintes Gesicht ab, bis endlich, endlich der Sonnenaufgang auf dem kleinen Naturtheater gelang und Liesel lächelte.

»Wenn wir in die Stadt kommen, ist der Napoleon schon längst wieder fort.«

Er flüsterte es ihr ins Ohr, als wäre das von ihm eine ungemein zärtliche Liebeserklärung. Die Pferde waren in Trab, dann in Schritt gefallen. Ulricus reichte Liesel kleine Batisttücher aus ihrem Beutel, einen Spiegel und Kölnisches Wasser und Puder, zupfte ihr Kleid zurecht, strich und bügelte, bis sie sagte: »So, jetzt bin ich wieder schön« und sich nun ihrem Gatten zuwandte und ihn unter Scherzen schnell so herrlich herrichtete, wie er bei der Abfahrt gar nicht gewesen war.

Darauf saßen sie aufrecht nebeneinander wie auf einem doppelten Thron, genossen des goldenen Tages, der zwischen Schwarzwald und Vogesen in der blauen Luft hing, und gaben in den Ortschaften acht, daß sie keinen Gruß übersahen.

Sie stiegen in ihrem kleinen Stadthaus ab, das fast das ganze Jahr allein von einer alten, halbblinden Köchin bewohnt war. Ulrichs verstorbene Mutter hatte ihr, mit einer kleinen Leibrente, das Wohnrecht im Dachgeschoß vermacht, und es herrschte dort, auch außerhalb der wenigen Wochen, wo Mitglieder der Familie sozusagen bei Kathrin zu Gast waren, ein abwechslungsreiches, geselliges Leben. Denn diese empfing nicht nur ihre persönlichen Freundinnen, sondern auch ältere Köchinnen der Stadt, soweit sie in herrschaftlichen Häusern dienten und Kathrins gesellschaftlich bevorzugte Stellung anerkannten. Allerdings, für die Zeit, wo die Herrschaft bei ihr wohnte, blieben ihre Salons geschlossen, aber nur aus dem Grund, weil sie durch die Führung des Regiments im Haus vollauf in Anspruch genommen war.

Kathrin begrüßte das Ehepaar in der Mitte ihrer Küche mit einem Hofknicks, worauf sie Liesel die Hand küßte und, Ulrich mit ihren Blicken festhaltend, ungeduldig wartete, bis Madame die Küche verließ. Kaum hatte sich hinter Liesel die Tür geschlossen, da griff sie Ulrich mit beiden Händen in die Haare und zog ihn in ihre Arme, die sich alsbald gewaltig um ihn legten, und eine Minute lang ergoß sich aus Höhen der Verzückung ein Gewitter auf den armen Baron, der sich dessen heute viel weniger zu erwehren wußte wie vor dreißig Jahren, obwohl ihm mit jedem Jahr mehr vor dieser Minute bangte. Entzog ihm doch jedes Jahr ein Stück mehr von der Waffe des Kindes, jenes »Sesam öffne dich«, das darin bestand, daß er Kathrin schnell ins Ohr oder in die Nase biß und aus dem berstenden Turm entfloh. Kathrin aber war mit jedem Jahr mehr überzeugt, es spreche in dieser Verzückung die Stimme der toten Mutter zu ihrem Sohn, um ihn, über die Befriedigung einer erlaubten Zärtlichkeit hinaus, auch noch mit den Ermahnungen und Erquickungen der heiligen Kirche zu versehn.

»Du Erzengele, du Heiligebildle« – sie sagte volkstümlich: Helje – »Jetzt hasch au no de badische Staat gegründet! Gott lohn es dir, Büble! Und der Napoleon hat bei euch g'schlofe, und er hat dich zum Fürscht mache wolle, und du hasch nur auf unser Wappe gezeigt, wo steht: ›mir han genug‹, und er hat sich g'schämt, der groß Kaiser, g'schämt hat er sich vor meim Büble und hat nix g'sagt, als, er war grad so gern e Rheinweiler und so en alter kaiserlicher Baron, grad so gern, hat er g'sagt, und noch lieber, als nur so e frisch ausstaffierter Kaiser. Da hat der Papscht selber gelacht, wie sie's ihm hintertrage habe, und die selig Mutter im Himmel, du mein Herzensschätzle. Die ganze Stadt isch voll von dir...

Sie schrie, daß die kupfernen Kochtöpfe an den Wänden hinterher brummten, denn weil sie blind war, hielt sie die andern für taub.

Endlich öffnete sie die Arme, stieß ihn fast von sich:

»Lauf, du Kardinalsbub, lauf naus und hör', was sie von dir sage!

Im Gang hörte er sie noch hinter ihm herschreien:

»Daß du mir aber demütig bleibsch vor dem Herrn!«

Am Abend hielt Ulricus mit Liesel seinen Einzug in die Gesellschaft. Man empfing ihn derart, daß er scherzhaft ausrief:

»Aber, aber, meine Herren, ich ziehe hier doch nicht durchs Brandenburger Tor ein.«

Als aber ein Esel im Laufe des Abends so weit ging, Ulrichs Genie über das Napoleons zu stellen, hob jener, um nicht die allgemeine Munterkeit sowie die eigene durch eine entsprechende Antwort auf die grobe Schmeichelei zu stören, das Gespräch vielmehr endlich von sich abzulenken, bedeutungsvoll den Finger in die Höhe und sprach feierlichen Tones in die Stille:

»Gottvater hat einen Sohn,
Und der heißt Napoleon.«

Und damit begann das Ende seines politischen Glücks.

Ein Bischof erhob sich und verließ den Saal. Drei, vier Herren versuchten zu lachen, aber die Damen blickten auf die offene Tür, worin der Mann Gottes verschwunden war, was immerhin zur Folge hatte, daß niemand ihm nachfolgte. Einige gingen, mit abfälligen Rücken, beiseite, ja, es bildeten sich sogar Gruppen solcher Rücken, und die andern, es war dies die Mehrzahl, sahn einander und Ulrich fragend an. Dessen Blick aber kam auch nicht schnell genug von jener Tür los, denn daß ein Bischof gerade vor einem Rheinweiler ausrückte, gleichsam der Kirchturm aus dem Dorf, erschien ihm als eine unfaßliche Tollheit.

»Das war eine verkleidete Betschwester«, sagte er schließlich. »Ein Mann der Kirche kann nicht so dumm sein.«

Der Rücken eines Kavaliers in französischer Generalsuniform drehte sich um, es war der Graf Breisach, der höflich erwiderte:

»Pardon, lieber Baron, es war dein Vetter – mein Bruder.

Da ging Ulricus mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und, lachend:

»Ich ahnte es wohl. Aber ich hätte Rom gegen Altbreisach gewettet, daß ich mich täuschte. Von tausend Scherzen war dieser Gottessohn der erste, den wir in der Verwandtschaft mißverstehn. Er hat es halt in sich, der Napoleon. Sein Name ist Streit.«

»Übrigens«, wandte er sich an die Damen, »es ist gar kein Scherz, sondern der Kehrreim eines Soldatenliedes, das ich vor einigen Tagen auf der Rheinweilener Schiffbrücke gehört habe.«

Breisach klatschte unhörbar in die Hände:

»Bravo! Gut! Gut! Erzähle!«

Und um zu zeigen, mit wieviel Behagen er sich die zu erwartende Lügengeschichte anzuhören gedenke, ließ er sich mit leicht gebreiteten Armen langsam in einen Sessel nieder...

Nun befand sich in der ganzen Gesellschaft, meinen Großvater eingeschlossen, niemand, der Napoleon so hitzig verehrt hätte wie gerade der Graf Breisach, übrigens mit besonderm Grund, hatte er doch als Führer einer Kavalleriebrigade unter dem Befehl des Kaisers gefochten. Auch trug er heute abend die große Uniform. Aber gerade daher rührte der Gegensatz zwischen ihm und meinem Urgroßvater: Breisach feierte in Napoleon den größten Soldaten aller Zeiten, Rheinweiler dagegen das erste Verwaltungsgenie, das die Welt seit den Cäsaren gesehn

Breisach erklärte meinem Urgroßvater stundenlang Napoleons Schlachten, wobei er behauptete und bewies, daß der Kaiser sich der Artillerie nur als einer Nebenwaffe zur Unterstützung der Kavallerie bediene. Mein Urgroßvater machte Breisach die Verwaltungsreformen klar, die Europa erst wieder auf den Stand der Organisation gehoben und natürlich, der Zeit gemäß, darüber hinaus, bei dem die großen Römer es verlassen.

Sie stritten. Sie bildeten Parteien.

Breisach liebte seine engere Heimat die fünf Wochen im Jahr, die er auf seinem Gut verbrachte, und wenn er in Pariser Salons vom Schwarzwald erzählte. Das ganze Jahr aber liebte er die Kavallerie. Was konnte er vom neuen badischen Staat viel Gutes für sie erwarten? Wenn ihn einmal nicht gerade Paris blendete, so blickte er nach Berlin, der Heimat des nächstbesten Kavalleristen, dem er leider gewisse Schwächen vorwerfen mußte, die man an Napoleon vergeblich gesucht hätte, wie Hang zum Flöteblasen und zur Literatur: »die Totengräber seines Genies«. Wenn nach der napoleonischen noch einmal eine große Armee aus dem Boden wachsen sollte, dann vermutlich dort oben.

»Wo«, fuhr mein Urgroßvater fort, »auch die guten Kartoffeln gedeihn, während bei uns nur der Wein fortkommt.

Ulricus hatte die Proklamation der Menschenrechte in eigener Übertragung am Schloßtor Rheinweilers angeschlagen und seine Bauern mit den Reden Mirabeaus und Dantons bekanntgemacht als den neuen Evangelien oder richtiger: deren Exegese – nicht aber, ohne den katholischen Teil der Rheinweilerer Christenheit darauf hinzuweisen, das Verhältnis zwischen der Revolution und der römischen Kirche wäre noch nicht abgeklärt und man ließe deshalb diesen Dingen am besten ihren Lauf, abwartend, wie und wann der Nachfolger des Menschenfischers seinen Fischzug täte... Der Tag konnte nicht fehlen! Als der erste Führer stürzte, verstand er sofort, daß die andern folgen würden, und bereitete Liesel schlaflose Nächte mit seinem Haß auf Robespierre. Und alle die geliebten Köpfe fielen, Danton, Desmoulins, Westermann, einer nach dem andern! Der Frühling der Welt ersoff in Blut! Wildgewordene Schulfüchse regierten an Stelle der geborenen Herren. Regierten? Sie rächten sich. Das Tintenfaß speiste die Guillotine, der Bakel führte Krieg. Schon hatten sie die Göttin der »Vernunft für Spießer« aus dem Bordell geholt, wohin sie von je gehörte, wo sie zu Hause und an ihrem Platze war, und suchten nach einem Felsen Petri für sie, die naseweisen Kinder, denen die Kommunion zu albern war, und ließen neue Liturgien für sie dichten und Symbole malen, gottesjämmerliche Plagiate der alten, nur schlecht geschrieben und, was die Malerei anlangte, vom Modell in Gips genommen. Schulfüchse, die sich für gottähnlich hielten, weil sie über die Bajonette und Kanonen im Land geboten und jeden umbringen konnten, der widersprach oder auch nur einfach den Mund hielt!

Von alledem begriff Breisach wenig. Um so lebhafter stimmte er bei, wenn sein Vetter das Auftreten Bonapartes mit den Worten schilderte: »Er war schon lange da und lauerte, er sah wenig, aber er wagte, er siegte, der Frechdachs, und schau mal an, es war ein junger Mann mit Geschäftsblick.«

Doch ließ das letzte Wort ihre Diskussion von neuem aufflammen. Breisach haute auf den Tisch: »Kavallerie! Kavallerie!! Was soll da der Geschäftsblick?! Was machst du mit dem Geschäftsblick ohne Kavallerie?«

»Ich hole,« antwortete mein Urgroßvater, »ich hole Kanonen.«

»Hilfswaffe!« brüllte Breisach, außer sich.

»Richtig«, fuhr mein Urgroßvater fort, »kam dann das Konkordat. Er ließ sich, per procura, vom Papste krönen. Es war also dennoch Sommer geworden, ein Sommer, von Gott gesegnet. Meine Bauern freuten sich und ich auch.«

»Ja«, stimmte Breisach zu. »Die überschätztesten Generäle der Welt sind Rapp und Murat. Rapp gäbe wenigstens einen passablen Veterinär ab. Aber Murat ist nur ein Pferdedieb.«

»Nur?«

»Nur!«

»Es muß ein schlechtes Geschäft sein, wenn einer nicht Kenner ist.«

»Glänzend! Sie bringen es, sie bringen es ... fast bis zum Kaiser.«

Mein Urgroßvater erhob sich und nahm einen Leuchter vom Kamin.

»Und die Kenner?«

»Die Kenner kriegen nie mehr als eine Brigade.«

»Gute Nacht, Vetter,« nickte Ulricus, »wenn du erlaubst, geleite ich dich in dein Zimmer.«

So ungefähr pflegte das obligate Gespräch der Vettern über Napoleon seit Jahr und Tag zu verlaufen. Zuletzt war jedoch eine Verschärfung des Gegensatzes eingetreten. Als Breisach seinen Abschied genommen und sich »vorläufig« auf sein Alt-Breisacher Gut »zurückgezogen« hatte, sahen die beiden einander öfter, zumal Breisach, sein Exil auf den Buckel nehmend, von einem Verwandten zum andern im Lande herumzog und jeden Monat etwa in Rheinweiler vorkam. Bald warfen sie einander vor, Napoleon zu vergöttern, »als ob ein genialer Kavallerist nicht Manns genug wäre!«, trotzte der eine, der andre: »als ob ein Mann, der einen Erdteil erneuert hat, ein Schulfuchser wäre!«, und schließlich schieden die beiden voneinander wie von einer Krankheit. Ulrich blieb in Rheinweiler, diesem Mittelpunkt der Welt, mit einem Garten darum: dem neuen badischen Staat, und arbeitete an einem Kommentar zum Code Napoleon, der im Großherzogtum Baden eingeführt werden sollte. Inzwischen trug Breisach ihre Auseinandersetzung im Lande herum, wobei er den Part seines Vetters, wie man denken kann, mit weniger Überzeugungskraft vortrug als seine eigene Rolle.

So war es dazu gekommen, daß ihr letztes Beisammensein vor dem heutigen Abend ein beinahe feindliches Ende genommen hatte. War doch Ulrico beim Abschied »als sein letztes Wort entfahren, ein Soldat sei überhaupt kein Mensch, sondern eine Funktion, und überdies habe von allen Waffengattungen die Kavallerie die geringste Zukunft. Vom zornbebenden Vetter um die Angabe näherer Gründe ersucht, hatte Ulrich den Kopf geschüttelt und auf dem Weg zum draußen wartenden Reisewagen nur hinzugefügt:

»Was könnten meine Gründe dir bedeuten! Man braucht dich nur einmal in deiner schönen Uniform gesehen zu haben – die ist ein Grund, gegen den ich mit allen den meinen nicht aufkomme, nicht nur bei den Damen.«

Da hatte Breisach allen Ernstes gedroht, so lange nicht wiederzukehren, bis nicht der Vetter die ungeheuerliche Beleidigung einer ganzen Waffengattung (von seiner Person sah er dabei ab) in einem Rundschreiben an sämtliche Verwandten zurückgenommen.

Und nun saß er da, der schöne General, im glänzenden, duftenden Saal, gerade unter dem Kronleuchter, in der Mitte aufgeregter Damen, die nun nicht mehr nach der Tür, sondern alle auf ihn blickten, wie er mit großartiger Arroganz den Rheinweiler auf die Bühne stellte.

Er beugte sich ein wenig vor und legte die Hand ans Ohr...

Ulricus begann: »Mein geliebter Vetter glaubt nur an das Gesetz des Kavalleriesäbels, mir scheint eines für die Richter besser ...«, und trug, bei dieser ersten und vielleicht nie wiederkehrenden Gelegenheit, den allbekannten, aber bisher immer nur vom Gegner plädierten Prozeß mit dem Vetter vor, in guter Laune und also witzig genug, daß schon beim zehnten Satz nicht mehr er, sondern der Breisach auf der Bühne stand und alle Bewegungen und Sprünge machen mußte, wie der Vetter die Schnüre zog. Liesel, die eben noch vor Scham einer Ohnmacht nahe gewesen, verliebte sich auf einmal wieder und diesmal vor lauter Stolz in ihren Mann, ja, sie vergaß sich völlig und klatschte mit den andern Beifall und rief sogar einmal, als Ulrich dem militärischen Genie Napoleons ehrerbietigst zu Leibe rückte: »Bravo!«

»Recht hast du, Liesel!« fielen da ihre Freundinnen ein, »brav so, Liesel!« und die klatschenden Herren, auf das hingerissene Gesicht mit den großen, nassen Augen aufmerksam gemacht, wandten sich weiterhin klatschend, aber gedämpfter jetzt und in huldigender Haltung zu Liesel, die erschrocken aufsprang und zehnmal so schnell zur Tür hinauslief, wie der Bischof sie durchschritten hatte. So war ein Loch mit einem andern gestopft, und Ulrich verließ den Saal als der »beste Mann im Badener Land«.

»Aber, aber,« wehrte er spöttisch, als die Herren ihn bis zur Treppe geleiteten, »ich ziehe doch nicht durchs Brandenburger Tor ab.«

Auf der Mitte der Treppe drehte er sich um und winkte zurück:

»Messieurs, ich hoffe Ihnen allen eine Freude zu bereiten, wenn ich Ihnen verspreche: ich komme wieder!«

Zu Liesel in den Wagen steigend, sagte er indessen:

»Nein, ich bin sie leid. Wir präsentieren uns morgen der Herrschaft und trotten übermorgen heim. Der badische Staat steht auf eigenen Füßen, er braucht mich nicht mehr, er braucht nicht einmal mehr den Napoleon. Und, Liesel, wenn der Kaiser stürzt (und natürlich stürzt er eines Tages, denn vorher gibt er keine Ruhe, der Engländer übrigens auch nicht), so bin ich's gewesen, der ihn den Badenern aufgehalst hat... Am besten, wir bleiben gleich daheim! Aus Rheinweiler vertreibt uns keiner. Einsam –«

Liesel lachte ihr dunkles Mädchenlachen:

»Einsam? Wir haben acht Kinder!«

»Richtig, Liesel! Wenn der Kommentar fertig ist, beteilige ich mich am Geschäft unseres Schulfuchsers. Ich erziehe meine Kinder. Sonst, wenn ich nicht aufpasse, wird mir das eine oder andre gar noch Kavallerist...«

Am folgenden Morgen fuhr das Ehepaar, von Posaunenstößen geweckt, aus dem Schlaf. Es war Kathrin, die erst leise die Fensterläden geöffnet, dann aber losgeschrien hatte:

»Bübel, was hasch ang'stellt?! Blamiert hasch dich vor Welt und Kirche. Den hochwürdigen Herrn Bischof und Grafen von Breisach hasch mit deine Blaschfemien aus dem Saal g'jagt. Hab ich dir's nit g'sagt: daß du mir demütig bleibsch vor dem Herrn?!«

»Du lieber Himmel!« stöhnte Ulrich, während er sich die Augen rieb.

»Herum isch mit dem Himmel«, antwortete die Posaune. »Jetzt könnt Ihr in der Hölle braten – wenn ich euch nit herauszieh'.«

»Kathrin,« sagte Ulrich leise, »Kathrin, meine Frau weint, weil du so schreist.«

Sie taumelte wie vom Schlag getroffen. »Oh!« entrang es sich ihrer Brust. Sie schlug die Hände vor den offenen Mund, nickte heftig, tastete sich rückwärts aus dem Zimmer.

 

Jedoch der Reisewagen mit den Rheinweilern rollte noch auf der Basler Landstraße, da hatte Kathrin bereits ihre Salons geöffnet. Die drei Zimmer des Dachgeschosses waren überfüllt. Der Tee dampfte aus chinesischen Schalen, wie sie manche der eingeladenen Damen noch bei keiner Herrschaft gesehn hatte. Große Teller mit Selbstgebackenem machten die Runde. Kathrin schritt von Zimmer zu Zimmer, wies auf die Konfitürgläser und schrie: »A Dischkretion!«

Sie wollte sehn, wer stärker sei: der ehrwürdige Herr Bischof und Graf von Breisach oder sie. Die großherzogliche Herrschaft hatte sich zwar außerordentlich gnädig gezeigt, und die Kavaliere hatten gekuscht...

»Gekuscht,« erklärte Kathrin, »wie die Hundel vor dem Löb.« In der Tat fand sich niemand, Ulrich zu verteidigen, denn keiner griff ihn an. Kathrin erfuhr am gleichen Tag und noch bevor das Ehepaar zu Hof gefahren, daß die Breisach die Parole ausgegeben hatten: »Kein Wort mehr von ihm. Ein toter Mann, begraben in Rheinweiler. Amen.

Soso? Nun, um so lauter sprach Kathrin »von ihm«. Vor dieser Stimme konnte kein gutes Haus der Hauptstadt sich verschließen, sie tönte und stieg bis zum Thron. Es war die Stimme des Volkes in Person. Laut und unermüdlich, zwang sie auf die Dauer jeden Gegner nieder, drückte ihn an die Wand, blies ihn in den Weltenraum. Kein Zweifel, vorerst und für geraume Zeit siegte Kathrin über die Breisach und ihren Anhang. In den Salons sang man das Napoleonslied der elsässischen Rekruten spaßeshalber zur Harfe. Ulricus war und blieb der »beste Mann im Badener Land«.

Bald konnte Kathrin ein Festessen geben, für das sie ein besonderes Dankgebet »zur Abwendung von Verleumdung- und Leibesschaden« aus ihrem fettgedruckten Gebetbuch herausgesucht. Noch nie war soviel »von ihm« die Rede gewesen! Die Breisach selbst sprachen von nichts anderm. Kathrin diktierte einen Brief, der mit Extrapost nach Rheinweiler abging. Darin teilte sie der ewig hochzuverehrenden freiherrlichen Herrschaft mit, es sei ihr mit Gottes Hilfe geglückt, den Herrn Baron respektvollst an den Haaren aus der Hölle herauszuziehen und ihn wieder an den Platz zu stellen, welchen die selige Frau Mutter für ihn bestimmt, nämlich an den Rand und vor ein Gartenpförtchen des Himmels...

Der General Breisach hatte seinem Bruder, dem Bischof, versprechen müssen, fortan bei seinen Familienrundreisen Rheinweiler zu überschlagen. Er traf fast gleichzeitig mit Kathrins Extrapost dort ein.

»In keinem Haus Badens herrscht eine solche Arbeitsluft!« versicherte er ein über das andere Mal und rieb sich vergnügt die Hände.

Schließlich gestand er Liesel, er arbeitete an einem Werk über die »Artillerie als Hilfswaffe für die Kavallerie«. Ulrich schlug vor, ihm Bücher für seine Arbeit aus Basel besorgen zu lassen, der Vetter dankte mit Tränen. Täglich mehrmals ging er auf die Basler Landstraße hinaus, um nachzuschauen, ob die Bücher kämen. Als sie eintrafen, murmelte er etwas von einem schlechten Traum, den er die vergangene Nacht gehabt, und reiste bekümmert ab.

Ulrichs Kommentar erschien. Kathrin bekam ein Exemplar durch die Post. Sie konnte es nicht lesen, aber die Herrschaften der Hauptstadt rissen sich bei ihren Köchinnen um das Buch. Bald war es spurlos verschwunden. In diesen Tagen verkaufte der Buchhändler mit seinem Nachbar, dem Bäcker, um die Wette. »Kein Wort mehr von ihm!« höhnte Kathrin und streichelte vor dem Einschlafen das Extraexemplar, das, wie gerufen, im rechten Augenblick zu ihr zurückgefunden und statt seiner die zahlreichen Exemplare des Buchhändlers ins Treffen gebracht hatte.


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