Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel.

Prachtexemplar einer aussterbenden Menschenspezies. – Die traurige Geschichte vom Jages und vom Vefele. – Ein Dorf an der Donau. – »Der Herr Pfarr'.«

»Buon giorno, Signore! Datemi una cigaretta!« sagte mit einmal eine etwas brüchige Baßstimme hinter mir.

Ich wandte mich überrascht um.

»Bon soir, Monsieur. Ayez bien la bonté, de me donner un cigare! tönte es mir aus dem Munde einer äußerst langen und hageren Gestalt entgegen, welche in der einen Hand eine abgetragene Flachkappe, in der anderen eine sehr verrauchte Stummelpfeife hielt.

»Voilà, mon vieux,« entgegnete ich und hielt ihm das Etui hin.

Er nahm ohne Umstände eine Zigarre heraus und gab mir die Büchse kratzfußend und mit den Worten zurück:

»Thousand thanks to you, Sir

»Wetter, lieber Mann,« sagte ich, »wenn das so fortgeht, so bringt Ihr noch alle europäischen Sprachen vor. Seid Ihr vielleicht beim Kardinal Mezzofanti, der etliche dreißig Sprachen redete, in die Schule gegangen?«

»Nein, Herr,« gab der hagere Veteran – denn als solchen kennzeichnete ihn das Vierteldutzend Medaillen, die er im Knopfloch hängen hatte – zur Antwort. »Weder bei einem Kardinal noch bei sonst einem der roten oder schwarzen Vögel: hab' sie mein Lebtag nicht recht vertragen können. Aber man ist ein gut Stück in der Welt 'rumgekommen, Herr, und da bleibt da und dort ein Brocken an einem hängen.«

Mein neuer Bekannter war einer jener alten Knasterbärte, welche das ganze Kriegsgetümmel der Napoleonschen Zeit mitgemacht hatten und dann, mit Narben bedeckt und auch wohl mit halb oder ganz erfrorenen Gliedern, endlich in ihre Heimat zurückgekommen waren, um in vielen Fällen als privilegierte Bettler die Geschichte ihrer Strapazen von Haus zu Haus zu tragen, wandernde Kriegsfibeln, die sich in das Friedensleben gar nicht mehr recht hineinzufinden wußten. Das hier in Rede stehende Exemplar dieser allmählich aussterbenden oder schon ausgestorbenen Menschenspezies war ein ältestes, aber ganz leidlich konserviertes. Als fünfzehnjähriger Junge war er seinem Vater, einem Wagner in Frohdorf, entlaufen und Trommelschläger bei den Kaiserlichen geworden. Am Rhein von den Franzosen gefangen, hatte er diese sehr lieben gelernt und in ihren Reihen zunächst gegen die têtes quarrées von Vendeern, wie er sie nannte, gefochten. Dann, mit Bonaparte, nach Ägypten gesegelt, machte er die Seeschlacht von Abukir mit und mußte, bei dieser Gelegenheit in die Hände der Engländer gefallen, diesen drei Jahre lang als Marinesoldat dienen. Nachdem er sich diesem unfreiwilligen Dienst in einem italischen Hafen durch eine kühne Flucht entzogen, stellte er sich wieder unter die Fahnen des kleinen Korporals, focht in den verschiedensten Ländern, sah den Brand von Moskau und mußte, nach der Schlacht bei Bautzen von den Preußen als Blessierter vom Schlachtfelde aufgelesen, nach notdürftiger Heilung gegen seine geliebten Franzosen mit zu Felde ziehen, um, wie er sich ausdrückte – denn er hatte von seinen Feldzügen unter der republikanischen Fahne her höchst absonderliche, sozusagen ganz abscheuliche Ideen im Kopfe behalten – »den Aristokraten und Pfaffen wieder zu ihrem Futter zu verhelfen«. Nach dem zweiten Pariser Frieden in Gnaden verabschiedet, war er nach Frohdorf zurückgekommen, wo ihn niemand mehr kannte, wo er aber das oben angedeutete Privilegium mit so vielem Humor auszubeuten wußte, daß er unter dem Namen des »Courage« ein sehr beliebter öffentlicher Charakter der ganzen Gegend geworden und geblieben war. Den angegebenen wunderlichen Namen hatte ihm seine Neigung eingetragen, sich bei jeder Gelegenheit Französisch vernehmen zu lassen, oder wohl mehr noch seine Gewohnheit, das Wort courage häufig ans Ende seiner Sätze zu stellen, gleichsam als Tüpfelchen auf das i oder als Ausrufungszeichen. Im übrigen war er die beste Seele von der Welt, und da ich ihm beiläufig mitteilte, daß ich von Paris herkomme, waren wir bald ganz kordial mitsammen. Ich glaubte, sein weißer Schnurrbart wollte sich sträuben vor Freude bei der Entdeckung, wieder einmal einen Menschen vor sich zu haben, mit dem er von seinen Pariser Erinnerungen schwatzen konnte.

Nachdem er seiner Neugier, ob dies oder das an der Seine immer noch so sei wie zu seiner Zeit, einigermaßen Genüge getan, fragte ich meinerseits, ob er mir Näheres über die Personen sagen könnte, welche ich vor dem Zusammentreffen mit ihm gesehen und die mein Interesse lebhaft erregt hatten. Ich hatte nicht nötig, sehr weitläufig in meiner Beschreibung zu sein, denn er sagte sogleich:

»Sakristi, Sie haben den Jages und's Vefele gesehen? Ist's nicht ein hübsch Kind, une charmante fille? Und der Jages hätte dürfen nur mal tüchtig Pulver riechen, um ein ganzer Kerl zu werden – courage! Wissen Sie, 's sind halt junges Blut und ineinander verschossen. Er fast noch mehr als sie, wie's denn geht, wenn kein Krieg ist und die jungen Burschen Zeit haben, sich solches Larifarizeug in den Kopf zu setzen. War anders zu meiner Zeit, war allweil d' Welt voll Kriegstrubel und ließ einem der Kleine mit dem grauen Überrock nicht Zeit, sich in ein Weibsbild zu vergaffen, daß man drob schier krank werden mochte – courage

»Soviel ich von dieser Liebschaft sah, ist es eine traurige,« sagte ich.

»Freilich, freilich. Er ist halt ein reicher Bursch und sie ein arm' Mädle. Er ist das einzige Kind des Brunnenbauers, von dem man sagt, er könne sein Haus mit Kronentalern pflastern lassen, und 's Vefele herentgegen ist die Tochter der alten Hanne, deren ganzes Vermögen in einem baufälligen alten Häusle, zwei alten Apfelbäumen, einer Geiß und einem Kartoffeläckerle besteht. D'rum meint der alte Brunnenbauer, die Leute passen nicht zusammen. Die alte Hanne ist brav und rechtschaffen und ihre Tochter nicht minder – courage! Muß es wissen, ich, denn die Hanne war Geschwisterkind mit meiner Mutter selig und hat als gutmütige Base an mir gehandelt – so hat sie, Sakristi. Denn da ich alter Kriegsknecht heimkam und man mich von Gemeinde wegen zu allerlei Lumpengesindel ins Hirtenhaus einquartieren wollt', hat die Hanne gesagt: Nein, mein Vetter soll nicht ins Hirtenhaus, solang' ich noch 'ne Herberg' hab'. So hat sie mich denn zu sich genommen und sie und ihr braver Tone selig haben als rechte Freunde an mir getan, und seit der Tone tot ist, hat mich 's Vefele lieb wie 'nen Vater – courage

»Wollt', ich wär' an Eurer Stelle, Alter.«

»Dazu wären Sie doch wohl noch ein bißle zu jung,« meinte der alte Soldat lächelnd. »Aber sehen Sie, es tut mir halt weh, daß das Mädle in die Liebschaft mit dem Jages hineing'raten ist. 's Vefele, müssen Sie wissen, hat auf dem Bronnenhof als Magd gedient, und 's konnte nicht fehlen, daß sie dem Jages gefiel und er ihr, denn der Jages ist, entre nous, ein hübscher und rechter Kerl, und gerad' weil er so einer ist, hat er sich gegen 's Vefele nicht herausg'nommen, was hundert andere reiche Bauernsöhne gegen sie sich herausg'nommen hätten. Denn Sie müssen wissen, Herr, daß unsere Bauern gar nicht so ländlich sittlich sind, wie die Stadtleute meinen, sondern ländlich schändlich – courage! Ja, verdammt hochmütige Canaillen sind's, Sakristi! Und hat der Sohn so eines großen Hofbauern einem armen Mädle eins aufgehängt, so läßt er es sitzen, samt dem Balg, schwört sogar oftmals die Vaterschaft ab und heiratet durch die Bank nur eine, die Batzen hat. Hätt's der Jages auch so g'macht, der Bronnenbaur hätt' wohl gar noch sein' G'spaß dran g'habt, Gott straf mich! Aber ist der Jages ein rechter Goldfasan unter diesen Mistfinken und 's Vefele auch ihrerseits nicht so eine, wie deren g'nug bei uns herumlaufen – courage

»Ihr scheint nicht gar zuviel von der Tugend und Sittsamkeit Eurer Landsleute zu halten, lieber Freund.«

»Nein, Herr. Glauben Sie mir, wenn man so an dreißig Jahre lang alle Haushaltungen der Gegend auswendig gelernt hat, so weiß man, was durchschnittlich an der ländlichen Unschuld und Gutmütigkeit und Gemütlichkeit, oder wie sonst all das Zeug heißen soll, eigentlich ist. Blutwenig, Herr, nicht der Rede wert – courage! Und gar vollends der Bauernstolz! Sag' Ihnen, Herr, 's gibt auf der weiten Welt nichts Widerwärtigeres als den Hochmut eines Bauern, der Batzen hat.«

»Da mögt Ihr nicht unrecht haben. Mir fällt ein, daß ein munterer Poet einmal gesagt hat: Bauernstolz wälzt sich auf der Erde.«

»Auf dem Mist hätte er sagen sollen – courage! Wüßten Sie nur, wie unflätig heut' der Bronnenbaur gegen das arme Vefele sich aufgeführt hat.«

»Wie war denn das, Alter?«

»Ja, sehen Sie, als der Bronnenbauer merkte, daß der Jages nur redliche Absichten auf's Vefele hatte, und daß des Jages sein' Mutter, die ein herzgutes Weibsbild ist, gar nichts dagegen hätte, 's Vefele zur Söhnerin z' kriegen, fing er ein Mordspektakel an und jagte 's Vefele aus dem Hause. Half aber nichts, denn Widerwärtigkeiten spornen verliebte Leute nur noch mehr an, sagt man. Da hat nun dem Vefele seine Kameradin sich nach Göffingen drüben verheiratet und heute dort Hochzeit gehalten – 'ne mächtig große Hochzeit – und mußte 's Vefele auf besondere Einladung der Hochzeiterin auch dabei sein. Der Jages war auch da und der Brunnenbauer, weil sie zum Hochzeiter nahe Freund' sind. Gut, da tanzt nun halt der Jages natürlich allfort mit dem Vefele und hab' ich mit eigenen Ohren g'hört, wie die Leute auf dem Tanzboden zueinander sagten: ›Gucket, das gäb' wägerle ein schön's Pärle!‹ Aber war da auch des Bronnenbauers Nachbar, der reich' Luixenbauer, mit seiner dicken Kätter, und die soll der Jages heiraten. Will aber halt nicht der Bursch – courage! Wie nun die Kätter sieht, daß der Jages, den sie mit Teufelsg'walt möcht', so mit dem Vefele scharmuziert, wird sie fuchsteufelswild – wissen Sie, Herr, wie eben 's Weibervolk unter solchen Umständen zu werden pflegt – ja, wird fuchsteufelswild, die Kätter, geht hin und stupst ihren Vater auf, und der stupst den Bronnenbauer auf, und der springt halt auf einmal wie b'sessen auf den Tanzboden, reißt den Jages vom Vefele weg und sagt dem armen Mädle alle Schand' und Spott. Gab halt da ein groß' Spektakel. Der Jages, sagten mir die Leut', hätte wollen über seinen Alten her und sich nur auf Zureden des Hochzeiters besser besonnen. Dann sei er fort. Nun müssen Sie halt wissen, Herr, daß hier herum keine Bauernhochzeit ganz ist, wenn nicht der Courage dabei. War also auch im Göffinger Wirtshaus, aber zum Unglück gerad' in der untern Stub', als es droben losging. Als ich von der Sach' hörte, ging ich freilich schnell hinauf, um meinem Bäsle beizustehen. War aber die Geschicht' schon aus, und war der Bronnenbauer schon fort und auch 's Vefele heim. Hatte sich jedennoch die Hochzeiterin, ein resolutes Weibsbild, rechtschaffen des Vefele angenommen. Sagten auch viele Leut', wie wüst das von dem Bronnenbauer gewesen, und wenn auch 's Vefele für den Jages z'arm sei, so sei es daneben doch ein brav's Mädle. – So ist das Ding. Soll aber dem Bronnenbauer nicht geschenkt sein, soll nicht, mort de ma vie! Will ihn schon kriegen, ja das werd' ich – courage

Während dieses Gespräches hatten wir den Wald durchmessen und einen jähen Hügel erstiegen. Droben angelangt, sahen wir das Donautal unmittelbar vor uns liegen und hart am jenseitigen Ufer des Flusses Frohdorf.

Es verdient seinen Namen, so frohmütig lag es da in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Der gelehrte Fabian behauptete freilich, man müßte eigentlich Frodorf sagen oder schreiben, nicht Frohdorf, denn vielfache Spuren wiesen darauf hin, daß der Ort ursprünglich dem altgermanischen Frühlings- und Liebesgott Fro zu Ehren benamset worden sei; allein das kann dem werten Leser gerade so gleichgültig sein wie mir selber, und wir wollen daher bei der Schreibart Frohdorf bleiben. Hinter demselben erhebt sich eine mit Buchen und Eichen bewaldete Hügelkette, und von einem Vorsprunge derselben starrten die Trümmer einer jener Feudalburgen talwärts, an welchen das Schwabenland einst so großen Überfluß hatte. Zackig und zerrissen sehen sie aus wie eine trotzige Elegie auf jene Zeiten, welche ich natürlich schon lange nicht mehr durch die rosenrote Brille des süßhölzernen Fouqué ansah. Von den Hügeln zogen sich Kornfelder, vom Erntesegen schwer, bis zum Dorf heran, an dessen Ende auf einem erhöhten, ummauerten Platz die Kirche mit ihrem stumpfen Turme stand. Am Fuß der Anhöhe lugte das Pfarrhaus aus Obstbäumen hervor. Den Blumengarten an seiner Vorderseite bespülte ein Waldbach, der von den Hügeln herab dem Flusse zueilte, nachdem er oberhalb des Dorfes die Räder einer stattlichen Mühle in Bewegung gesetzt hatte, welche, wie mein Begleiter mir mitteilte, der Großmutter des Jages von mütterlicher Seite gehörte. Unterhalb des Dorfes weitete sich das Tal. Fette Wiesengründe faßten weithin die Donau ein, an deren linkem Ufer man in der Entfernung von etwa einer Viertelstunde die Baulichkeiten des Luixenhofs sich erheben sah. Von diesem Gehöfte führte ein Steg nach dem rechten Ufer hinüber, wo die Wohnräume, Scheune und Stallungen des Bronnenhofes lagen.

Als mir der alte Soldat die beiden Gehöfte zeigte, bemerkte ich, die Besitzer derselben müßten schon durch die Lage ihrer Heimwesen auf den Gedanken gebracht worden sein, ihre Kinder miteinander zu verbinden.

»Ja,« meinte mein Begleiter dazu, »der Bronnenhof und der Luixenhof liegen nahe genug beisammen, aber die Donau fließt dazwischen.«

»Wohl, aber der Steg verbindet ja die beiden Höfe.«

»Der Steg, der Steg! Herr, sag' Ihnen, der Luixenbauer sowohl als der Bronnenbauer gäben viel drum, wenn sie den Steg ihr Lebtag nicht gesehen hätten – courage

Das verwitterte, aber offene Gesicht des alten Mannes hatte bei diesen Worten, ich weiß nicht was für einen sonderbaren Ausdruck angenommen, so daß ich verwundert fragte, was er mit seiner Rede meine.

»Allerlei, Herr,« gab er zur Antwort; »aber 's ist jetzt keine Zeit, davon zu parlieren. C'est une autre chose, une chose extraordinaire, une chose très-formidable, soidisant –.«

Weiter wollte er nicht herausrücken und ich hielt für unpassend, neugierig in ihn zu dringen.

Während wir die Anhöhe gegen den Fluß hinab und drunten über die »Steinbruck« gingen, hatte der Mond die Sonne am Himmel abgelöst und Fluß und Wald und Tal in sein dämmerndes Licht getaucht. Das Geräusch des Tagwerkes erstarb im Dorfe allmählich: die Mägde hatten ihre Kühe schon zur Tränke getrieben, die Knechte ihre Pferde schon zur Schwemme geritten. Da und dort hörte man in den Gassen eine Sense dengeln oder ein Ziehbrunnenrad surren. Von den Feldern draußen trug der Nachthauch manchmal einen abgebrochenen Wachtelschlag, von den umliegenden Gehöften das Gebell eines Hundes an das Ohr, drunten rauschte dumpf der Fluß, und droben klapperte eintönig die Mühle.

Es lag etwas ungemein Friedliches und Heimeliges in der ganzen Szene, etwas, das mich an die ländlichen Abende meiner Kindheit erinnerte.

Als wir in das Dorf eingetreten, weckte mich mein Begleiter aus meiner Träumerei.

»Parbleu, Monsieur,« sagte er, »Sie wollen wohl hier übernachten, und da tut's mir leid, daß ich Ihnen kein Quartier anbieten kann. Das Wirtshaus zum roten Löwen ist übrigens ein recht leidliches Logement und ich will Sie hinführen!«

»Ist nicht nötig. Ich werde beim Pfarrer einkehren.«

»Ah, bei unserem Monsieur le curé? Das ist was anderes – Sakristi.«

»Nun, mein Lieber, gehört der auch zu den schwarzen Vögeln, die Ihr nicht vertragen könnt?«

»Der? Nein, Herr. Vergeht selten ein Tag, ohne daß ich ins Pfarrhaus komme. Liebe Leute das, der Herr Pfarr' und seine Frau Mutter. Haben selber erfahren, wie Armut tut; drum sind sie so gut gegen die Armen. Muß nächster Tag' was von Wichtigkeit mit ihm reden. Kann was machen in der Sach', der Herr Pfarr'. Aber halt, da die Gasse links hinauf müssen Sie, kommen dann direktement zum Pfarrhof. Bon soir, Monsieur! Haben uns aber nicht zum letztenmal gesehen, hoff' ich – courage

Wenige Minuten darauf stand ich an der Türe des heimelig-einsam im Mondschein daliegenden Pfarrhauses und zog die Klingel.

Ein Gebell, das viel zu gescheit und gesetzt klang, als daß es nicht von einem Pudel hätte ausgehen müssen, antwortete dem Schall der Hausglocke.

Wetter, dachte ich, sollte der alte Hannikel noch am Leben sein, den ich dem Fabian geschenkt, als ich ausgezogen, das Glück zu erjagen?

Eine alte Frau öffnete die Tür, und das Licht, welches sie in der Hand trug, zeigte mir die milden, gutmütigen und klugen Züge von Fabians Mutter. Das Alter war schonend mit ihr umgegangen, und in ihrer dunkelfarbigen Volkstracht, das graue Haar in der eigentümlichen Florhaube geborgen, kam sie mir fast unverändert so vor, wie ich sie vor Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Sie war ja glücklich, das Ideal ihres Lebens war verwirklicht, ihr Fabian war jetzt ein »geistlicher Herr«, ein Hairle – ja, sie war glücklich und das Glück konserviert seine Leute.

Zu ihrer Rechten befand sich wirklich der alte Hannikel, vorzeiten einer der famosesten Studentenhunde, der, nachdem er mich etwas Weniges beschnüffelt, sein hauswächterliches Knurren sogleich in altersschwache Freudebezeigungen verwandelte; zur Linken der alten Frau aber reckte ein großes zahmes Reh seinen schlanken Hals verwundert gegen den späten Gast aus und bewies mir durch seine Anwesenheit, daß mein Freund seine alte Liebhaberei für allerlei Getier und dessen Zähmung noch immer beibehalten habe.

»Gott grüß' Euch, Frau Margret!« sagte ich. »Was macht der Fabian?«

Die Angeredete hob das Licht in die Höhe, um mein Gesicht deutlicher zu sehen, und rief dann freudig überrascht aus:

»Herr Jesus, Ihr seid's, Ihr? Grüß' Gott tausendmal! Ach, Wird sich der Fabian freuen! ... Kommt, kommt! 's ist, wie wenn wir's g'ahnt hätten, denn noch ist keine Stunde 'rum, seit wir von Euch gesprochen, mein Herr Sohn und ich.«

Ich fühlte gar keine Neigung, darüber zu lächeln, daß Frau Margret, wie das im katholischen Oberland Ton und Brauch, den Fabian ihren »Herrn Sohn« nannte. Der Willkomm, den mir die alte Frau bot, war ein so herzlicher, er erinnerte mich Heimatlosen so sehr an die Heimat und all ihr verschwundenes Glück, daß ich gar keine Zeit hatte, es lächerlich zu finden, wenn Väter und Mütter von ihren geistlichen Söhnen so zeremoniös reden.

Frau Margret nahm mir mit gastfreundlicher Eile Hut, Stock und Tasche ab. Dann gab sie mir ein Licht und bat mich, ihren Sohn in seinem Studierzimmer, welches im oberen Stock lag, zu überraschen.

Während ich, von Pudel und Reh begleitet, welches unzertrennliche Genossen zu sein schienen, die Treppe hinaufstieg, hörte ich die gute Frau in der Küche der Magd Befehl geben, ein reichliches Nachtessen zu rüsten; »denn, denk' nur, Annele,« sagte sie, »des Herren sein bester Freund auf der Welt ist kommen.«

Ich erkannte Fabians alte Herzensstimme in dem gelassenen »Herein!«, welches meinem Anklopfen folgte. Eingetreten, sah ich den jungen Priester, eine Studierlampe vor sich, an seinem Schreibtische sitzen und der niedergelassene Lampenschirm, welcher das Gemach, mit Ausnahme eines kleinen Umkreises auf dem Schreibtische, in Dämmerung ließ, verhinderte den Freund, mich sogleich zu erkennen. Da ich stumm blieb, sah er erwartungsvoll von seinem Buch auf und mich ungewiß an, bis er, mich plötzlich erkennend, auffuhr, mit einem Freudensprung auf mich zukam, mich in die Arme schloß und laut ausrief:

»Du bist's, Bruderherz? Grüß' dich Gott, Kerle! Grüß' dich Gott, alter Michel! Bist's denn wirklich, altes, liebes, ungeheures Ungeheuer?«

Die studentische Reminiszenz in dieser Empfangsweise machte einen komischen Eindruck auf mich, welcher noch vermehrt wurde durch den Umstand, daß Fabian in seiner freudigen Hast vergessen hatte, seine lange Pfeife wegzulegen, die jetzt, von einer seiner Hände festgehalten, mir den Rücken hinabbaumelte und mich mit ihrer Mundspitze im Nacken kitzelte.

Nachdem ich Fabians Begrüßung erwidert hatte, mußte ich mich von ihm genauer besichtigen, so recht von unten bis oben begucken lassen, wobei er sagte:

»Du bist wahrhaftig noch gewachsen seit der Zeit, wo du unter die Priester Mammons, und ich unter die Priester Christi gegangen. Aber sag', woher kommt die garstige Falte zwischen deinen Augenbrauen? Die mußt du dir abgewöhnen, Alterle.«

Dann, auf den alten Hannikel deutend, welcher invalid, wie er war, an mir empor zu springen versuchte, setzte er hinzu: »Guck mal, das alte, treue Tier hat dich wiedererkannt.«

Und mit dem Pathos des Herzens begann er jene bekannten Verse aus der Odyssee zu deklamieren:

»Aber ein Hund lag dort und erhob sein Haupt und die Ohren,
Argos, Odysseus' Hund, des erduldenden, den er vordem selbst
Aufzog ...
Dieser, sobald nunmehr den Odysseus nah' er bemerkte,
Wedelte noch mit dem Schweif und herab auch senkt' er die Ohren.«

Als wir die ersten stürmischen Fragen und Antworten, welche sich bei zwei so guten alten Freunden, die sich lange nicht gesehen, auf die Lippen drängten, ausgewechselt hatten und nun etwas ruhiger auf dem Kanapee beisammen saßen, konnte ich das Gemach meines priesterlichen Jugendkameraden genauer mustern. Wäre nicht die Menge von Büchern gewesen, welche auf Repositorien, Tischen, Stühlen, Klavier und Boden herumlagen, so hätte man meinen können, man befände sich in einer Menagerie. Denn allenthalben stieß das Auge auf allerlei Käfige und Behältnisse, aus welchen ein seltsames Glucksen, Gackern, Pfeifen und Schnurren hervorkam. Die tiefen Fensternischen waren ihrer ganzen Länge und Breite nach zu Vögelwohnungen umgeschaffen worden, in welchen jetzt, bei zurückgeschlagenem Lampenschirm, ein ganzes Heer vielsortiger Singvögel piepsend umherflatterte. In einer Ecke kletterten ein paar Eichhörnchen an einer Stange auf und ab und neckten einen schlaftrunkenen Nußhäher, der oben auf derselben saß. Alles dieses sichtbare und noch anderes unsichtbare Getier machte, aus seiner Ruhe aufgestört, ein wunderlich Getöne, so daß mir Hören und Sehen vergehen wollte.

Der Pfarrer ergötzte sich einige Augenblicke an meiner maulaufsperrenden Bewunderung. Dann aber steckte er den Finger in den Mund und tat einen eigentümlichen Pfiff, welcher fast augenblicklich sämtliche Bestien verstummen und sich verkriechen machte.

»Wetter, Fabian,« sagte ich, »du scheinst deinem Tierbändigertalent, womit du vorzeiten meinem teuren Vater soviele Freude machtest, eine wahrhaft universelle Ausbildung gegeben zu haben. Das ganze Tierreich folgt ja sozusagen deinem Machtwort.«

»Was willst du?« versetzte Fabian. »Mit ein wenig Geduld und Erfahrung kommt man da weit, und dann war ich ja schon frühzeitig zu der Ansicht geführt worden, daß mit Tieren weit leichter umzugehen sei als mit Menschen.«

»Ich weiß, du hattest immer absonderliche Marotten; unter anderen auch die, dereinst als Pfarrer unter deinen Bauern eine Rolle zu spielen, wie sie laut Zschokkes Goldmacherdorf ein gewisser Oswald spielte.«

Ein bitterer Ausdruck verdüsterte für einen Augenblick die Züge des Geistlichen. Dann sagte er mit sauersüßer Betonung:

»Ach, lieber Junge, die Ideale sind zerronnen. Ich habe Tiere aller Arten gezähmt und, wie dein unvergeßlicher Vater zu sagen pflegte, wissenschaftlich gebildet. Aber was meine Bauern betrifft, ach Gott, da kam ich mit meinen humanisierenden Ideen schön an!«

»Du machtest also mit deiner Oswaldsrolle Fiasko?«

»Und wie! ... Guck', Alterle, ich, ein Priester der Religion, welche demokratische Gleichheit und Bruderschaft aller Menschen lehrt, sollte es eigentlich nicht sagen, aber es war doch nicht ohne, wenn unser alter Freund, der Kandidat Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel in seiner zynischen Weise eines Tages zu mir sagte, es gebe eben ein für allemal zwei Sorten von Menschen, nämlich Menschen-Menschen und Menschen-Viecher. Die letzteren zu vermenschlichen sei ganz unmöglich und sie seien eben dazu da, den ersteren zu Packeseln zu dienen.«

»Da solltest du erst meinen Freund Bürger hören – weißt du? den Herrn Hans Bürger, der mich damals im Heidelberger Schloßgarten verhinderte, einen kolossalen Unsinn zu begehen – ja, den solltest du hören, wenn er alle Segel seines Pessimismus aufgespannt, von dem gemeinen, niederträchtigen, schweinischen Haufen spricht, wie er das Volk schilt. Aber ich weiß, daß hinter der exzessiv aristokratischen Maske des Mannes eine republikanische Gesinnung blüht, hochrot, wie die Rosen um Pfingsten, und so möchte ich auch deinen Glauben an die zynische Weltanschauung Rumpels, von welchem ich dir allerlei erzählen werde, nicht für gar zu ernstlich gemeint halten. Was mich betrifft, so habe ich gelernt, die Volksschmeichler nicht minder zu verachten als die Fürstenschmeichler, und ich sehe daher die Koterie von Zeitungsschreibern, Literaten und Advokaten, welche auch in Deutschland einen Kultus des Proletariats etablierten, für noch mehr dumm als niederträchtig, für noch mehr närrisch als schuftig an. Aber bei alledem halte ich standhaft daran fest, mit Herder zu glauben: Alles wahrhaft Gute und Große kommt nur aus dem Volke.«

»Natürlich! Wo soll es denn überhaupt herkommen? Doch davon morgen mehr, wenn du willst. Jetzt komm, 's ist Zeit zum Nachtessen. Aber du mußt halt bedenken, daß du nicht mehr in Paris bist, und mit der Frohdorfer Küche vorlieb nehmen.«

»Bah, zum Teufel mit der Pariser Küche! Sie ist akkurat wie all das französische Wesen – Phrasenzeug, Wind, Schwindel! Und meinst du denn, ich habe vergessen, wie deine Mutter in alten Zeiten zu kücheln wußte? Beim Jupiter, ich rieche schon den Duft der Sträuble. Sie sollen bis auf die letzte Krume vertilgt werden, verlaß dich drauf!« Ich hielt Wort, und zwar nicht nur in Beziehung auf die Sträuble. Das Essen war vortrefflich, und dankbaren Gemütes bemerke ich, daß ich in einem katholischen Pfarrhause überhaupt nie schlecht gespeist habe. Die protestantische Theologie war nach dieser Seite hin ganz unzweifelhaft im Rückschritt.

Während der Mahlzeit erzählte ich mein Zusammentreffen mit dem Courage und was sich bezugs des Bronnenbauers, des Jages und des Vefele daran knüpfte. Frau Margret hörte mir aufmerksam zu, und ich fand, daß sie eine eifrige Patronin des Vefele sei. Sie konnte das Mädchen nicht genug loben. Dessenungeachtet aber bemerkte sie, die »Bekanntschaft« der beiden jungen Leute sei allerdings eine hoffnungslose, denn daß der einzige Sohn eines der reichsten Bauern im Oberland ein so blutarmes Mädchen heirate, das wäre etwas geradezu Unerhörtes, ginge gegen alle Kleiderordnung. Fabian bestätigte die Meinung seiner Mutter und fügte hinzu, es wäre fürs Vefele am besten, wenn sie ganz aus dem Dorf wegginge. Denn der Bronnenbauer sowohl als sein Nachbar, der Luixenbauer, seien ein paar schlimme Kameraden, denen nicht gut im Wege stehen sei.

Mit dem Freund auf seine Stube zurückgekehrt, hielt ich das Gespräch über die beiden Liebenden, welche mir Interesse und Mitleid eingeflößt hatten, fest und fragte zuletzt meinen Freund, ob er denn nichts für sie tun könne.

»Kaum,« gab er zur Antwort, »und das bedaure ich, denn der Jages freut mich als ein durch und durch braver Bursch, der ein Weib, wie das Vefele eins abgeben würde, wohl verdiente. Allein du kennst die hochmütige Halsstarrigkeit unserer Bauern nicht, die durchaus nicht soviel mit den weichen Gefühlen des Herzens zu schaffen haben, wie verrückte Poeten glauben oder wenigstens die Leute glauben machen wollen. Und dann, weißt du? kann ich mich als Priester nicht allzusehr mit den Wirrnissen abgeben, die ein so heidnischer Gott, wie der Amor ist, anrichtet.«

»Aha!« versetzte ich lachend. »Aber, lieber Junge, ich erinnere mich recht wohl der Zeit, wo du mit dem genannten heidnischen Gott weit mehr zu tun hattest als mit dem ganzen christlichen Olymp.«

Ich bereute das Scherzwort auf der Stelle, denn ich konnte leicht bemerken, daß ich in der Brust meines Freundes eine Saite angeschlagen, welche noch jetzt schmerzlich vibrierte.

Der Pfarrer hatte die Hände in den Schoß sinken lassen, den Kopf auf die Brust geneigt und seufzte schwer.

Ich faßte seine Hand und sagte:

»Verzeih' mir, Fabian, es war ein unbesonnenes Wort. Aber weißt du? ich glaubte, es sei längst vorbei damit, gänzlich vorbei.«

»Es ist vorbei, gewiß, es ist!« entgegnete Fabian, indem er sich aufrichtete und sein Gesicht wieder seinen gewöhnlichen Ausdruck annahm.

Und als ich ihn teilnehmend ansah, fuhr er sich mit der Hand über die Stirne, setzte sich ans Klavier, schlug die Tasten an und sagte:

»Ich habe gekämpft und gesiegt, und Ruhe war der Siegespreis. Kennst du es noch, das Lied, womit ein leidenschaftlich Poetenherz unseres Heimatlandes seine wilden Pulse in Schlummer sang?

Die Ruh' ist wohl das beste
Von allem Glück der Welt;
Was bleibt vom Lebensfeste,
Was bleibt dir unvergällt?
Die Rose welkt in Schauern,
Die uns der Frühling gibt;
Wer haßt, ist zu bedauern,
Und mehr noch fast, wer liebt.

Es trübt den eignen Frieden
Mit seiner Glut das Herz;
Das Kind ist nicht zufrieden,
Dem Mann bleibt nur der Schmerz.
Und hofft umsonst vom Meere,
Vom Weltgetümmel Ruh';
Selbst Lorbeer, Ruhm und Ehre
Heilt keine Wunden zu.

Nun weiß ich auf der Erde
Ein einzig Plätzchen nur
Wo jegliche Beschwerde
Im Schoße der Natur,
Wo jeder eitle Kummer
Dir wie ein Traum zerfließt
Und dich der letzte Schlummer
Im Bienenton begrüßt ...

»Doch,« unterbrach er sich im Gesang und Spiel, »wozu Kirchhofsgedanken? Das Leben will ja doch gelebt sein, so, wie es einmal ist. Und glaube mir, alter Freund, wenn man nur bescheidene Ansprüche an dasselbe macht, benimmt es sich zum Dank auch ziemlich anständig gegen uns. Wenn es überhaupt ein Glück gibt, so ist Selbstbegnügung sein Name. Unsere Leidenschaften, selbst die besten, was sind sie im Grunde anderes als Fieberzustände? Glücklich, wer davon genesen! Und dann vollends unser Titanismus – wie lächerlich ist er! Wie töricht ist es, mit einem so schwachen Ding, wie der menschliche Schädel ist, gegen die granitne Rätselmauer anzurennen, welche keinen Durchgang gestattet!«

»Da hast du sehr recht.«

»Auch du bist also dem Prometheismus, Faustismus, Byronismus oder wie die Ismen sonst alle heißen mögen, glücklich entronnen?«

»Längst. Ich habe es satt bekommen, Fragen aufzuwerfen, auf welche einem ja doch nie eine Antwort wird. Es hat ohne Zweifel sein Gutes, daß wir Deutsche uns soviel mit diesen Fragen beschäftigen; aber während wir uns sozusagen ins himmelblaue Jenseits hineinfragten, haben uns die Engländer, die Franzosen und die Russen gar viel vom Diesseits vor der Nase weggenommen. Nun, wir können's nicht ändern.«

»Du kommst mir sehr resigniert vor, lieber Michel.«

»Ich bin es auch, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Habe ich doch in kurzer Zeit ein gutes Stück vom Leben gesehen und bin ich nicht mehr in dem Alter, wo

Was Phantasie entwirft, das Herz verspricht ...

Mit den übersinnlichen Fragen beschäftige ich mich, wie schon gesagt, gar nicht mehr ernstlich, und wollen sie von Zeit zu Zeit wieder in mir auftauchen, so schlag' ich sie ohne Umstände auf den Kopf mit den Versen des witzigen Franzosen:

D' où nous venons on n'en sait rien;
Où nous allons, le sait-on bien!
«

»Sieh da, du zitierst einen Franzosen. Hast du dich in Paris mit ihnen ausgesöhnt?«

»Nein; aber weißt du? sie wollen doch auch leben.«

»Das ist wahr,« sagte Fabian zerstreut.

Ich hatte wohl gemerkt, mit welcher gewaltsamen Wendung er das Gespräch auf das Feld der Trivialitäten gelenkt hatte, worauf wir uns in den letzten Sekunden bewegten. Und zwar lässig genug, denn beide waren wir mit unseren Gedanken anderswo.

Nach einer Pause fragte Fabian plötzlich: »Und Hildegard?«

»Daß sie in Gnadenbrunn lebt, weißt du?«

»Ja, aber wie?«

»Getrost in ihrem Glauben. Auch sie hat gekämpft und überwunden.«

»Und sie ist entschlossen, Profeß zu tun.«

»Ja, aber sie wird ihr mir gegebenes Wort halten, den unwiderruflichen Schritt erst drei Monate nach dem dritten Jahrestag vom Tode unseres Vaters zu tun. Doch sie wird ihn tun, fürcht' ich.«

»Hast du Berthold nie zur Rede gestellt?«

»Wie sollt' ich? Ja, hätt' ich auch nur den Schatten eines Schattens von Grund dazu gehabt, er sollte mir nicht entgangen sein, obgleich er der Bruder Isoldes ist. Aber Berthold konnte in der Tat nichts dafür, daß die arme Hildegard aus einer ganz kindischen Liebelei eine Leidenschaft werden ließ, die ihr das Herz brach oder ihr wenigstens die Welt verleidete. Im übrigen ist der Weltekel meiner Schwester gar kein finsterer, trübsinniger. Wenigstens scheint sie, ihren Briefen nach zu schließen, in Gnadenbrunn ihre angeborene Munterkeit wiedergewonnen zu haben. Es ist in ihren Episteln oft ein Zug von Humor, um nicht zu sagen von Schelmerei. Sie scheint die guten Klosterschwestern alle am Schnürchen zu haben und der allgemeine Liebling zu sein. Vielleicht ist es am besten für sie, nach der einen großen Täuschung ihres Lebens keine weitere mehr erfahren zu müssen.«

Fabian unterdrückte einen Seufzer.

»Aber Berthold?« fragte er dann.

»O, was diesen angeht, so ist er lange schon zu den Hefen des schäumenden Lebensbechers gelangt, den er mit so gieriger Hast geleert hat, und diese Hefen schmecken bitter. Ich fürchte, er ist sehr unglücklich, und zwar nicht allein deshalb, weil er, wie er mir bei unserem letzten Zusammentreffen gestand, aus einem nach unserem landesüblichen Maßstab sehr reichem Freiherrn ein sehr armer Rittmeister geworden ist. Unter uns, ich vermute stark, daß ihm kein Dachziegel des Schlosses Rothenfluh mehr gehört.«

»Herrgott, wenn das der selige Freiherr wüßte!«

»Ja, siehst du, daß es zuweilen auch sein Gutes hat, wenn ein Gewehr zur Unzeit losgeht? Ich erzähle dir wohl gelegentlich von unserem Jugendkameraden. Er dauert mich trotz alledem sehr.«

»Und Isolde?«

»Ich weiß von ihr nur durch Hildegard, welche fast täglich mit ihr zusammen ist. Denn Isolde lebt nach dem Tode des Freiherrn auf dem einsamen Hofgut Lindach, droben in den Bergen, ganz in der Nähe von Gnadenbrunn, weißt du?«

»Ist das alles?« fragte mein Freund und blickte mir forschend ins Gesicht.

»So ziemlich alles, was ich weiß. Aus Hildegards Briefen erhellt, daß meine Schwester ihre Freundin Isolde wie eine Heilige verehrt.«

»Wohl, wohl; aber du? Wie stehst du zu Isolde?«

»Ich? Was fällt dir ein, so spät noch danach zu fragen? Vielleicht sprechen wir morgen davon. Für heute bin ich zu müde. Es ist eine lange Geschichte oder auch gar keine, wenn du willst. Und damit gute Nacht, Fabiane.«


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