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Nichts kann in seinen Wirkungen und Folgen auf und für das deutsche Kulturleben verschiedener sein, als der dreißigjährige Krieg des 17. und der siebenjährige des 18. Jahrhunderts es gewesen sind. Denn wie jener alle Bildungskeime zu vernichten drohte und viele wirklich vernichtete, so hat dieser alle neu belebt und befruchtet. Zwar ist es nur billig, anzuerkennen, daß schon vor der bezeichneten Krisis da und dort in Deutschland Manches für Geltendmachung der neuen Ideen geschah; wie auch, daß bereits die große literarische Bewegung im Gange war, welche in Göthe und Schiller ihren Abschluß finden sollte. Allein im Großen und Ganzen zeigte sich das deutsche Leben doch so tief versumpft, daß die gründlichste Aufrüttelung vonnöthen war, um neuen Gestaltungen Luft, Licht und Raum zu schaffen. Als Held und Lenker dieser wohlthätigen Grunderschütterung ist Friedrich der Große, seiner Französirtheit zum Trotz, ein nationaler Kulturheros geworden. Göthe, der sonst in alten Tagen, als er die Erinnerungen seines Lebens aufzeichnete, von einem quietistischen, um nicht zu sagen schönfärbenden Hofton sich nicht immer fernhielt, hat an der Stelle von »Wahrheit und Dichtung«, wo er von dem Einfluß des siebenjährigen Krieges auf die Literatur spricht, treffend geurtheilt, daß durch die Thaten Friedrich's erst ein wahrer, höherer, eigentlicher Lebensinhalt in die deutsche Poesie gekommen sei. Richtig hat er hervorgehoben, daß die Abneigung Friedrich's gegen das Deutsche für die Bildung des Literarwesens eigentlich ein Glück gewesen sei; denn »man that Alles, um von dem Könige beachtet zu werden, aber man that's auf deutsche Weise, nach innerer Ueberzeugung, man that, was man für Recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der König dieses deutsche Recht anerkennen solle.«
Das ist's! Man erreichte freilich nicht das zunächst Gewünschte und Gewollte, aber aus dem Widerspruch gegen die ungerechte Geringschätzung von Seiten des großen Königs erwuchs der deutschen Muse die Kraft, ihm zu zeigen, daß sie – wie es in Klopstock's edler Strafode heißt – »seiner werther sei als er sie kenne.« Ja, Friedrich's Antipathie gegen das deutsche Wesen war nicht die Mutter, aber recht eigentlich die Amme der freien Selbstbestimmung unserer Literatur. Hätte sich ihr der Held der Zeit freundlich zugeneigt, sein Einfluß wäre mächtig genug gewesen, die Literatur auf falsche Bahnen zu leiten, und im günstigsten Falle wäre uns dann im 18. Jahrhundert das zu Theil geworden, was Frankreich schon im vorhergehenden erhalten hatte, eine – wenn wir die Molière'sche Komödie ausnehmen – kalte, gespreizte, alles Natursinns baare und darum leblose Hofdichtung. Dank der hochmüthigen Abwendung Friedrich's von ihr, wurde die deutsche Bildung vor dem Unglück bewahrt, der heimischen Stätte ihrer naturgemäßen Entwicklung entrissen zu werden, den Kreisen des deutschen Mittelstandes. Aber Dank auch dem reformatorischen Walten Friedrich's und gleichgesinnter Fürsten, Dank der heilsamen Krisis des siebenjährigen Krieges, daß ein gebildeter Mittelstand in Deutschland aufkommen konnte, ein Stand, in welchem das eigenste Wesen unserer Nationalität zu neuen Thaten sich sammelte. Es ist eine der denkwürdigsten Erscheinungen in unserer Geschichte, daß gerade zu der Zeit, wo der Ruhm des populärsten Fürsten, welchen Deutschland seit Jahrhunderten besessen, die von demselben repräsentirte, empfohlene und befohlene französische Bildung entschiedener als je über die vaterländische triumphiren zu machen schien, – daß, sage ich, gerade zu dieser Zeit der deutsche Genius energischer als je seine Schwingen rührte, um seine kühnsten Flüge zu beginnen.
Die Anfänge dieser Bewegung waren bescheidene. Ihr Ziel, die Freiheit der Wissenschaft, die Lösung des denkenden Menschen aus den Fesseln dogmatischer Satzung, die Emanzipation der deutschen Kunst von der Willkür romanischer Theorie, wurde vorerst nur von wenigen auserwählten Geistern klar erfaßt. Die Herrschaft des »fremden Regelzwanges« wurde nicht plötzlich durch überwältigend originale Schöpfungen gebrochen, sondern zunächst Schritt für Schritt vermittelst kritischer Bemühungen untergraben. Gegen die gallomanische Dictatur Gottsched's erhob sich im deutschen Süden, in der Schweiz, eine Opposition, welche sich auf die Bekanntschaft mit der englischen Literatur stützte. Die beiden Züricher Breitinger und Bodmer verneinten die französische Theorie, welche das Wesen der Poesie in die formelle, um nicht zu sagen ceremonielle »Correctheit« setzte, und führten aus, die Aufgabe des Dichters sei vielmehr, die Eingebungen einer lebendigen Phantasie und einer durch liebevolle Naturbetrachtung genährten frischen und warmen Empfindung anschaulich zu gestalten. Naturwahrheit und unmittelbare Stimmung müsse in die Poesie zurückkehren, der seit Opitz gültige, einseitig lehrhafte und moralisirende Standpunkt müsse überwunden und von der Didaktik und Lyrik zum Epos und Drama vorgeschritten werden. Aber die Deutschen waren durch die lange Abhängigkeit von der französischen Autorität ganz des Glaubens entwöhnt worden, daß sie durch eigene Kraft Etwas vermöchten, und so brachen sich der geschlossenen Phalanx der Gottschedianer gegenüber die neuen Prinzipien nur langsam Bahn. Erst dann, als Klopstock in den »Bremer Beiträgen« 1748 mit den ersten Gesängen des »Messias« hervorgetreten war, dämmerte die Ueberzeugung von der Möglichkeit einer deutschen Originaldichtung auf.
Jedermann weiß, daß die Theilnahme, welche Klopstock's großes Werk bei seinem Erscheinen erregte, nicht nach den Eindrücken beurtheilt werden darf, welche der heutige Leser davon empfängt. Wenn heutzutage, wo wir seine ästhetischen Unzulänglichkeiten kennen, seine lyrische Verschwommenheit, seinen Mangel an sinnlicher Begreiflichkeit und epischer Plastik, diesem Gedichte nur noch die Bedeutung eines literarhistorischen Ereignisses zukommt, so hatte es damals das Vollgewicht einer nationalen That. Es wirkte in seiner Art so mächtig auf die Nation, wie zweihundert Jahre früher die Luther'sche Bibelübersetzung in der ihrigen gewirkt hatte, und diese Wirkung wurde noch vervollständigt, bei den Gebildeteren sogar weit übertroffen durch Klopstock's Odendichtung, welche in einer Sprache voll ursprünglicher Frische und kernhafter Gedrungenheit von keuscher Liebe, enthusiastischer Freundschaft, regem Natursinn, patriotischen Anschauungen und edlem Lebensgenuß redete. Klopstock's Dichten war das Rieseln eines köstlichen Felsenquells in der dürren Wüste der Nachahmung. Endlich war in Deutschland doch wieder einmal ein Dichter aufgestanden, welcher, über die kläglichen Schranken der literarischen Convenienz mit Verachtung hinwegschreitend, in den eigenen Busen griff, aus »allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt«, aus »allem Hohen, was Menschenherz erhebt«, seine Inspiration schöpfte und, wenn auch in den Mitteln vielfach sich vergreifend, seinen Landsleuten zuerst das Gefühl des Vaterlandes wieder wachrief, durch sein Wort wie durch seine Persönlichkeit die Literatur Selbstständigkeit und Würde lehrte und in allen jungen Herzen ein religiöses Glühen für Alles entfachte, was »des Schweißes der Edlen werth.«
Dennoch war es eine glückliche Fügung, daß der nicht selten in unersprießlichsten und unerquicklichsten Abstractionen sich bewegende Spiritualismus Klopstock's in dem Sensualismus Wieland's ein Gegengewicht fand. Wieland leitete die junge deutsche Poesie aus den seraphischen Regionen, wo sie mitunter in Gefahr war, in Weihrauch- und Thränendampfwolken zu verflattern, auf den festen Boden der Wirklichkeit zurück. Ihm vornehmlich haben wir es zu verdanken, daß ein gedeihlicheres Wechselverhältniß zwischen Literatur und Leben angebahnt wurde, als bis dahin bestanden hatte. Kein Genius ersten Ranges, aber ein elastisches und vielseitiges Talent, war der Mann wie eigens dazu gemacht, unsere noch ungefüge und täppische Dichtung weltmännisch zu schulen. Seine Muse ist doch in der That eine Grazie gewesen, wenngleich diese deutsche Griechin ihre aus Paris verschriebene Coiffüre, Chaussüre und Tournüre etwas zu kokett sehen ließ. Wieland beabsichtigte nicht und konnte der ganzen Anlage seines Wesens zufolge nicht beabsichtigen, absolut Neues und Originales geben zu wollen. Er beschied sich, thatsächlich zu beweisen, daß ein deutscher Poet gerade so elegant und galant, so leicht und im Nothfall auch so leichtfertig schreiben könne wie ein französischer. Dadurch gewann er, während Klopstock die Jugend begeisterte, gereifteren Leuten, den Herren und Damen der französirten vornehmen Kreise ein Interesse für die deutsche Literatur ab und es liegt auf der Hand, daß dieser Umstand für die Weiterentwicklung unseres Kulturlebens von nicht geringer Wichtigkeit sein mußte. Wieland, mit seiner toleranten Bonhommie, mit seiner weltmännischen Beweglichkeit und Heiterkeit, seiner gutmüthigen Skepsis und Ironie, mit seiner sokratischen Unterhaltungsgabe und seinem schelmischen Lächeln, er war vortrefflich dazu angethan, zwischen den bürgerlichen und den aristokratischen Classen den literarischen Vermittler zu machen. Als solcher hat er den idealistischen Strebungen der Zeit ein zierlich realistisches Gepräge aufgedrückt und dieselben als gangbare Münze in den großen Verkehr gebracht, so daß er in seinen alten Tagen mit vollem Recht als seines Verdienstes sich rühmen durfte, er habe fünfzig Jahre lang eine Menge von Ideen in Umlauf gesetzt, welche den Schatz der Nationalkultur vermehrt hätten.
Die literarischen Richtungen, welche von Klopstock auf der einen, von Wieland auf der andern Seite ausgingen, werden uns später begegnen, besonders da, wo wir die Literaturzustände, wie sie beim Auftreten Schiller's waren, ins Auge zu fassen haben. Wir führen also hier den Faden unserer Darstellung nicht bis zur »Sturm- und Drangperiode« fort, sondern berühren nur noch, was zur Abrundung der gegebenen Skizze von der aufklärerischen Bewegung dienlich sein mag. Selbstverständlich sieht der unbefangene Geschichtschreiber diese Bewegung nicht in der falschen und verleumderischen Beleuchtung, in welcher pseudogenialische Romantiker von älterem und neuerem Datum dieselbe zu zeigen belieben. Keine Frage, es gab unter den Aufklärern platte, mitunter unausstehlich prosaische und langweilige Gesellen und es lassen sich der Aufklärung bedauerliche Mißgriffe und bedenkliche Ausschreitungen nachweisen. Aber deßhalb die ganze Richtung in Bausch und Bogen verdammen, heißt nur die alte Forderung wiederholen, daß das Licht keinen Schatten werfen sollte. Schatten war da, aber nur der Schatten jener Fülle von Licht, die sich in der Aufklärungsperiode über die finstere Barbarei verbreitete, welche bis dahin das deutsche Leben bedrückt und beengt hatte.
Bürgerlich ihrem innersten Wesen nach, machte die Aufklärung den von ihr erzogenen Mittelstand zum Träger einer öffentlichen Meinung, welche sie neuschuf und in Achtung zu setzen wußte. Ueberall bereitete die hausbackene Verständigkeit der Aufklärer dem Humanismus die Wege, dessen höhere soziale und künstlerische Ziele freilich später mit dem bürgerlichen Mittelmaß nicht selten in Conflict kamen. Diese beiden Seiten der Aufklärung zeigt uns die typisch gewordene Gestalt des Berliner Schriftstellers und Buchhändlers Nicolai, welchen ein Lessing seiner Freundschaft und ein Göthe seiner Feindschaft würdigte. Von dem Nicolai'schen Kreise ging unmittelbar oder mittelbar der Aufschwung der deutschen Journalistik aus, welcher sich in den »Literaturbriefen«, der »Allgemeinen deutschen Bibliothek«, den »Göttinger« und »Frankfurter gelehrten Anzeigen«, der »Jenaischen Literaturzeitung«, dem »Deutschen Merkur« und anderen Zeitschriften Organe schuf, welche die Kreise des Wissens auf bisher unbekannte Entfernungen ausdehnten. Indem so die deutsche Bildung aufhörte, eine exclusiv gelehrte zu sein, und nach Gemeinfaßlichkeit strebte, ist es bei der vorwiegend theologischen Stimmung der Deutschen von größter Wichtigkeit gewesen, daß die aufklärerische Tendenz innerhalb der Theologie selber Fuß faßte. Der Pietismus war im Verlaufe der Zeit nicht weniger hohl und geistlos geworden als die Orthodoxie, gegen welche er in seinen besseren Tagen reagirt hatte. Die Bemühungen eines Dippel und mehr noch die eines Edelmann, ihr religiöses Bewußtsein aus den Banden der Sectirerei zu retten, hatten einen Uebergang vom Mysticismus zum Kriticismus angebahnt. Gelehrte wie Semler, Michaelis und Reimarus suchten nun auch in der Theologie das Prinzip der freien Forschung zu Ehren zu bringen und in Verbindung damit befehdeten die Popularphilosophen Spalding, Abbt, Sturz, Eberhard, Mendelssohn, Garve und Zimmermann hierarchischen Fanatismus, bigote Kopfhängerei und barbarischen Aberglauben aller Art. Die gemeinsame Arbeit dieser Schriftsteller machte in religiösen Dingen jene liberale Denkweise herrschend, welche man Rationalismus nennt, und pflanzte Duldsamkeit in unzählige Herzen. Eine andere Reihe von Aufklärern, voran die beiden Moser, Pütter, Schlözer und Möser, der preiswürdige »Anwalt des Vaterlandes«, unterzogen sich der herkulischen Arbeit, die politischen Vorstellungen aufzuhellen, Unrecht und Gewaltthat zu rügen und das eingeschlafene Bewußtsein des Staatsbürgerthums wieder in den Deutschen zu wecken. Eine große Reform der empirisch-historischen Wissenschaften vollzog sich, ausgehend vornehmlich von der 1736 eröffneten Universität Göttingen, wo Heyne, der Vorläufer von Friedrich August Wolf, classische Philologie, Kästner und Lichtenberg Mathematik und Physik lehrten. Durch Schröckh und Planck wurde die kirchliche, durch Spittler und Heeren die weltliche Geschichtschreibung, durch Eichhorn die Kulturhistorik auf neue Grundlagen gestellt, d. h. auf die einer vorurtheilslosen Kritik, und Winckelmann seinerseits eröffnete durch seine geniale Betrachtung der griechischen Kunst Anschauungen, an welchen unsere Classik wesentlich zur Vollendung sich heraufgebildet hat. Von nicht geringerer Bedeutung waren die aufklärerischen Bemühungen, das Gebiet der Erziehung von mittelalterlich-scholastischem Wust reinzufegen und auch hier an die Stelle des theologischen Schlendrians humanistisch-realistische Prinzipien zu setzen. Allerdings blieben die in den sogenannten »Philanthropinen« angestellten pädagogischen Sturm- und Drangversuche eines Basedow nicht frei von Thorheit und Charlatanismus, dafür aber bewährte sich der hochherzige Pestalozzi als ein pädagogischer Reformer, dessen mathematisch-analytische Methode des Anschauungsunterrichts für die Volkserziehung eine neue Epoche begründete. Erst von da an existirte die Möglichkeit, daß die Gesammtheit der Nation allmälig in den Kreis humaner Bildung eintreten konnte.
Unterdessen waren zwei auserwählte Geister vorgerückt, um der deutschen Aufklärung in nationalliterarischer und wissenschaftlicher Richtung den höchsten Ausdruck zu geben, – Lessing und Kant. Von Letzterem wird zu handeln sein an dem Orte, wo der Einfluß der Kantischen Philosophie auf Schiller zur Sprache kommen muß. Was Lessing an geht, so war seine literarische Bedeutung für Deutschland keine geringere als die politische Friedrich's des Großen. Lessing ist der eigentliche Befreier unseres Landes von der geistigen Fremdherrschaft geworden, indem er darthat, daß der Deutsche da, wo er diente, zu herrschen berufen sei. In diesem großen Manne verband sich vielseitigstes Wissen und rastloseste Arbeitskraft mit klarstem Verstande und reifster Besonnenheit, sittliche Gediegenheit des Charakters mit erleuchteter Vaterlandsliebe. Mit seinen theologischen und archäologischen Streitschriften hebt unsere wissenschaftliche, mit seinen Literaturbriefen, seinem Laokoon und seiner Hamburger Dramaturgie hebt unsere ästhetische Kritik an. Er schob den pseudoantiken Flittertand des französischen Geschmacks bei Seite, zeigte hinter demselben das wirkliche antike Schönheitsideal und lehrte, was und wie von diesem die deutsche Kunst lernen solle. Er zuerst begriff und verkündigte die Größe Shakspeare's und welche Wirkungen Deutschland und die Welt von diesem Genius empfangen könne.
Von Lessing zu reden vermag ein Deutscher nicht, ohne daß ihm das Herz aufginge. Er war es, der, französischem Uebermuth deutsches Selbstgefühl entgegensetzend, das stolze Wort sprach: »Man zeige mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte« – und bewies durch Thaten, wie sehr berechtigt er war, so zu sprechen. Er stellte schon 1755 den geschraubten Declamationen des französischen und französirenden Drama's die bürgerliche Lebenswahrheit seiner Sara Sampson entgegen, gab 1763 unserer Literatur ihre beste Komödie, die Minna von Barnhelm, eine Dichtung voll nationalen Gehalts, und schuf 1772 die erste deutsche Tragödie, welche diesen Namen verdiente, seine Emilia Galotti. Sein Lebenlang hat er die Wahrheit gesucht um ihrer selbst willen. Nie ist ein gemeiner, selbstsüchtiger Gedanke in dieses einsame, edle und männliche Herz gekommen und nur einmal stieß der tapfere Kämpfer einen halbunterdrückten Schmerzensschrei aus, als der Tod das Weib, welches ihn liebte, frühzeitig hinwegnahm. Der klare, frische, energische Gedankenstrom des theuren Mannes drang reinigend bis in die dunkelsten Winkel des Augiasstalls deutscher Philisterei. Immer auf seinem Posten, immer schlagfertig, erhöhte er, ob er strafte, ob er anerkannte, die Wirkung seines Wortes durch edelstes Maßhalten. Dem Lichte der Vernunft ein unbeirrbares Auge zugekehrt, schritt er vor, das Gewürm der Finsterniß unter seinen Fersen zermalmend, nach allen Seiten hin das Gestrüppe barbarischer Gewöhnung und conventioneller Lüge niedertretend, überall anregend, pfadzeigend, mustergebend. Er ist der erste wahrhaft freie Mensch, Forscher und Künstler in unserem Lande gewesen. Mit seiner Vaterlandsliebe hat er nicht groß gethan, aber auf Schritt und Tritt hat er sie bethätigt. Und Deutschland erschöpfte nicht die Fülle seiner Erkenntniß und seiner Liebe. Jene weltweite Gesinnung, welche »die Sache der Menschheit als die eigene betrachtet,« schwellte seine Brust und dictirte ihm am Ende seiner Laufbahn das Schauspiel vom weisen Nathan, ein Hoheslied deutscher Humanität und deutschen Weltbürgerthums, ein Gedicht voll wunderbarer Zukunftsahnung, welches unserem Auge die tröstliche Fernsicht in eine wahrhaft humane Entwicklung der Menschheit aufthut. So hat denn Lessing unserer Klassik ihr Ziel vorgezeichnet: die Füllung hellenisch schöner und maßvoller Formen mit deutschem Gemüth und Geist, mit germanischer Innerlichkeit. Dieses »moderne Griechenthum«, welches in Göthe und Schiller culminirte, hat seine Mängel und Gebrechen, wie alles Menschliche; aber darob sollte man nicht vergessen, daß das moderne Griechenthum es war, welches uns Deutsche zu freien Menschen machte und uns befähigt, freie Staatsbürger zu werden.
Jener Bildungstrieb, jene lebhafte Theilnahme für die Literatur, jene Empfänglichkeit für das Schöne, wodurch sich die deutsche Gesellschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so vortheilhaft auszeichnete, sie weckten und nährten neben der Poesie auch die übrigen Künste. Von geringer Bedeutung war freilich, was zunächst in den bildenden, in Baukunst, Bildnerei und Malerei, geleistet wurde. Zwar kamen reiche Sammlungen von Kunstschätzen zusammen, in Düsseldorf, Dresden, Wien und Berlin, auch wurden Kunstschulen eröffnet und ein Mengs, ein Hackert, ein Chodowiecki erwarben daheim und auswärts dem künstlerischen Talent der Deutschen Ruf und Achtung; allein im Ganzen waren die bildenden Künste innerlich doch allzusehr im leidigen Zopfthum befangen und äußerlich viel zu sehr nur Spielwerk launischen Mäcenatenthums, als daß sie auf die Entwicklung der nationalen Kultur bedeutend hätten einwirken können. Erst mußte das von Winckelmann angeregte Studium der Antike durchgreifen, erst mußte unsere aufstrebende Dichtung dem Künstlerauge neue Welten aufschließen, bevor die Möglichkeit gegeben war, daß die Carstens, Schick und Wächter, die Dannecker und Schinkel einen von der Verschnörkelung französischer Pseudoclassik emanzipirten Kunststyl in Deutschland begründeten.
Rascher zugleich und glänzender als der Vorschritt der bildenden Künste war der Aufschwung deutscher Musik und deutscher Schauspielkunst. Geistvolle Theoretiker, ein Mattheson und ein Marpurg, thaten für die Musik, was die Kritik Winckelmann's und Lessing's für die bildende Kunst und die Poesie wirkte, und mit solcher Aufhellung der Begriffe vom Musikalisch-Schönen ging die schöpferische Praxis einer ganzen Reihe talentvoller und genialer Tondichter Hand in Hand. Benda führte das Melodram, Hiller das Liederspiel bei uns ein, Haydn gab uns die heitere Anmuth seiner Symphonieen und ließ den Schöpfungsmythus und der Jahreszeiten Wechseltanz in großen Tongemälden an den entzückten Ohren seiner Zeitgenossen vorübergehen. Gluck verschaffte der Naturwahrheit und dem Tiefsinn deutscher Musik einen glänzenden Triumph über italische Weichlichkeit und Ueppigkeit, indem er einen edleren Opernstyl begründete. Auf Gluck folgte Mozart, der Göthe der Musik, und schon rüstete sich Beethoven, neben den Schöpfer des Don Juan zu treten, wie der Dichter des Wallenstein neben den des Faust trat.
Bei der entschiedenen Bevorzugung, welche das musikalische Drama an den Höfen fand, war es für das recitirende, das eigentliche Schauspiel, eine sehr schwierige Aufgabe, aus dem rohen Naturalismus des vagabundirenden Komödiantenwesens einerseits, aus der Gottschedischen Oede der rhetorischen Phrase andererseits zur Höhestellung und Geltung eines nationalen Bildungsmittels sich heraufzuarbeiten. Ein erster Schritt hiezu war die Stabilität des Theaters, wofür die Fixirung der Ackermann'schen Truppe, welcher auch Eckhof angehörte, im Jahre 1767 zu Hamburg ein wirksames Beispiel gab. Nachdem hier das erste deutsche »Nationaltheater« gegründet war, entstanden solche auch anderwärts, wie zu Wien, wo Kaiser Joseph 1776 die deutsche Bühne unter seinen unmittelbaren Schutz nahm und das nachmals so berühmt gewordene Burgtheater einrichtete. Die Thätigkeit Lessing's als Dramaturg und dramatischer Dichter, die genauere Bekanntschaft mit Shakspeare, die weitere Einrichtung von Nationaltheatern zu Mannheim und Berlin, ferner die dramatischen Jugendthaten Göthe's und Schiller's, welche das Publikum elektrisirten, endlich das Auftreten so großer Schauspieler, wie Schröder, Beil, Beck, Iffland und Fleck waren, – das Alles wirkte gemeinsam, die deutsche Schauspielkunst zu heben, zu adeln und ihr das lebhafteste Interesse der Nation zuzuführen.
So finden wir denn, Alles zusammengehalten, daß die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts für unser Vaterland eine jener gesegneten Perioden gewesen ist, wo alle edlen Triebe und Neigungen des Menschen in Saamen schießen, zu Blüthen ausschlagen und Früchte reifen. Ja, das war eine schöne, große, hohe Zeit, allen ihren Unzulänglichkeiten, Ueberhebungen und Irrthümern zum Trotz. Es ist vom Jahre 1784 ein kulturgeschichtliches Document auf uns herabgekommen, welches nicht ohne eine Beimischung von Selbstgefälligkeit, aber im Ganzen wahr und richtig das Zeitalter der Aufklärung charakterisirt. Ich meine die »Gedächtnißurkunde an die Nachkommenschaft«, welche am 3. November 1856 in dem Behufs einer Reparatur herabgenommenen Thurmknopfe der Margarethenkirche zu Gotha gefunden wurde. Sie lautet so: – »Unsere Tage füllten den glücklichsten Zeitraum des 18. Jahrhunderts. Kaiser, Könige, Fürsten steigen von ihrer gefürchteten Höhe menschenfreundlich herab, verachten Pracht und Schimmer, werden Väter, Freunde und Vertraute ihres Volkes. Die Religion zerreißt das Pfaffengewand und tritt in ihrer Göttlichkeit hervor. Aufklärung geht mit Riesenschritten. Der unseren Eltern so schreckliche Feind der Christenheit zittert vor unserer Macht. Tausende unserer Brüder und Schwestern, die in geheiligter Unthätigkeit lebten, werden dem Staate geschenkt. Glaubenshaß und Gewissenszwang sinken dahin; Menschenliebe und Freiheit im Denken gewinnen die Oberhand. Künste und Wissenschaften blühen und tief dringen unsere Blicke in die Werkstätte der Natur. Wir haben dem Blitze seinen Weg vorgezeichnet, mit seinem Feuer in unseren Zimmern gespielt und unheilbare Krankheiten damit geheilt. Wir haben die Luft durchschifft, haben Pflanzen nach Belieben vermählt und den Embryo im Hühnerei ohne Brütwärme entwickelt. Wir haben das Pest- und Blatterngift durch Einpfropfung besiegt, haben dreizehn Luftarten gefunden, Metalle in ihnen in Brand gesteckt, sie statt Schießpulvers verbraucht. Wir haben weißes Gold entdeckt, Quecksilber gehärtet und, was weit mehr ist, wir haben Aberglauben bestritten, besiegt und dichte Dunkelheit zerstreut. Handwerker nähern sich gleich den Künstlern der Vollkommenheit, nützliche Kenntnisse keimen in allen Ständen. Aber Schöngeisterei und Empfindelei sind die Plagen unseres Zeitalters und zügellose Modesucht und übertriebener Prunk hemmt den allgemeinen Wohlstand … Hier habt ihr eine getreue Schilderung unserer Zeit. Blickt nicht stolz auf uns herab, wenn ihr höher steht und weiter seht als wir; erkennet vielmehr aus dem gegebenen Gemälde, wie sehr wir mit Muth und Kraft euren Standort emporhoben und stützten. Thut für eure Nachkommenschaft ein Gleiches und seid glücklich!«