Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Eine Stunde musikalischer Träumerei im Gartensaal. – Erscheinung des genius loci. – Julies Park. – Leidenschaft und Passionen. – Die dritte Überraschung unter Herrn Kipplings Dach. – Schwester und Bruder. – Herr Kippling junior.

Als mich Herr Bürger verlassen hatte, ging ich nach dem Pavillon zurück, in der Absicht, in mein Zimmer hinaufzusteigen und einen recht guten Brief an Isolde zu schreiben. Aber es stand in den Sternen oder sonstwo geschrieben, daß ich heute nicht dazu kommen sollte.

Indem ich nämlich an dem Portikus des Pavillons vorüberging, bemerkte ich zufällig, daß die auf die Vorhalle herausgehende Flügeltüre des schönen Saales, welcher das Erdgeschoß einnahm, offen stand. Geschah es nun aus Neugierde oder geschah es »in Gedanken« – das Seltsame, was in der soeben von mir mit angesehenen Begegnung Bürgers mit dem Fabrikarbeiter lag, gab mir zu denken – genug, ich stieg die Stufen hinan und trat in den hallenden Saal. Hallend nenne ich ihn, weil das Geräusch meiner Tritte auf dem spiegelglatten, zierliche Arabesken formierenden Parkett in der halbbogenförmigen Wölbung des Plafonds widerhallte. Ein geschickter und üppiger Pinsel hatte Decke und Wände des großen, eirunden Gemaches mit orientalischen Landschaften und Lebensbildern geschmückt, unter welchen letzteren mir zwei Gruppen, tanzende und badende Hindumädchen, durch ihre kecke Behandlung auffielen. Dem Eingang gegenüber öffneten sich drei große, bis auf den Boden heranreichende Bogenfenster auf eine Veranda, von welcher aus eine breite Treppenflucht an den See hinabführte. Am Fuße der Treppe schaukelten sich zwei kleine, äußerst zierlich gebaute und bemalte Barken auf dem Wasser wie in einem Hafen. Denn der See bildete hier eine kleine Einbuchtung.

Die schweren dunkelroten Seidengardinen, welche die Fenster großenteils verhüllten, ließen in dem Saal nur eine anmutig heimelige Dämmerhelle aufkommen. An den beiden Enden des Raumes standen in Nischen breite orientalische Diwane von Rosasammet, mit Tigerfellen davor, und in der Mitte auf einem großen türkischen Teppich ein kostbarer Flügel. Der Deckel war zurückgeschlagen, und auf dem Notenhalter befand sich ein offenes Musikheft. Zur Seite lagen ein Paar Damenhandschuhe und ein kleiner Sonnenschirm von weißem Atlas auf dem Instrument, als wäre die Eigentümerin soeben von dem prachtvoll gestickten Taburett aufgestanden, welches vor dem Flügel stand.

Als ich das erwähnte Zubehör einer Damentoilette gewahrte, wollte ich mich zurückziehen. Aber ein weiterer Blick überzeugte mich, daß weder eine Dame noch sonst jemand außer mir in dem Saale sich befand, und so unterließ ich den Rückzug. Die Wahrheit zu sagen, das Instrument lockte mich. Es war lange her, seit ich keine Klaviatur mehr berührt hatte, und nachdem ich mein Bedenken, ob ich wohl keine Indiskretion beginge, mit der Tatsache meines Alleinseins beschwichtigt hatte, setzte ich mich vor den Flügel.

Das aufgeschlagene Musikheft wies eines jener heutzutage gang und gäben Salonstücke, deren Leere sich hinter Seilgaukelei versteckt. Unsere ihrem innersten Wesen nach musikalisch unproduktive Zeit schafft, nein, macht eine Masse solcher Dinger, in welchen eine auf die Folter gespannte Technik statt des Schönen nur Verkünsteltes oder geradezu Fratzenhaftes liefert. Ich versuchte einige der verzweifelten Läufe zu spielen, fand aber, daß dazu meine Finger lange nicht lang und gelenkig genug wären. So holte ich denn aus meinem Gedächtnis einige jener guten alten Themata von Gluck und Mozart hervor, welche die Lieblingsstücke meiner geliebten Mutter gewesen waren, und spielte sie durch. Darunter war besonders eins, das die Mutter vor allen anderen gern gespielt hatte. Ich erinnerte mich einer glücklichen Stunde, wo sie dabei von Isolde auf der Harfe begleitet worden war, und mich in die seelenvollen Klänge versenkend, sah ich wieder das teure Mädchen vor mir, wie es in der ganzen Anspruchslosigkeit seiner angeborenen Grazie hinter der Harfe saß, das schöne Antlitz etwas vorgebeugt und mit den feinen weißen Fingern die Saiten meisternd.

So in der Vergangenheit schwelgend, vergaß ich Ort und Stunde und fuhr daher erschrocken aus meiner musikalischen Träumerei auf, als ein Händeklatschen hinter mir ertönte.

Aufspringend wandte ich mich um und wäre fast an Fräulein Julie angeprallt, die nur ein paar Schritte hinter mir stand, reizend, ach, wie reizend! in ihrer eleganten Morgentoilette, ihr schalkhaftes Lächeln auf den Lippen und noch immer mit den zierlichen Händen klatschend.

In meiner Bestürzung über diese plötzliche Wiedererscheinung vergaß ich ganz, daß ich vor allen Dingen meine Anwesenheit an diesem Orte entschuldigen müßte, und sagte ziemlich dämisch:

»Mein Gott, mein Fräulein, wie kommen Sie –«

»Wie ich hierher komme?« unterbrach sie mich lachend. »Das ist lustig! Herr Bürger würde sagen: ›Rechne, daß ich in mein Musikzimmer kommen darf, auch wenn dasselbe von einem fremden Eroberer okkupiert sein sollte – 's ist klar.‹«

Trotz meiner Verlegenheit konnte ich mich doch kaum enthalten, hellauf zu lachen über die Geschicklichkeit, womit die Schöne Ton und Sprechweise Bürgers nachahmte.

»In Ihr Musikzimmer, Fräulein?«

»Nun ja, sofern meines Vaters Tochter den Gartensaal ihres Vaters den ihrigen nennen darf. Aber bitte, mein schöner Herr, machen Sie doch keine so schrecklich großen Augen, als wollten Sie mich damit verschlingen.«

»Mein Fräulein, ich bitte tausendmal um Entschuldigung. – Sie wären?«

»Julie Kippling, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Julie Kippling?«

»Ebendieselbe. Sie werden doch nicht so ungalant sein, an meiner Existenz zu zweifeln? Oder doch? ... Nun, da muß ich Ihnen zum Willkomm schon meine Hand geben, damit Sie sich von meiner Wirklichkeit überzeugen können.«

Und sie gab mir wirklich die allerliebste, weiche, feuchtwarme Hand, welche – war es so, oder bildete ich mir es bloß ein? – den schüchternen Druck der meinigen erwiderte.

Ihre Hand zurückziehend, sagte sie:

»Eigentlich, Herr Hellmuth, sollten wir einander erst kennen, wenn Sie mir, was heute vor Tische geschehen wird, durch meinen Vater vorgestellt sein werden. Ich hoffe auch, in Parenthese gesagt, Sie werden bei diesem bevorstehenden feierlichen Aktus eine möglichst zeremoniöse Miene annehmen und, wenn ich bitten darf, noch ein bißchen hölzerner dastehen als vorhin. Da wir uns aber doch schon früher in einer Gegend, wo es Gießbäche und perfide lose Steine gibt, einander vorgestellt haben –«

»Ach, woran erinnern Sie mich, mein Fräulein!«

»An Tage, die recht schön waren, aber – vergangen sind. Zwar noch lange nicht ganz zahm, noch lange nicht, Gott sei Dank! bin ich doch nicht mehr pensionärisch wild, und es müßte mich einer durch ganz andere Fährlichkeiten führen, als die einer Wanderung vom Gießbach bis zu der Wengernalp sind, bevor er seinen Führersold ausgezahlt erhielte.«

Sie sah mich bei diesen Worten streng, fast böse an, und ihre sonst so verführerisch geöffneten Lippen waren hochmütig geschlossen, ja fast gekniffen.

Erkältet trat ich einen Schritt zurück und versetzte:

»Mein Fräulein, ich kenne meine Stellung in diesem Hause. Die Tochter desselben hat von dem Kommis ihres Vaters nicht zu befürchten, daß er sie auch nur durch einen Blick, geschweige durch ein Wort an eine Zeit erinnern werde, wo sie noch bloß Julie und er noch kein Kommis war.«

Während ich sprach, war ihre Miene schon wieder eine andere geworden, und mit dem Lächeln, das, wie sie wohl wußte, ein unwiderstehlich verführerisches war, sagte sie:

»Wenn ich König Philipp wäre und Sie der Marquis Posa, so würde ich sagen: ›Stolz lieb' ich den Spanier!‹ Aber ich bin nur ein passabel hübsches und nicht gerade einfältiges Mädchen, welches von seiner leider zu frühe verstorbenen Mutter nicht erzogen und, wie die Leute meinen, von seinem Vater verzogen wurde. Sie brauchen daher gar nicht so sauer zu sehen. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß ich auch weiß, was Anstand und Konvenienz ist. Zudem sind Sie nicht in mich verliebt, nicht wahr?«

»Nein!« versetzte ich erbittert, denn ich fühlte, daß ich von vornherein alles aufbieten müßte, um nicht ein Spielzeug dieses Mädchens zu werden.

Sie lachte, und während dieses Lachens spielte der unheimliche Eidechsenzug um ihre Mundwinkel, und ihre in unbeschreiblich koketter Weise durch die halbgesenkten Lider verschleierten Augen sprühten Feuer auf mich.

Schon im nächsten Moment war aber wieder alles anders an ihr. Die Grübchen der reizendsten Schelmerei erschienen abermals auf ihren Wangen, und im Tone zwanglosester, unbefangenster Munterkeit bemerkte sie:

»Sie hätten mir das auch ein bißchen höflicher sagen können und nicht so bärenmäßig grimmig. Aber wenn ich nun meinerseits in Sie verliebt wäre, schöner Herr, wie dann? Besinnen Sie sich auf eine passende Antwort und, bitte, verraten Sie mich inzwischen nicht an den sehr gestrengen und hochachtbaren Herrn Bürger. Er könnte eifersüchtig werden, der gute alte Knabe; denn Sie müssen wissen, er ist in mich verliebt, ganz ungeheuer verliebt. Das ist eine Tatsache, zugleich aber auch ein Geheimnis, das Herr Bürger vor anderen und auch vor sich selber wie ein Drache hütet. Ich teile es Ihnen mit, damit Sie wissen, was Sie davon zu halten haben, wenn Herr Bürger gegen mich loszieht.«

»Wie könnte er sich einfallen lassen, gegen Sie loszuziehen, Fräulein? Er muß Sie ja liebenswürdig finden wie alle –«

»Männer, wollen Sie sagen? Sie haben mir vom Anfang unserer Bekanntschaft an noch nie so etwas Triviales gesagt, mein lieber Herr Hellmuth. Sie sehen, ich habe ein gutes Gedächtnis und bin aufrichtig, so aufrichtig, daß mich so ziemlich die gesamte Damenwelt hiesiger Stadt gründlich haßt. Die Männer freilich sind, wie Sie sagten, mit Ausnahme von Ew. Hochwohlgeboren, sämtlich in mich verliebt, und ich wäre manchmal versucht, darüber recht eitel zu werden, könnte ich nur des fatalen Umstandes vergessen, daß mein Vater ein Millionär ist. Schade, daß heutzutage die Goethe nicht mehr gedeihen wollen. Wären Sie z.B. ein Goethe, so könnten Sie als Seitenstück zu ›Lilis Park‹ einen ›Julies Park‹ dichten. An Stoff würde es Ihnen wahrlich nicht fehlen: meine Menagerie ist ganz vortrefflich assortiert. Wissen Sie? ...

Welch ein Geräusch, welch ein Gegacker,
Wenn sie sich in die Türe stellt
Und in der Hand das Futterkörbchen hält!
Welch ein Gequiek, welch ein Gequacker!
O, wie sie hüpfen, laufen, trappeln,
Mit abgestumpften Flügeln zappeln,
Die armen Prinzen allzumal
In nie gelöschter Liebesqual ...

Denn, mein Herr Hellmuth, die Tiere in Julies Park sind lauter Prinzen, Prinzen aus Genieland nämlich, und Sie werden heute bei Tische Gelegenheit haben, etliche Haupttiere kennen zu lernen, als da sind – wenn mir die Einladungsliste gegenwärtig ist – erstens der Herr Doktor Gaukel, ein europäischer, was sag' ich? ein Weltvirtuos, welcher die Gräfinnen und Herzoginnen, die ihn geliebt, zu Dutzenden an den Fingern herzählen kann und dem eine deutsche Fakultät den Doktorhut aufgesetzt hat, wahrscheinlich als Fallhut, auf den unglücklichen Fall hin, daß er einmal in einer seiner Verzückungen vom Klavierstuhl fallen sollte; zweitens Herr Schwarbel, ein musikalischer Heiland und Zukunftstyrann, von dem die Musiker sagen, er sei ein großer Schriftsteller, und die Schriftsteller, er sei ein großer Musiker; drittens Herr Professor Zarkle aus Schmierfeld, Vorsteher eines Spittels für invalide Köter, die früher kritisch gebellt haben; viertens Herr Schmirkli, Diakonus oder, wie wir sagen, Helfer bei Sankt Damian dahier, ein Stück hölzernen Eisens, will sagen ein liberaler Theolog, der einfältig tut wie die Tauben, aber klug ist wie 'ne Schlange und gewiß Tag für Tag bei Franken und Rappen berechnet, wieviel ich als Frau Helferin ihm zubringen könnte.«

So plauderte Fräulein Julie, mit lässiger Anmut sich auf dem Diwan wiegend und mit der Spitze eines mir noch von alters her in guter Erinnerung gebliebenen allerliebst schmalen Füßchens das Tigerfell zerwühlend. Ich stand vor ihr und hörte mit Vergnügen ihren Sarkasmen zu und sah ihr mit nicht geringerem Vergnügen in die tiefschwarzen, von Laune und Bosheit funkelnden Augen.

»Fünftens,« fuhr sie fort, »der große Professor Düngerling, Erfinder der berühmten Lehre, daß der Kreislauf des Lebens vom Kot ausgehe und zum Kot zurückkehre. Die alte Bibel wußte das auch schon, nur sagte sie anständigerweise Staub statt Kot. Sechstens der ›pyramidalische‹ Redakteur der ›Konservativen Hetzpeitsche‹ –«

»Was? Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel – auch der?«

»Freilich. Kennen Sie ihn?«

»Ja.«

»Ein ganz gemeiner Schuft, sonst aber ein unterhaltendes Tier, das wenigstens mit einigem Humor zu lügen versteht. Doch genug jetzt vom Tierreich! Es hat mich angenehm überrascht, Herr Hellmuth, daß Sie Musik treiben. Ich tue es auch, das heißt zuweilen, so nach Lust und Laune, wie eben, sagen die Leute, Julie Kippling alles zu treiben pflegt. Vorigen Sommer trieb ich das Reiten mit Leidenschaft und hätte dabei ums Haar den Hals gebrochen. Diesen Sommer über denke ich das Schwimmen zu kultivieren. Was für eine noble Passion dann an die Reihe kommen mag, wollen wir dahingestellt sein lassen. Übrigens, Herr Hellmuth, was halten Sie von Passionen?«

»Die Leidenschaft, mein Fräulein –«

»Die Leidenschaft? Bah, mein Herr, es gibt dermalen keine Leidenschaft mehr, es gibt nur noch Passionen, und das ist bequem, denn damit kann man jährlich oder monatlich oder wöchentlich wechseln wie mit Toilettemoden. Was halten Ew. Hochwohlgeboren von der Passion der Liebe?«

Sie ließ mir wieder keine Zeit, die Frage zu beantworten, sondern mit einer komischen Modulation ihres biegsamen Organs, dessen Ausdruck so veränderlich war wie der ihrer Züge, deklamierte sie:

»Die Gräfin spricht wehmütig:
›Die Lieb' ist eine Passion!‹
Und präsentieret gütig
Die Tasse dem Herrn Baron.«

Und mich mutwillig anlachend, setzte sie hinzu:

»Sie spielten vorhin so schwermütig elegische Variationen. Das Thema hieß wohl Frau Ziegenmilch, nicht?«

»Nein. Es war ein gutes altes Thema, welches meine teure Mutter oft und gern gespielt hat.«

Fräulein Julie fixierte mich scharf und sagte dann in possenhaftem Ton:

»Ihre Mutter, Herr Hellmuth, muß eine schöne Frau sein.«

»Sie war schön und gut, ein Herz ohne Falsch. Sie ist tot.«

»Sie haben Ihre Mutter sehr geliebt, Herr Hellmuth?«

»Ich liebe sie noch.«

»Über Tod und Grab hinaus?«

»Immer!«

Fräulein Julie senkte die Augen, eine Wolke flog über ihre Stirne hin, und nach einer nachdenklichen Pause sagte sie:

»Es muß schön sein, eine Mutter zu haben – so ein Herz, dem man ganz, o, so ganz vertrauen kann.«

In dieser Äußerung und der Art, wie sie getan wurde, lag so viel Gefühl, lag etwas wie innige Sehnsucht und verhaltene Klage, daß ich mich verleiten ließ, zu erwidern:

»Es gibt solche Herzen, mein Fräulein.«

Ich bereute es auf der Stelle, denn als Fräulein Julie wieder zu mir aufblickte, guckte ein Teufelchen des Spottes aus ihrem Auge.

»Meinen Sie?« entgegnete sie. »Schlägt am Ende ein Herz von der fraglischen Sorte in der Brust eines gewissen Herrn Michel Hellmuth? Nun, Zeit bringt nicht nur Rosen, sondern sie prüft und probt auch die Herzen. Inzwischen bitte ich Sie, das Instrument dort als zu Ihrer Verfügung gestellt anzusehen. Sie werden mir wohl erlauben, auch dann und wann hierher zu kommen, und dann machen wir, falls es Ihnen beliebt, Musik mitsammen. Ich denke, es macht sich zweisam nicht schlechter Musik als eine Bergfahrt. Nur hüten Sie sich dabei, auf den Tasten auszugleiten, wie ich damals auf den Steinen ... Doch sehen Sie, mein Herr, da kommt mein Bruder Theodor. Ich will Sie mit ihm bekannt machen.«

Tadellos angezogen, von dem hohen Hutzylinder bis hinab zu den Glanzstiefeln, ein dünnes Röhrchen mit goldenem Knopf in der Rechten, in der Linken eine brennende Zigarre, die Lorgnette regelrecht nach der Mode in den Winkel des rechten Auges gekniffen, kam ein junger Mann durch den Saal geschlendert, von dem man hätte sagen können, was Heine irgendwo von einem Minister Louis Philipps sagte, er sähe aus wie ein Schulknabe durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Aber es mußten allerlei Schulen gewesen sein, durch welche Herr Theodor Kippling gegangen, bedenkliche mitunter, denn sein der Form nach unreifes Knabengesicht hatte einen unverkennbaren Ausdruck von Überreife, fast von Greisenhaftigkeit, und wenn man diesen Ausdruck mit den entnervt schmächtigen Umrissen seines Unterkörpers und der vorgebeugten Haltung des schmalschulterigen Oberkörpers, endlich mit dem näselnden Organ und der schleppenden Redeweise des jungen Mannes zusammenhielt, gewann man ein keineswegs anziehendes Bild.

Man konnte sich keinen größeren Kontrast denken als den zwischen dem einzigen Sohne des Hauses Kippling und der einzigen Tochter desselben. Sie strahlend von Gesundheit, Schönheit, Mutwillen und Übermut; er im ersten Mannesalter schon hinfällig, verwüstet, in den dunkel umränderten, tief in ihren Höhlen liegenden Augen einen glasigen Blick, der feig und frech zugleich war. Dumm und gemein sah indessen Herr Kippling der Jüngere nicht aus. Es lag neben deutlich ausgeprägter Sinnlichkeit auch Schlauheit in seinen Zügen, und zwar eine Schlauheit, die sich ohne Zwang das Aussehen von Kordialität zu geben vermochte, und was sein Gebaren betrifft, so bewies dasselbe, daß er in der Schule des Lebens wenigstens das savoir vivre gelernt, seit der Zeit, wo ich im Heidelberger Schloßgarten die erste Bekanntschaft mit ihm gemacht hatte.

Ja, lieber Leser, das war nun schon die dritte Überraschung, die ich im Hause Kippling erfuhr. Der Sohn meines Chefs war dieselbe Person, welche damals in Heidelberg vor den Folgen einer knabenhaften Flegelei so schmählich Reißaus genommen hatte. Man kann sich also leicht denken, daß mir nicht sehr gemütlich zumute war, als seine Schwester mir den jungen Herrn vorstellte. Ihm war oder wurde vielmehr ebenfalls ungemütlich, denn die Nennung meines Namens hatte ihn ganz gleichgültig gelassen, und wahrscheinlich verhinderte ihn sein Augenglas, mich genau zu sehen. Wenigstens erkannte er mich sogleich, als bei der kleinen Verbeugung, die er mir machte, die Lorgnette seinem Augenwinkel entfiel. Ich merkte das an seinem hastigen Zurücktreten und an dem zwischen Schrecken und Wut schwankenden Blick, den er auf mich schoß.

»Dieser Mensch wird mein Feind sein,« dachte ich.

»Die Herren kennen sich bereits?« fragte Fräulein Julie, welcher die Bewegung des Bruders nicht entgangen war.

Ich schwieg, aber Herr Theodor Kippling erwiderte mit augenblicklich wiedergewonnener Fassung:

»Nein, aber Herr Hellmuth hat eine frappante, eine wirklich frappante Ähnlichkeit mit jemand, welchem ich schon begegnet sein muß, ich weiß nur im Augenblick nicht, wann oder wo.«

»Hm,« sagte Julie, die, wie ich schon jetzt merkte, ihren Bruder sehr souverän behandelte, »hm, mir schien, als wolltest du vor Herrn Hellmuth davonlaufen.«

»O,« gab Herr Kippling spitz zurück, »ich bin zwar nicht so heroisch organisiert wie meine Amazone von Schwester, allein ich stimme doch ganz mit ihr in der Ansicht überein, daß unser neuer Herr Korrespondent keineswegs zum Davonlaufen aussieht.«

»Keinen deiner Kaffeehausspäße, wenn's beliebt!« sagte Julie hoch herab.

»Späße, ma chère soeur? Behüte Gott! Es kann niemand besser wissen, daß mit dir nicht zu spaßen ist, als dein gehorsamer Diener und Bruder.«

So sprechend ging er auf mich zu, bot mir die Hand und sagte mit kordialem Ton, soweit nämlich sein Ton überhaupt ein solcher sein konnte:

»Mein lieber Herr Hellmuth, ich habe soeben von meinem Vater und von Herrn Bürger, welcher Ihre Qualitäten höchlich rühmte, erfahren, daß Sie gestern in unser Kontor eingetreten sind. Erlauben Sie, daß ich Sie auch meinerseits willkommen heiße, wie, sehe ich, meine liebe Schwester ihrerseits schon getan. Wahrscheinlich hatte sie früher schon die Ehre, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.«

»Wie albern!« entgegnete statt meiner Fräulein Julie. »Dein Hokuspokus, den Spieß umzudrehen, ist doch gar zu plump. Ihr beide habt euch schon früher gesehen, ich bleibe dabei, und weil ihr euch einbildet, mir etwas weismachen zu können, so entziehe ich euch sofort das Glück meiner Gegenwart.«

Und halb im Ernst, halb im Scherz grüßte sie mich mit der majestätischen Handbewegung einer Königin und tanzte graziös hinweg.

Herr Kippling sah ihr nach, lachte laut, als sie in der Türe verschwunden war, klatschte sich mit seinem Stöckchen die dürftige Wade, hielt dann den Knopf desselben, eine in Gold ziselierte freche Zote, an die Nase und sagte in seinen gedehnten Nasallauten:

»Was doch die Weiber für einen verteufelt scharfen Blick haben! Hab' ich mich denn wirklich so – nun ja, so einfältig benommen, Herr Hellmuth, als ich vorhin Ihr wertes Gesicht plötzlich wieder erblickte?«

»Nicht daß ich wüßte, Herr Kippling. Gewiß sah ich ebenso frappiert aus wie Sie.«

»Ja, das Zusammentreffen war auch frappant, wennschon nicht in dem Grade, wie bei einer gewissen früheren Gelegenheit. Aber lassen Sie sich vor allem sagen, daß meine Schwester eine Zauberin ist, die es den Männern im Handumdrehen antut, wenn sie will. Ich selber, wenn ich nicht das Glück oder, wenn Sie wollen, das Unglück hätte, ihr Bruder zu sein, würde mich schon hundertmal in sie verliebt haben. Solche urbiblische oder urpatriarchalische Verhältnisse sind aber jetzt nicht mehr comme il faut, und daher kann ich Sie recht uninteressiert warnen: nehmen Sie sich vor Julie in acht oder sie wird Ihnen höllisch mitspielen. Aus dieser vertraulichen Warnung können Sie entnehmen, daß ich ein unmenschlich guter Kerl bin, und so hoff' ich, Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich vorschlage, alte dumme Studentenschnurren vergessen sein zu lassen. Sie sind inzwischen Geschäftsmann geworden, ich bin es auch, und Geschäftsleute sehen Champagnerexzesse und ihre Folgen aus einem anderen Gesichtspunkte an als Studenten. Jener Exzeß hat mir übrigens mehr Geld gekostet als irgend ein anderer, Schmerzensgeld. Denn der ci-devant-Senior, welcher so dumm war, seine Visage statt der meinigen Ihrem Säbel hinzuhalten, und welcher jetzt als armer Teufel von Arzt ohne Patienten in einem der Seedörfer lebt, pumpte und pumpt mich bei jeder Gelegenheit an, was ich großmütig geschehen lasse. ... Summa Summarum, nichts hindert uns, recht gute Freunde zu werden, um so mehr, da wir nicht allzu häufige Gelegenheit haben, uns zu sehen. Wenn ich nämlich nicht auf Reisen bin, so verbringe ich dermalen in der Regel die ganze Woche droben im Bihltal in unserem Etablissement, welches die Leute aus Artigkeit gegen uns Kipplingsruhe tituliert haben, obgleich es dort nichts weniger als ruhig hergeht. ... So, jetzt hätt' ich mein Sprüchlein gesprochen und mache Ihnen den Vorschlag, ins Billardzimmer hinüber zu gehen, denn mich verlangt vor Tisch nach einem Glase Absynth, um meinen Magen auszusteifen, der höllisch herunter ist.«


 << zurück weiter >>