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»Für einen Frieden der Verständigung«.

Der Scheidemann-Frieden. – Der Hunger. – Die Kartoffeln des Herrn von Gamp. – Neue Diskussionen über Bewilligung der Kriegskredite. – »Das größere Deutschland«. – »Ich denke nicht daran, die Kriegsziele der Alldeutschen zu verwirklichen.« – Die letzte Kundgebung der einigen sozialdemokratischen Partei. – Enge Fühlungnahme mit den österreichischen Parteigenossen. – Die Friedensinterpellation vom 6. Dezember 1915 – »Ein Wort für die Monarchie.« – Der Kampf für die Demokratisierung. – »Zeit zur Tat.« – »Reichskanzler Scheidemann«.

Der Scheidemann-Frieden.

Es versteht sich von selbst, daß wir in den ersten Kriegswochen und -monaten uns eine gewisse Zurückhaltung auferlegten; wußte doch keiner, ob nicht in kurzer Zeit der Krieg zu Ende und damit die Kriegspolitik überflüssig geworden sei. Ich persönlich hatte allerdings schon Ende 1914 die Gewißheit, daß alle Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende trügerisch seien. Ich begann deshalb, vorläufig ganz und gar auf eigene Faust, eine Versammlungstour durch viele Großstädte mit dem Programm: »Für einen Frieden der Verständigung!« So entstand schon in den ersten Monaten des Kriegs das Schlagwort vom »Scheidemann-Frieden«, der von allen rechts von uns Stehenden in der entschiedensten Weise abgelehnt und als Verzicht- und Schandfrieden beschimpft worden ist. »Wo ein Tropfen deutschen Blutes geflossen ist, da bleiben wir«, so sagte Bassermann. Was die Herren Stresemann und die noch weiter rechts von ihm politisierenden Männer alles gefordert haben, will ich hier unerörtert lassen.

Der Hunger.

In demselben Maße aber, in dem die Ansprüche der deutschen Imperialisten laut wurden und sich steigerten, stieg auch die Unzufriedenheit der Masse des arbeitenden Volkes. Bis weit in die Kreise des Kleinbürgertums und der Bauern hinein wuchs der Unwille über eine Kriegspolitik, die das Wort des Kaisers: »Wir führen keinen Eroberungskrieg!« vollkommen in Vergessenheit geraten ließ. Außerdem kam für Arbeiter und Kleinbürger als Grund tiefgehenden Unwillens vor allem der Mangel an allen Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln in Betracht, und ebenso – das braucht kaum betont zu werden – der Schmerz über die furchtbaren Verluste, von denen kaum eine Familie verschont blieb. Im ganzen Lande wütete der Hunger. Ich hatte mit meiner Familie ein wahres Elendsdasein zu führen, da ich unbedingt an dem Grundsatz festhielt, keine Lebensmittel ohne Marken zu beschaffen. Es ist ein Beweis für dreijährige Hungerleiderei, daß ich im Februar 1917 in mein Tagebuch schreiben mußte: »Seit langer Zeit habe ich mich als Gast der wohlhabenden Familie P. gestern abend zum erstenmal wieder sattessen können.«

Die Kartoffeln des Herrn von Gamp.

In diesem Zusammenhang gewinnt eine kleine Geschichte besonderen Reiz, die ich mit dem freikonservativen Abgeordneten von Gamp erlebte, besonders weil Gamp als typischer Vertreter des Agrariertums in steter Fehde mit mir lebte.

In einer Kommissionssitzung hatte ich über die Not des Volkes und den Hunger geredet. Nach meiner Rede kam von Gamp zu mir und versicherte, daß er ganz unter dem Eindruck meiner Rede stehe. So könne nur jemand reden, der wisse, was Hunger heißt. Ich antwortete ihm, daß er sich nicht irre, ich wüßte tatsächlich mitunter nicht, woher ich die Lebensmittel für meine Familie und die Enkelkinder, deren Väter im Kriege seien, beschaffen solle. Da ich in meiner Rede besonders auf die Kartoffelnot hingewiesen hatte, fragte er, ob ich auch keine Kartoffeln hätte. »Kein Pfund«, antwortete ich ihm und kehrte auf meinen Platz zurück. Als ich abends heimkam, berichtete meine Frau, daß ein elegantes Fuhrwerk vorgefahren sei, um durch einen galonierten Diener einen halben Sack Kartoffeln für uns abzuliefern. Ich habe leider Herrn von Gamp bald darauf wieder aufs heftigste angreifen müssen, stelle aber um so lieber die kleine Kartoffelepisode hier fest, weil sie Herrn von Gamp gewiß zur Ehre gereicht.

Neue Diskussionen über Bewilligung der Kriegskredite.

Es ist unter solchen Umständen selbstverständlich, daß in der Arbeiterschaft und ihrer parlamentarischen Vertretung die Frage der Kriegskredite, die späterhin zur Sprengung der sozialdemokratischen Fraktion führen sollte, immer aufs neue Thema der Auseinandersetzungen war. Diese Diskussionen erklärten sich nicht nur aus prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten, sondern auch aus dem Gefühlsmoment, daß eben diese Kriegskredite Mittel für die Fortführung des Zustandes waren, aus dem alle Entbehrungen hervorgingen. Deshalb fanden in der sozialdemokratischen Fraktion des öfteren Debatten statt, ob für die Partei die Pflicht zur Aufrechterhaltung der Landesverteidigung bestehe oder nicht. Eine einfache Berufung auf die Worte von Jaurès und Bebel genügte hier nicht. Die Frage, ob Verteidigungs- oder Angriffskrieg, spielte ausschlaggebend mit und veranlaßte hauptsächlich auch eine Abstimmung über die Landesverteidigungsfrage in der Fraktion, die am 8. März 1915, also neun Monate nach Kriegsbeginn stattfand.

Haase, der spätere Führer der Unabhängigen, überraschte an diesem Tage die Fraktion mit einer Skizze, die er sich für eine im Plenum zu haltende Rede gemacht hatte. Ich habe damals über diesen Redeentwurf und den Verlauf der Fraktionssitzung folgende Notizen in mein Tagebuch gemacht:

Die Fraktion ist beisammen. Kämpfe um die Etatrede, d. h. ein sehr einseitiger Kampf Haases. Er und ich waren im Dezember bereits zu Etatsrednern bestimmt. Ich bin aber in der jetzigen Situation gegen die Rederei. Haase befürchtet nun, obwohl ich meine Gegnerschaft in der Fraktion bekannte, daß ich schließlich doch noch bestimmt werden könnte. Die Rede Haases war natürlich Gift und Galle. Sie enthielt kein Wort für das gefährdete Land, kein Wort der Anerkennung der Pflicht, das Vaterland verteidigen zu müssen. Die Fraktion stutzte an der Rede herum, und Haase machte sehr viele Konzessionen. Schließlich aber mußte erst durch Abstimmung erzwungen werden, daß ein Passus in die Rede kam, der die Verteidigungspflicht ausspricht. Der Antrag kam bezeichnenderweise von dem radikalen Genossen Hoch. Er wurde mit allen Stimmen beschlossen gegen die von Herzfeld, Henke und Liebknecht. Haase wird die Verpflichtung auferlegt, am nächsten Morgen die abgeänderte Rede noch einmal vorzulegen.

Das »größere Deutschland«.

Ehe die Etatsrede stattfand, hatte der Reichskanzler eine Konferenz der ausschlaggebenden Parteiführer bei sich zusammenberufen. Von der sozialdemokratischen Fraktion wohnten ihr bei: Molkenbuhr, Robert Schmidt, Haase und ich. Zuerst sprach der Kanzler über die Verhandlungen zwischen Italien und Österreich, die damals unter reger Maklertätigkeit des Fürsten Bülow stattfanden. Dann sprach er über das Kriegsziel: Wir wollen »Sicherung, größere Bewegungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeit für ein stärkeres und größeres Deutschland«. Mir liefs eisig kalt über den Rücken, und als er die Wendung von dem größeren Deutschland zum zweiten Male gebrauchte, da schauten wir vier uns an: Molkenbuhr, Robert Schmidt und ich sehr verstimmt, Haase offenbar sehr angenehm berührt. Er hatte nun, was er gebrauchte, das Stichwort für den »Eroberungskrieg«, für den wir unmöglich noch Kredite würden bewilligen können.

An den Besprechungen für die formale Behandlung des Etats und über die Art, wie am 10. März die Regie gehandhabt werden sollte, nahm der Reichskanzler nicht mehr teil. Delbrück zog jetzt die Fäden. Alle Abgeordneten redeten uns zu, von einer Rede Abstand zu nehmen, da ja sonst auch die anderen Parteien würden sprechen müssen usw., genau wie im Dezember 1914. Wir überließen es Haase, die »Notwendigkeit« einer Äußerung vor den Verhandlungen der Budgetkommission zu verteidigen. Darüber waren ja alle einig, daß in der zweiten Lesung geredet werden sollte. Schließlich war auch diese Sitzung zu Ende.

Auf dem Heimweg begann ich Haase gegenüber zu erörtern, daß Bethmann Hollweg nach allen seinen sonstigen Darlegungen unmöglich ein durch Gebietszuwachs größeres Deutschland gemeint haben könnte; das erscheine mir ganz ausgeschlossen. Bei großen und größeren Menschen denke man auch nicht an die Zentimeter ihrer Länge usw. Siege Deutschland in diesem Kriege, dann stehe es doch tatsächlich stärker und größer da als vorher, auch wenn es nicht einen Quadratmeter an Gebiet gewinne. Haase widersprach natürlich lebhaft, brach das ihm unangenehme Gespräch aber hastig ab.

»Ich denke nicht daran, die Kriegsziele der Alldeutschen zu verwirklichen.«

Diese Konferenz hatte immer noch unter der Rücksicht auf die relativ große Zahl der Teilnehmer gelitten. Der Reichskanzler hatte aber, wie vor allen solchen entscheidenden Reden, den Wunsch, sich ganz vertraulich mit der Sozialdemokratischen Partei vorher auszusprechen. Das beweist mein Tagebuch-Eintrag vom 9. März:

Früh um 8 Uhr kommt ein Bote aus der Reichskanzlei und bittet mich um 10 Uhr zum Reichskanzler. Ich ahnte: Er will uns noch einmal zusetzen, damit von einer Rede im Plenum Abstand genommen wird. Ich bin kurz entschlossen, Haase die Waffe aus der Hand zu schlagen, die ihm Bethmann Hollweg am gestrigen Abend durch eine mißverständliche Wendung gegeben. Ich rufe Wahnschaffe zu, daß der Reichskanzler in der bevorstehenden Unterredung auf sein Kriegsziel zurückkommen müsse, aber so, daß daraus unter gar keinen Umständen Eroberungsabsichten herausgehört werden könnten, wie das gestern abend der Fall gewesen wäre. Absichten, von denen ich überzeugt sei, daß sie Bethmann Hollweg ja auch gar nicht habe.

Wahnschaffe verstand mich sofort, nachdem ich ihn auf unsere Grundsätze aufmerksam gemacht hatte. Der Kanzler empfing uns sehr freundlich und offerierte Zigarren. Ich qualmte drauf los, während er auf Haase einredete. – Im tiefsten Vertrauen – sonst habe niemand Kenntnis davon –: Zarte Keime sprießen in Rußland, Keime, aus denen ein Friede entstehen könnte. Wir würden sie zertreten, wenn wir vom Frieden sprechen. Das werde man deuten als Schwäche, und dadurch wachse in Rußland das Kraftgefühl noch einmal usw. Die Ziele, die die Alldeutschen verlangten, seien Unsinn. »Ich denke nicht daran, sie zu verwirklichen. Belgien annektieren! Ein Land mit einer uns vollkommen fremden, auch sprachfremden Bevölkerung. Ich stelle mir vor, daß wir engere Wirtschaftsbeziehungen mit Belgien kriegen können, vielleicht auch Abmachungen militärischer Art. Und wenn es mir gelänge, die Grenze in den Vogesen ein wenig zu regulieren, die jetzt unterhalb des Kammes läuft, dann wäre das schon von großer Bedeutung, ebenso, wenn man die Schleifung Belforts durchsetzen könnte. An diesen Grenzen haben wir furchtbare Opfer bringen müssen.«

Haase und ich – Haase vor mir – stellten mit Genugtuung fest, daß diese Darlegungen uns beruhigten, mindestens hätten sie mancherlei Befürchtungen zerstreut. Bethmann Hollweg sprach dann noch über die Bereitwilligkeit, mit Rußland oder Frankreich Separatfrieden zu schließen, sobald es gehe. Die Hauptsache sei, die Entente zu sprengen. Immer wieder zwischendurch: Nicht vom Frieden reden. Witte habe kürzlich leise Versuche gemacht, die Presse schrieb darüber – sofort war Witte abgetan.

Bethmann Hollweg wies dann auf unsere Genossen in England und Frankreich hin: »Wenn Sie mit denen Fühlung nehmen könnten, sei das gewiß wertvoller, als wenn wir im Reichstage über den Frieden reden. Aber Ihre internationalen Freunde scheinen wenig friedlich gesinnt zu sein.« Mit nochmaligen väterlichen Ermahnungen entließ uns der Kanzler schließlich. Ich hatte den Eindruck gewonnen, daß er es nicht allzu tragisch nehmen werde, wenn Haase nach dieser Unterredung redete. Daß Bethmann Hollweg auf Haase großen Eindruck gemacht hatte, war unverkennbar.

Die letzte Kundgebung der einigen Sozialdemokratischen Partei.

Die Rede von Haase entsprach den Besprechungen mit dem Reichskanzler. Ich hatte am 18. März, also eine Woche nach der Haaseschen Rede, die Aufgabe, den Standpunkt meiner Partei zu den innerpolitischen Fragen darzulegen, und ich darf hier als besonders bezeichnend festhalten, daß mir von unabhängiger, also eingeweihter Seite, Jahre hindurch der Vorwurf gemacht wurde, ich hätte in dieser Rede kein Wort für den Verständigungsfrieden gefunden, obwohl ich, im Einverständnis mit den damals zu der Fraktion gehörigen späteren Unabhängigen, am Anfang meiner Rede betont hatte, daß ich die auswärtige Politik nicht berühren würde, da mein Parteifreund Haase am 10. März das dazu Notwendige vorgetragen habe.

Innerhalb der Partei war aber nach wie vor der Kampf gegen einen Eroberungskrieg und für einen Verständigungsfrieden an der Tagesordnung. Am 14., 15. und 16. August tagte der Parteiausschuß zusammen mit der Reichstagsfraktion und veröffentlichte durch Zirkular an sämtliche Parteiorganisationen folgenden Bericht, der die Zustimmung der Gruppe Haase gefunden hatte:

In Wahrnehmung der nationalen Interessen und Rechte des eigenen Volkes und in Beachtung der Lebensinteressen aller Völker erstrebt die deutsche Sozialdemokratie einen Frieden, der die Gewähr der Dauer in sich trägt und die europäischen Staaten auf den Weg zu einer engeren Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft führt. Demgemäß stellen wir folgende Richtpunkte für die Friedensgestaltung auf:

1. Die Sicherung der politischen Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Deutschen Reiches heischt die Abweisung aller gegen seinen territorialen Machtbereich gerichteten Eroberungsziele der Gegner. Das trifft auch zu für die Forderung der Wiederangliederung Elsaß-Lothringens an Frankreich, einerlei, in welcher Form sie erstrebt wird.

2. Zwecks Sicherung der wirtschaftlichen Entwickelungsfreiheit des deutschen Volkes fordern wir:

»Offene Tür«, d. h. gleiches Recht für wirtschaftliche Betätigung in allen kolonialen Gebieten;
Aufnahme der Meistbegünstigungsklausel in die Friedensverträge mit allen kriegführenden Mächten;
Förderung der wirtschaftlichen Annäherung durch möglichste Beseitigung von Zoll- und Verkehrsschranken;
Ausgleichung und Verbesserung der sozialpolitischen Einrichtungen im Sinne der von der Arbeiterinternationale erstrebten Ziele.
Die Freiheit der Meere ist durch internationalen Vertrag sicherzustellen. Zu diesem Zweck ist das Seebeuterecht zu beseitigen und die Internationalisierung der für den Weltverkehr wichtigen Meerengen durchzuführen.

3. Im Interesse der Sicherheit Deutschlands und seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit im Südosten weisen wir alle auf Schwächung und Zertrümmerung Österreich-Ungarns und der Türkei gerichteten Kriegsziele des Vierverbandes zurück.

4. In Erwägung, daß Annexionen volksfremder Gebiete gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen und daß überdies durch sie die innere Einheit und Kraft des deutschen Nationalstaates nur geschwächt und seine politischen Beziehungen nach außen dauernd aufs schwerste geschädigt werden, bekämpfen wir die darauf abzielenden Pläne kurzsichtiger Eroberungspolitiker. Vom Standpunkt des deutschen Interesses nicht minder, wie von dem der Gerechtigkeit halten wir die Wiederherstellung Belgiens darum für geboten.

5. Die furchtbaren Leiden und Zerstörungen, die dieser Krieg über die Menschheit gebracht hat, haben dem Ideal eines durch internationale Rechtseinrichtungen dauernd gesicherten Weltfriedens die Herzen von neuen Millionen gewonnen. Die Erstrebung dieses Zieles muß als höchstes sittliches Pflichtgebot für alle gelten, die an der Gestaltung des Friedens mitzuarbeiten berufen sind. Wir fordern darum, daß ein ständiger internationaler Schiedsgerichtshof geschaffen werde, dem alle zukünftigen Konflikte zwischen den Völkern zu unterbreiten sind.«


Damit war unsere Stellung nach jeder Seite hin geklärt. Allerdings, der Regierung, die ängstlich auf das Ergebnis gewartet hatte, machten wir eine geringe Freude. Als Wahnschaffe mich zum fünften Male rufen ließ, zeigte ich ihm das Rundschreiben. Er meinte: So würde es vielleicht gehen. Aber, fügte er hinzu, sehr bedauere er den Satz von der Wiederherstellung Belgiens. Er wüßte zwar, daß der Reichskanzler dem absolut zustimme, aber bei einer Verbreitung des Zirkulars an die Armee würde man dadurch Schwierigkeiten mit den Militärs bekommen. Ganz herauslassen könnten wir es auch nicht, denn wenn wir einzelne Sätze streichen, so werde – das habe der Zensursachverständige Major Deutelmoser gesagt – der ganze Wortlaut doch in der »Berner Tagwacht« erscheinen, insbesondere scheine eben den Regierungsvertretern der absolut klare Satz »gegen eine Annexion Belgiens« unerwünscht. Ich erwiderte, daß kein Mensch im Ausland von den deutschen Sozialisten etwas anderes erwarte, als was hier in den Leitsätzen gesagt sei. Trotz aller meiner Gründe war damals unter der alleinseligmachenden Zensur bei Wahnschaffe und Deutelmoser doch nichts anderes zu erreichen, als daß sie gegenüber Zivil- und militärischen Stellen die Verbreitung unserer Leitsätze durchsetzen wollten, aber allerdings ohne den positiven Satz über die Wiederherstellung Belgiens.

Enge Fühlungnahme mit den österreichischen Parteigenossen.

Es war für uns nicht nur durch die Konstellation des Krieges, sondern durch den internationalen Charakter der Partei von höchster Wichtigkeit, daß wir in engster Fühlung und völliger Übereinstimmung mit den österreichischen Parteigenossen vorgingen. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs litt darunter, daß dort ohne Parlament, d. h. mit der schärfsten Zensur und ohne jedes Ohr für die Stimmung im Volke regiert wurde. Deshalb konnten die österreichischen Sozialdemokraten sich nicht in der offenen Weise über Kriegführung und Kriegsziele aussprechen, wie selbst uns dies möglich war. Um hier einen Ausgleich zu schaffen, waren wir bemüht, durch dauernde Zusammenkünfte mit den Österreichern eine Übereinstimmung herzustellen und gleichsam als ihre Wortführer zu fungieren. Bald trafen wir uns in Wien, bald in Berlin, und es darf festgestellt werden, daß zwischen meiner Partei und der österreichischen Bruderpartei fast nie Meinungsverschiedenheiten bestanden.

Als Beispiele für dieses gute Verhältnis will ich einige Notizen aus einer Sitzung zitieren, die am 19. November 1915 in Wien stattgefunden hat und von dem doppelten Bedürfnis diktiert war, den Krieg auf seinen ursprünglichen Charakter als Verteidigungskrieg zurückzuführen und eine gemeinsame Front zwischen den zwei Bruderparteien herzustellen. Ich notierte mir:

Wir verhandelten über die allgemeine politische Lage. Die österreichischen Genossen, abgesehen von Fritz Adler, sind sehr realpolitisch. Sie billigen unser Verhalten und wünschen, daß wir direkt in ihrem Namen mitsprechen, wenn wir im Reichstag über den Krieg reden. Je deutlicher wir über den Frieden sprechen könnten, um so lieber ist es ihnen. Uns auch. – Über den wirtschaftlichen Zusammenschluß zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reiche gab es sehr ausführliche Debatten. Dr. Karl Renner referierte. Es soll demnächst in Berlin eine Konferenz der Reichstagsfraktion und des Parteiausschusses stattfinden, zu der auch die Generalkommission der Gewerkschaften eingeladen werden soll. Da soll dann Renner seinen Vortrag wiederholen. – Von großem Interesse waren auch die Auseinandersetzungen über »Annexionen«. »Das ist ein Schlagwort, mit dem wir in Österreich nichts anfangen können«, sagte Viktor Adler. Wir – die Österreicher – sind bereit, Polen und Serbien »zu nehmen«. Das sei keine Annexion. Austerlitz hielt sogar eine weitere Teilung Polens an Österreich und Deutschland für die »glücklichere« Lösung. – Jedenfalls erwies sich erneut, daß die österreichischen führenden Genossen großes Verständnis für reale Politik haben. Es wurde allseitig gewünscht, daß die Genossen Österreichs mit denen Deutschlands bei allen weiteren Kriegsfragen in engster Gemeinschaft wirken.

Die Friedensinterpellation vom 6. Dezember 1915.

Es war selbstverständlich, daß wir unsere Friedensarbeit nicht nur im stillen und in Verhandlungen mit dem Ausland durchführen konnten, sondern, daß wir auch offensichtliche Kundgebungen herbeiführen mußten, wenn wir auf die feindliche Öffentlichkeit Eindruck zu machen wünschten. Aus diesem Bedürfnis entstand unsere Friedensinterpellation vom 6. Dezember 1915, die ich zu begründen hatte. Um die Art zu skizzieren, in der wir bemüht waren, die Reichsregierung in unserem Sinne zu beeinflussen und dennoch nicht ein Tüpfelchen unserer pazifistischen Überzeugung aufzugeben, will ich eine Unterredung mit Bethmann Hollweg darstellen, die sich um seine und meine Rede bei dieser Interpellation dreht. Ich habe mir folgendes notiert und füge hier zugleich die Niederschriften über die Kanzlerrede hinzu, mit samt dem Eindruck, den sie auf der künftig »unabhängigen« Seite machte.

3. Dezember. Bureau. Ich skizziere meine Rede für die Interpellation. Nachmittags treffe ich Wahnschaffe im Reichstag. Er fragt, ob ich schon die Einladung zum Reichskanzler hätte? Er wünsche mich am nächsten Tage um 12 Uhr zu sprechen. Im Bureau erfuhr ich dann, daß ich telephonisch gebeten worden sei, zum Reichskanzler zu kommen.

4. Dezember. Sonntag. Ich gehe zum Reichskanzler. Er ist sehr aufgeräumt und überaus liebenswürdig. Es sei schade, daß wir doch interpellierten. Na, nun komme es darauf an, nichts zu verderben, deshalb wolle er mit mir reden über seine und meine Reden. Er sei gerade dabei, seine zweite Rede auszuarbeiten, also die, die er auf meine Begründungsrede halten wollte. Ich lachte und sagte ihm dann, daß ich es nicht für richtig halte, wenn er hinten anfinge, er wisse ja gar nicht, was ich reden werde. Er: Na, so ungefähr glaube ich annehmen zu können, daß Sie uns keinen großen Schaden anrichten werden. Ich: Erlauben Sie, Exzellenz, keinen Schaden! Ich hoffe, großen Nutzen stiften zu können.

Er begann dann an der Hand seiner in ein großes Folioheft mit in der Mitte geknickten Bogen und mit Bleifeder geschriebenen Rede: »Wenn der Herr Abgeordnete Scheidemann gemeint hat, bei den Forderungen unserer Gegner handle es sich um Bluffs, so irrt er; ebenso geht er zu weit, wenn er sagte, daß die bürgerliche Presse des Auslandes der wirklichen Volksstimmung nicht entspreche –«. Ich fiel ihm ins Wort: »Wenn Sie wünschen, daß ich Ihnen Gelegenheit gebe, das sagen zu können, bin ich gern bereit, weil ich mir dabei nichts vergebe.« Er fuhr fort, zu skizzieren; ich fand, daß er recht verständig disponiert hatte. Ich fiel ihm schließlich wieder ins Wort, als er sagte, daß die kaiserliche Regierung jedem vernünftigen Friedensvorschlag gern nähertreten werde. Ich opponierte gegen das Wort »vernünftig«; entweder solle er es fortlassen, oder ein anderes wählen. Er sagte ohne weiteres zu.

Das Telephon klingelt. Er: »Das ist der Kaiser, der will mich sprechen.« Ich: »Bitte, ich werde solange in ein Nebenzimmer gehen!« – »Ich bin Ihnen sehr dankbar!« Nachher holte er mich aus dem Zimmer: »Herr Scheidemann, das ist eine Sache, ich rede mit dem Hauptquartier, und das ist gerade, als spreche ich hier im Zimmer mit dem Herrn.« Ich: »Ja, 1870 war's noch anders.« Er: »Ach, ich würde gern mit 70 tauschen.« Ich: »Ja, leichter war's auf alle Fälle.«

Ich sagte ihm nun: »Exzellenz, wär's nicht besser, wenn Sie mir zunächst Ihre erste Rede skizzieren wollten? Darauf muß ich doch vielleicht mit einigen Worten eingehen. Es ist aber besser, wenn ich auch da nicht alles aus dem Handgelenk zu machen brauche.« Er: »Sehr gern. Ich werde vor Eintritt in die Tagesordnung ungefähr ¾ Stunden reden. Über Bulgarien und Griechenland, soweit das möglich ist, dann über die Lebensmittelfrage. Schließlich werde ich darauf hinweisen, wie unsere Gegner noch immer den Vernichtungskrieg gegen uns predigen. Festes Zusammenhalten sei deshalb geboten usw. Ich bin da wirklich erst bei dem dürftigsten Skizzieren. Wie lange gedenken Sie zu reden, Herr Scheidemann, und wie haben Sie disponiert?« Ich skizzierte mit einigen Strichen, las ihm aber wörtlich vor, was ich als Friedensgrundlage aussprechen würde:

»Wenn der Reichsregierung sich die Möglichkeit bietet, einen Frieden zu schließen, der dem deutschen Volke die politische Unabhängigkeit, die Unversehrtheit des Reiches und die wirtschaftliche Entwicklungsfreiheit sichert, dann fordern wir, daß sie Frieden schließt.«

»Ja – ja! Ganz einverstanden.«

Das fand er passabel. »Das geht.« Er habe nur die Befürchtung, daß die übrigen Parteiredner wieder Annexionspläne vortragen würden, wenn ich gegen »Annexionen« spreche. Vielleicht gehe es, daß ich nur von der Vergewaltigung fremder Völker rede und so ähnlich. – Er werde auf die Zertrümmerungsabsichten der anderen verweisen. Wenn jene diese Pläne aufgäben, dann werde sich erst verhandeln lassen. Deutschland strebe nicht nach einer Weltherrschaft, der Krieg sei immer noch ein Verteidigungskrieg. Wir haben keinen Haß geschürt. Unser Ziel sei, den Krieg durch einen Frieden zu beenden, der die Wiederkehr eines gleichen Überfalles verhütet. Dem Haß der Gegner entsprechend müsse der Schutzwall sein, den wir gebrauchen. Die kleinen Völker müßten als Vorwerke Englands unschädlich gemacht werden durch militärische, politische und wirtschaftliche Sicherung. Die kaiserliche Regierung sei bereit, wenn man ihr mit geeigneten Vorschlägen komme.

Ich machte Einwendungen u. a. wegen der kleinen Völker. Das sei sehr leicht zu mißdeuten in Holland, Dänemark usw. Diese Partie seiner Rede sei der kitzliche Punkt. Das gab er ohne weiteres zu. Er werde eifrigst nach möglichst einwandfreier Fassung suchen. Annektieren wolle er Belgien nicht, aber als Vorposten Englands –? Das gehe nicht.

So unterhielten wir uns eine Stunde und zwanzig Minuten unter vier Augen sehr angeregt.

Zum Schlusse fragte er, wer die Putsche in Berlin anzettele. Ist das Liebknecht? Ich wehrte mich dagegen. Es seien uns die Vorkommnisse selbst sehr peinlich. Wer hinter der Sache stehe, wüßten wir nicht. Er: »Ja, ich mag nicht die Polizei mobil machen, die macht mir das zu ungeschickt. Aber schlimm ist die Sache. Und daß die Zettel in Ihren Zahlabenden verbreitet werden, ist doch bekannt.« (Es handelte sich um kleine Zettel, die mit der Schreibmaschine geschrieben und vervielfältigt sind. Text: »Frieden! Frieden! Sonntag, den … um 2 Uhr Unter den Linden.«)

Ich wies auf die große Not hin. Die sei die Urheberin. Usw. usw. – Vor der Saaltür, an die er mich begleitete, begann er noch einmal zu reden: »Ich beneide die Abgeordneten immer, weil sie hinter dem hohen Pult reden können. Da können sie doch ihre Notizen hinlegen und benützen. An meinem Platze kann ich das nicht; ach, und das Memorieren macht doch eine furchtbare Arbeit; außerdem kostet's viel Zeit, und man wird auch immer älter! – Ich sagte ihm, daß er sein Redemanuskript doch in die Hand nehmen möge, das würde ihm niemand verargen. Daß ein Mann in seiner verantwortlichen Stellung derart wichtige Reden nicht aus dem Ärmel schüttle, weiß doch sowieso jeder, – Er: »Nein, nein, das geht nicht. Wenn ich zu viel ablese, ist es eben keine Rede mehr.« – Ich sagte ihm darauf, daß ich niemals eine Rede würde halten können, wenn ich sie vorher auswendiglernen sollte.

8. Dezember. Vormittags besuchen mich Dr. David und Landsberg im Bureau. Wels war schon bei mir. Wir besprachen meine Rede, die alle nach meiner Skizze lasen. Einige Bedenken zerstreute ich oder ließ sie gelten. Im allgemeinen waren sie mit ihr zufrieden. Aber was sollte Landsberg noch reden? Ich hätte ihm alles vorweggenommen. Ich vertröstete ihn auf die Debatte, die werde ihm, ebenso wie die Kanzlerrede, Stoff genug geben. Ja, was wird der Reichskanzler sagen? Ich berichtete, was mir Bethmann Hollweg am Sonntag gesagt hatte. Landsberg wollte sehr gern selbst einmal mit dem Reichskanzler reden. – Auf meine sofortige Anfrage bat der Reichskanzler, daß wir nachmittags 4 Uhr zu ihm kommen möchten. – Bethmann Hollweg empfing uns sehr freundlich. Unterhaltung fast genau wie am Sonntag. Landsberg setzte ihm zu wegen der ausgebliebenen Gewerkschaftsvorlage. Außerdem preßte ihm Landsberg das Zugeständnis ab, daß er in seiner Antwortrede auf meine Begründung der Interpellation einen Satz aus einer früheren Rede wiederholen solle: Daß wir kleine Nationen nicht unterdrücken wollten und so ähnlich. – Landsberg ging in die Universität, ich in den Reichstag.

Dort traf ich mit v. Payer zusammen. Er: »Alle bürgerlichen Parteien haben sich auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt für morgen. Hier ist sie – es sind nur etwa zwanzig Zeilen. Spahn wird sie verlesen.« – Ich: »Was steht denn darin? Das ist die Hauptsache für mich.« Er: »Na, sie ist für mich auch kein Meisterwerk, aber wir haben sie schließlich geschluckt, da die anderen Parteien sie schon akzeptiert hatten.« – Ich: »Ich lese da unten zufällig das Wort ›Gebietserwerbung‹ – also wohl eine Erklärung für Annexionen?« – Er: »Nein, nein, aber freilich eine Ablehnung Ihres Standpunktes: unter keinen Umständen irgendeine Erwerbung! Was zur Sicherung absolut genommen werden muß, müssen wir halt nehmen.« – Lange Aussprache über das Annexionsthema. – Dann er: »Ja, die Erklärung soll den Schluß machen morgen.« Ich: »Wie ist das zu verstehen?« Er: »Nach der Antwort des Reichskanzlers auf Ihre Rede soll Landsberg sprechen, dann liest Spahn die Erklärung vor, und dann ist Schluß.« Ich: »Erlauben Sie, das ist doch wohl Ihr Ernst nicht! Es ist doch selbstverständlich, daß erst die Erklärung und dann Landsberg kommt.« Er: »Nein, das wollen wir gerade nicht. Unsere Erklärung enthält kein Wort der Polemik gegen Ihre Partei. Aber trotzdem ist anzunehmen, daß Ihr Redner auf die Erklärung Bezug nimmt. Es fällt ein Zwischenruf, man weiß, wie es geht – es meldet sich einer zum Wort und die Debatte geht weiter. Das wollen wir verhüten, weil wir die Interpellation sowieso schon als recht schädlich ansehen für die Landesinteressen.« – Ich setzte ihm zu, soviel ich konnte – es werde ein Unglück geben, wenn so verfahren werde, wie er wolle. Dagegen spreche die Übung im Hause: Seit längerer Zeit bestehe der Gebrauch, daß die interpellierende Partei das Schlußwort habe usw. Haase werde sofort eine große Geschäftsordnungsdebatte entfesseln, und der Krach sei nicht abzusehen. – Er: Es sei nichts mehr zu ändern, da alle Parteien sich geeinigt hätten. Eventuell werde der Präsident das Wort zur Geschäftsordnung gar nicht geben! – Ich setzte ihm noch einmal zu, leider vergeblich. Als ich sagte: »Wenn es zu einem offenen Bruch bei dieser Gelegenheit kommt, glauben Sie dann, daß es uns unter Umständen nicht geradezu unmöglich gemacht wird, noch für Kriegskredite zu stimmen?« Er: »Ja, lieber Kollege, glauben Sie denn nicht, daß das der Mehrheit unter den bürgerlichen Kollegen längst das liebste gewesen wäre?« – Ich informierte noch per Rohrpost Landsberg.

9. Dezember. Der große Tag. Der Reichskanzler hielt seine beiden Reden genau so, wie er sie in großen Umrissen mir schon geschildert hatte. Er sprach sogar in seiner zweiten Rede die Partie gegen mich, die ganz gegenstandslos war (»Bluff« und Presse des feindlichen Auslands). Das hatte er mir schon am Sonntag vorgelesen und, obwohl ich ihm damals schon gesagt habe, daß ich gar nicht die Absicht hätte, davon zu sprechen, sprach er seine Antwortsprüchlein doch genau so her, wie er sie sich skizziert hatte. – Es kam dann, kompliziert durch die Wortmeldungen und -streichungen Landsbergs der Skandal, den ich am Abend zuvor dem Kollegen Payer vorausgesagt hatte!

11. Dezember. Ich erfahre, daß am Dienstag Plenarsitzung ist mit der Kreditvorlage auf der Tagesordnung. Berufe deshalb sofort für Montag früh 9 Uhr den Fraktionsvorstand in den Reichstag; für nachmittags 5 Uhr telegraphisch die ganze Fraktion. Abends sind Ebert, Müller, Braun und ich im Lokal der Generalkommission der Gewerkschaften mit Legien, Bauer, R. Schmidt, Silberschmidt und Jansson beisammen. – Ich sehe der Fraktionsverhandlung mit größter Sorge entgegen, denn viele unserer Genossen sind zu wenig Politiker. Der Krach am Donnerstag hat eine ganze Anzahl verstimmt. Weil Bassermann, Spahn, Westarp und Payer sich als ungeschickte und kurzsichtige Menschen erwiesen (zum wievielten Male?), deshalb sollen Kriegskredite nicht mehr bewilligt werden? Als ob die Kredite bisher bewilligt worden wären, weil die Bassermänner und Spähne uns sympathisch gewesen wären!

13. Dezember. Fraktionssitzung der Kreditvorlage wegen, nachdem eine Fraktionsvorstandssitzung vorausgegangen war, in der wir uns gegen Haase und Hoch für die Annahme der Vorlage aussprachen. In der Fraktion ging's wieder kunterbunt genug her. Es werden wieder die bekannten Reden für und gegen gehalten. Von den Genossen, die sich vor der Abstimmung entfernt hatten oder die abgehalten waren, gingen dann noch mündliche und schriftliche Erklärungen für und gegen ein. Das Gesamtbild gestaltete sich infolgedessen so: Für die Kredite waren 66, dagegen 44 Mitglieder der Fraktion.

14. Dezember. Fraktionssitzung. Folgender Antrag Ledebours gegen Landsberg wurde mit 60 gegen 24 Stimmen abgelehnt: »Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärt, daß in der Debatte über die Friedensinterpellationen am 9. Dezember der Genosse Landsberg entgegen der Auffassung der Fraktion es unterlassen hat, entschieden gegen die von den übrigen Parteien proklamierten Annexionsforderungen Stellung zu nehmen, dann obendrein die nicht minder unzweideutigen Annexionspläne des Reichskanzlers beschönigt und somit den annexionistischen Bestrebungen Vorschub geleistet hat.«


Aus dem vorher Geschilderten ergibt sich das Maß von Schwierigkeiten, mit dem wir im Kampf um den Gedanken des Verständigungsfriedens zu rechnen hatten, aber auch die absolut einheitliche Linie, die wir von Beginn des Krieges bis zu seinem Ende aufgenommen haben. Die zwei Pole dieser Stellung waren: einerseits die Verteidigung gegen eine Vernichtung Deutschlands und anderseits der Kampf gegen die Umwandlung des Verteidigungskrieges in einen Eroberungskrieg.

Am 29. Mai hatte ich in einer Reichstagsrede gesagt: »Das höchste und wertvollste Recht für jedes Volk ist in unsern Augen das Recht der Selbstbestimmung … In Frieden kann man mit Nachbarvölkern nur dann leben, wenn man sie nicht vergewaltigt, wenn man ihr Selbstbestimmungsrecht nicht angetastet hat.« Und drei Jahre später, auf der Höhe unserer militärischen Erfolge: »Grundsätzlich sind wir Sozialdemokraten Gegner aller Annexionen und Vergewaltigungen, mögen sie nun leicht oder schwer ausführbar, mit kleinen oder großen Opfern erreichbar, dem erobernden Volk fürs erste nützlich oder schädlich sein.« Also ein durchgängiger Wille zum Verständigungsfrieden sans phrase, und es ist die Tragödie des »Zu spät«, die Deutschland in allem und allem bis zum heutigen Tag erlebt hat, daß die Träger dieses Willens erst zu Einfluß gelangt sind, als dessen Betätigung uns nicht mehr retten konnte.

Hätte in diesen Jahren des Elends irgendein verantwortlicher Parteigenosse die Aufgabe, immer und immer wieder auf das Ende des Krieges hinzuarbeiten, vergessen, so wäre er durch die täglich wachsende Not des Volks, also der Parteigenossen im weitesten Sinn, daran erinnert worden. Die Lebensmittel waren in einer fast undenkbaren Weise knapp geworden, die Kriegsverluste hatten in jede Familie Lücken gerissen, und wo diese organischen, nicht zu verhindernden Folgen des Krieges sich noch nicht gezeigt hatten, da war die Regierung durch Schutzhaft, Verurteilung wegen angeblichen Landesverrats oder durch Eingriffe in die Freiheit der Presse dem Empfinden des Volkes zu nahe getreten. Die Brutalität der Behandlung gerade der Arbeiterklassen und ihrer Presse stand im umgekehrten Verhältnis zu den Beteuerungen der Regierungsvertreter.

»Ein Wort für die Monarchie.«

Im vorhergehenden habe ich die gerade Linie gezeichnet, die unsern politischen Aktionen zugrunde lag. Was alles von uns und unserm Einfluß auf die Arbeitermassen verlangt wurde, das möchte ich in einem halb lustigen, halb traurigen Zwischenspiel darlegen, das sich in unsre ernste und aufreibende Tätigkeit drängte. Es ist bezeichnend für die trostlose Naivität der im übrigen gewiß sehr kenntnisreichen Geheimräte aus der wilhelminischen Ära. Ich gebe die Eintragungen aus meinem Tagebuch wieder und ersetze lediglich den wohlbekannten Namen des Geheimrats durch ein X.

24. Februar 1917. Geheimrat X. verschleppte mich in ein Zimmer des Bundesrats, um mir einen Vortrag zu halten über die Wichtigkeit der monarchischen Frage. – Ob es nicht denkbar sei, daß ich unter Wahrung unserer grundsätzlichen Stellung zur Staatsverfassung doch ein paar Worte zugunsten der Monarchie sage gegenüber den Junkern, die von uns stets das Nein herauslocken wollten. Wenn »man« einmal einige Worte von mir hätte über die Bedeutung der Monarchie, so wäre damit in Hofkreisen ungemein viel gewonnen. Wir hätten keine Ahnung, wie das Argument, daß wir Antimonarchisten seien, in einflußreichen Kreisen wirke. »Was weiß denn z. B. so ein General? Gar nichts!« – Für die Frage der Neuorientierung wäre schon die Erwähnung, daß die Sozialdemokratie eigentlich nie republikanische Propaganda getrieben habe, wertvoll. – Auf meine Frage, wie er zu diesen merkwürdigen Vorschlägen komme, ob etwa der Reichskanzler in seiner bevorstehenden Rede über die Monarchie reden wolle, antwortete er: ja, der Reichskanzler muß darüber reden auf Grund der Hetze, die jetzt gegen ihn schlimmer als je zuvor am Hofe betrieben wird. »Und da wäre es von unendlichem Wert, wenn Sie in Ihrer Rede auf den Reichskanzler reagieren würden.« – Ich fragte ihn: was der Reichskanzler sonst zu reden gedenke. – Er wich aus, worauf ich ihm sagte, daß ich die auch den Parteiführern gegenüber beobachtete Geheimniskrämerei für sehr dumm halte. Es sei doch viel besser, wenn man vorher wenigstens ungefähr wisse, was kommt, als wenn man aus dem Handgelenk plötzlich auf eine bedeutsame Rede, die man aber nicht immer in allen Einzelheiten richtig abschätzt, antworten muß. Er kam wieder auf seine monarchische Schrulle zurück. Ich antwortete ausweichend, zunächst müsse ich wissen, was der Reichskanzler zu sagen gedenke! – Er versprach nunmehr, sich um die Rede bemühen zu wollen.

27. Februar. Abends zuvor hatte mich Geheimrat X. noch telephonisch gewünscht. Ich sollte zu ihm kommen. »Ich habe keine Zeit.« Dann sollte ich am nächsten Vormittag in seine Wohnung kommen. Bedaure, um 11 beginnt der Reichstag schon! Dann morgen früh im Reichstag! Ich: gut. Also X. faßt mich sofort. Er hat die Rede des Reichskanzlers und liest sie mir brockenweise vor mit der Bemerkung: hier will aber der Reichskanzler noch Änderungen vornehmen, da behält er sich die endgültige Formulierung vor usw. – Lange Debatte. Ich möchte unter allen Umständen etwas Freundliches über die Monarchie sagen. Ich lachte ihn aus. Er: »Sie scheinen wirklich den Wert einer solchen Äußerung zu verkennen.« Ich: »Sie machen sich keine Vorstellung von dem Schaden, den ich mit einer solchen albernen Rederei anrichten könnte.« Er redet immer eindringlicher auf mich ein und zieht schließlich den Entwurf einer Rede aus der Tasche, den ich als Grundlage für einige Sätze gebrauchen könne. Ich klebe die beiden mit Bleistift beschriebenen Blätter meinem Tagebuch ein. Sie lauten:

»Trotz banger Not ist die gesamte deutsche Arbeiterschaft in diesem Kriege treu zu dem obersten Kriegsherrn gestanden. So treu wie nur irgend jemand. Treuer als die Männer, die in Hotels beraten, wie sie die zivilen und militärischen Spitzen gegeneinander verhetzen könnten und wohl solche Beratungen mit einem Hoch auf Seine Majestät den Kaiser einleiten. Von wem sind denn alle die schleichenden Gerüchte ausgegangen? Von Arbeitern, von Sozialdemokraten? Die Gerüchte – ich scheue mich, sie wiederzugeben, jeder kennt sie – die an die Ehre des Monarchen rührten. Den Kampf gegen die Monarchie hat die deutsche Sozialdemokratie und die deutsche Arbeiterbewegung nie gesucht, auch gar nicht geführt. Gegen Sie hat sie gekämpft, gegen Sie, die unter vielen Banketten und Feiern, Staat, Krone und Vaterland für sich allein in Anspruch nahmen, zur Stärkung Ihrer Macht. Wer hat denn so angelegentlich dafür gesorgt, daß das preußische Wahlrecht trennend zwischen dem preußischen Staat und seiner Spitze auf der einen und den breiten Massen des preußischen Volkes auf der anderen Seite bestehen bleibt? Sie wollen ja, daß wir uns gegen die Monarchie heftig und deutlich bekennen sollen, um uns auszuschließen vom Staate – und wenn Graf Westarp das Bekenntnis zur Monarchie von uns fordert, so will er das Nein hören, das die Monopolstellung seiner Partei sichert. Sie wollen ja das Alte bestehen lassen, Sie wollen die Massen nicht für den Staat gewinnen, sondern sie dem Staat entfremden und den 4. August von der Verheißung einer besseren Zeit zur lieben Erinnerung herunterdrücken.«

Ich habe Herrn X. derart ausgelacht, daß er erschrocken sein Manuskript wieder zurückhaben wollte. Mit der größten Gemütsruhe aber steckte ich es in die Tasche.

Der Kampf für die Demokratisierung.

Die zusammenfassende Darstellung, die ich im vorstehenden gegeben habe, bezieht sich hauptsächlich auf unsere außenpolitische Stellungnahme, indem sie den Willen der Partei zum Verständigungsfrieden immer wieder in den Vordergrund rückt. Inzwischen aber war auch die Unmöglichkeit der innerpolitischen Verhältnisse längst zur Reife gediehen und verlangte eine Lösung. Es verging fast keine Besprechung mit dem Reichskanzler oder mit den maßgebenden Männern des Reichsamts des Innern, in denen wir nicht auf die Unhaltbarkeit der innerpolitischen Verhältnisse hingewiesen hätten. Zur Zeit der Stockholmer Verhandlungen hatten sich die zwei Forderungen: Verständigungsfrieden und Demokratisierung als Ergänzungen derselben Notwendigkeit erwiesen und dieselbe Wichtigkeit erreicht. Der erste große Vorstoß, abgesehen von den steten Erwähnungen in Reden und Artikeln, war der Aufsatz, der von mir unter der Überschrift »Zeit zur Tat« im März 1917 im »Vorwärts« erschien, erhebliches Aufsehen machte und die Regierungsvertreter in eine geradezu unbeschreibliche Aufregung versetzte. Der Artikel, der eine historische Bedeutung erlangt hat, hatte folgenden Wortlaut:

»Zeit zur Tat.«

Feinde ringsum! Es bedarf keiner langen Unterhaltung über die Frage, warum fast die ganze Welt mit ihren Sympathien bei unseren Feinden steht. Die Antwort ist leicht gegeben: alle Welt sieht bei unseren Gegnern nur die mehr oder weniger entwickelte und ausschlaggebende Demokratie, bei uns aber nur – Preußen!

Wir haben immer – freilich mit etwas Herzklopfen – auf Rußland verwiesen, das im Lager unserer Feinde steht, obwohl es die rückständigste aller Regierungsformen hatte: den Absolutismus.

Der Zarismus ist inzwischen für Rußland erledigt, denn der neue Landesvater soll die Krone sich nur dann aufs Haupt setzen, wenn die Volksvertretung damit einverstanden ist. Die russische Volksvertretung aber soll gewählt werden auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.

Rußland machte kurzerhand reinen Tisch, fegte mit kräftigem Besenstrich allen Wust und Unrat beiseite und will nun – wenn nicht die Republik das Ende ist – einen der Demokratie huldigenden Fürsten auf den Thron setzen. Rußland soll von nun ab einen Monarchen haben, den man achten und gewähren lassen wird, wie die Engländer, die Dänen, die Norweger ihren König regieren lassen. In Rußland würde dann die auch bei uns bisher immer nur theoretisch behandelte Frage, ob die Monarchie oder die Republik die bessere Staatsform ist, auf absehbare Zeit wahrscheinlich gar keine Rolle mehr spielen. –

Im asiatischen Reiche der Mitte stemmten sich die Mandarine mit aller Gewalt gegen jede Reform. Sie wollten einen Kaiser absolut, so lange er ihren Willen tut. Damit untergruben sie die Monarchie und legten die Fundamente für die Republik. Im europäischen Reiche der Mitte aber suchen ähnliche Geister chinesische Mauern zu errichten, um jede Reform hintanzuhalten!

Die Uhr zeigt 5 Minuten vor 12. Sie aber bilden sich ein, die Zeit aufzuhalten, wenn sie den Zeiger auf 11 zurückstellen. Von den Duisbergern, Fuhrmännern e tutti quanti rede ich erst gar nicht.

Aber vom Reichskanzler will ich ein Wort sagen. Viele, die ihm früher feindlich gegenübergestanden haben, lernten ihn in harter Kriegszeit als einen aufrechten und ehrlichen Mann achten. Er hat im Laufe des Krieges manche gute, im Landtag kürzlich eine wahrhaft herzerfrischende, kluge Rede gehalten, durch die er für die Zukunft manches in sichere Aussicht gestellt hat. Aber warum schreckt er vor dem schon jetzt unbedingt Notwendigen zurück? Will er in der Geschichte als ein ewiger Zauderer und Säumer weiterleben?

Herr v. Bethmann Hollweg will die Preußen-Kur erst nach dem Kriege beginnen, für die Zeit nach dem Kriege waren auch in Rußland allerlei Reformen in Aussicht gestellt worden. Den Russen aber dauerte der Krieg zu lange, und je ärger der Hunger sie bedrückte, um so unerträglicher erschien ihnen die Verzögerung. Sie sagten sich wohl: wenn schon nicht Brot und Kartoffeln für alle zu beschaffen sind, was hindert uns daran, allen wenigstens gleiche Rechte zu geben?!

Und so kam denn der 11. März, sodann der Verzicht des Zaren, und so kam die Demokratie.

Warum auf morgen verschieben, was absolut notwendig und als eine der dringendsten Staatsaufgaben vor vielen Jahren schon vom König selbst bezeichnet worden ist, wenn es heute schon geschehen kann!

Man sagt, daß Schwierigkeiten zu überwinden seien, jawohl, es liegen Strohhalme im Wege, und ein Zwirnsfaden ist über die Prinz-Albrecht-Straße gespannt, aber was für Schwierigkeiten muß das Volk jetzt überwinden! Millionen sehen Tag für Tag entschlossen dem Tod entgegen für ein neues Vaterland des gleichen Rechts, und Millionen und Abermillionen ertragen daheim die größten Entbehrungen und mehr – sie werden immer lauter fragen: für was? Für das Preußen der Westarp und Heydebrand?

Hut ab vor einem Volke, das wie das deutsche und preußische so Unerhörtes in diesem Kriege geleistet hat und auch weiter leisten wird. Einer tut es dem anderen gleich. Ja mehr: des Vaterlandes ärmster Sohn war auch sein bester! Der Kanzler hat es in feierlicher Rede der deutschen Volksvertretung vor aller Welt verkündet, allen ist die gleiche Pflicht auferlegt, sollten auch nur für einen Tag nach dem Krieg nach ungleichen Maße die Rechte zugemessen bleiben? Es ist ein geradezu unerträglicher Gedanke, daß nach dem Kriege die, die jeden Tag Geschäfte gemacht und Nacht für Nacht im warmen Bette zugebracht haben, das Mehrfache des politischen Rechts haben sollten, wie die Tapferen, die aus dem Trommelfeuer, aus dem Flugzeug und aus dem U-Boot heimkehren.

Es ist jetzt Zeit zum entschlossenen Handeln. Die Schwierigkeiten, die entstehen könnten, wenn die Regierung jetzt das Wahlrecht für Preußen verlangt, wiegen federleicht im Vergleich mit den Schwierigkeiten, die entstehen können, wenn eine solche Vorlage nicht kommt. Die Parlamentarier und die Parteien, die jetzt im Landtag »Nein« zu sagen wagten, wenn die Regierung das gleiche Wahlrecht energisch fordert, wären im Handumdrehen erledigt. Man muß also nur ernsthaft wollen, jetzt wollen.

Im Abgeordnetenhause ist die Reform in kurzer Zeit durchgesetzt. Hat jemand Angst vor den Herrenhäuslern in einer Zeit, in der wir einen Kampf auf Leben und Tod mit nahezu der ganzen Welt entschlossen kämpfen?

Die Zeiten sind ernst, und das gleiche Preußenwahlrecht ist reif. Der Reichskanzler sollte keinen Tag weiter zögern, das preußische Volk und die anderen deutschen Bundesstaaten werden wie ein Mann an seiner Seite stehen, wenn er entschlossen handelt.

Der Artikel hatte leider nicht nur die Regierung erheblich verschnupft, sondern auch, zu meinem größten Bedauern muß ich es feststellen, einige sehr prominente Mitglieder meiner eigenen Partei. Einer sagte mir in größter Erregung: »So was gefällt draußen, aber du als Parteivorstandsmitglied darfst so nicht schreiben.« Ich antwortete sehr deutlich und, ich gestehe es offen, sehr verärgert, daß ich auf dergleichen Einwände pfeife und lieber auf alle meine Ämter verzichte als auf das unveräußerliche Menschenrecht, meine Meinung unter meinem Namen zu sagen.

Ganz aus dem Häuschen war man in der Wilhelmstraße über den Artikel. Wahnschaffe, der getreue, gescheite und sehr verständige Gehilfe des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, bat mich in die Reichskanzlei, um mir zu sagen, daß ich eine grauenhafte Aufregung mit meinem Artikel heraufbeschworen hätte.

Er und der Reichskanzler wüßten, daß ich gewiß nichts Böses beabsichtige, aber von der Rechten hätten sie schon allerlei hören müssen: ich predige die Revolution und wolle den Kaiser in seinen Rechten schmälern usw. Ich setzte ihm auseinander, was ich bezwecke: den Reichskanzler darauf aufmerksam zu machen, daß er bei seiner Angst vor der Rechten nicht vergessen solle, auch ein bißchen Angst vor dem Volke zu haben. Ich wollte ihn warnen und zu entschlossenen Taten treiben. Wenn die Regierung energisch das Reichstagswahlrecht für den Landtag verlange, würden die Nationalliberalen und das Zentrum nicht wagen, zu erklären, daß sie den Soldaten, die jetzt für das Land kämpfen, gleiche Rechte nicht gewähren wollten. Aber wenn schon: dann sollte er einen Staatsstreich machen. Das Wahl»recht« in Preußen bestehe zu Unrecht usw. – Er: Jetzt hat es mehr als 60 Jahre bestanden, man kann doch nicht zugeben, daß man solange ein Unrecht geduldet habe. Ich widersprach ihm entschieden: ich sei auf den Einwand gefaßt, daß dann auch alle vom Landtag beschlossenen Gesetze ungültig seien. Dem könne man durch ein Gesetz abhelfen, das die Arbeit des Landtages als gesetzlich zu Recht bestehend akzeptiere. Dem neuen Landtag bliebe es dann vorbehalten, gründlich mit Reparatur- und neuer Arbeit zu beginnen. Er war auffällig kleinlaut und versprach mir, dem Reichskanzler gewissenhaft zu berichten, was ich ihm gesagt hätte. Wir sprachen dann über die Revolution in Rußland. Er rechnet auf einen Rückschlag und auf die Militärdiktatur. Dann käme man wohl bald zum Frieden. – Er fand es auch durchaus begreiflich, daß wir Sozialisten die russischen Genossen beglückwünschten – was ich in Aussicht gestellt hatte.

Wenige Tage später hatten Ebert und ich eine Unterredung mit dem Reichskanzler über die von uns verlangte Wahlreform in Preußen. Es dauerte gar nicht lange, und schon wieder stand mein Artikel »Zeit zur Tat« im Mittelpunkt der Debatte. Der Reichskanzler redete sich immer mehr in Erregung. Wenn wir ihn zwingen sollten, im Reichstag über das Wahlrecht zu reden, so werde er sagen müssen, daß das eine Angelegenheit sei, die in den preußischen Landtag gehöre. Wir sagten ihm gründlich unsere Ansicht. In meinem Tagebuch ist über diese Unterredung sehr ausführlich berichtet. Ich zitiere nur diese Sätze: Er empfing uns sehr liebenswürdig, ich gewann aber sehr schnell den Eindruck, daß er sich einbildete, mir gegenüber Eindruck zu machen, wenn er sehr nachdrücklich, quasi mit feierlichem Ernst, auf mich einredete wegen des Vorwärts-Artikels »Zeit zur Tat«. In Wirklichkeit hat er niemals weniger Eindruck auf mich gemacht, als gestern abend. Ich mag es nicht niederschreiben, will es aber als gewissenhafter Chronist doch tun: ich hatte sogar zeitweilig den Eindruck, als sei er der ehrliche Mann nicht, für den ich ihn gehalten habe und fernerhin gern halten möchte. Wie er vom Wahlrecht sprach und von den Offizieren, die heftige Gegner davon seien, hätte ich ihm am liebsten den Rücken gekehrt und wäre davongegangen.

»Reichskanzler Scheidemann.«

Dieser Vorwärts-Artikel brachte mir übrigens auch ein bemerkenswertes Anerbieten. Eine in der Öffentlichkeit allgemein bekannte und geachtete Persönlichkeit ersuchte mich um eine Unterredung, zu der ich mich natürlich sofort bereit erklärte. Die Unterredung fand am 30. März im Zeppelinzimmer des Reichstages statt. Zweck der Übung: Ich sollte selbst zur »kühnen Tat« schreiten und dann das Amt des Reichskanzlers übernehmen. Mein Ansehen und meine Macht, so versicherte der hochgestellte Mann immer wieder, seien auch in Bürgerkreisen viel größer als ich wisse. Die ungeheure Mehrheit des Volkes werde mir folgen, wenn ich mich entschließen könnte – – Ob ich zu kühner Tat bereit sei? Ich gab ihm die Versicherung, daß ich vor nichts zurückschrecken würde, wenn ich die Überzeugung haben könne, dadurch dem Krieg und der Not unseres Volkes ein Ende zu bereiten. Zurzeit hätte ich diese Überzeugung nicht. Die von ihm gewünschte »kühne Tat« bedeute den Bürgerkrieg und damit die sichere Niederlage auf der ganzen Linie. Unbefriedigt durch meine Äußerungen verließ mich der Mann.

Die folgerichtige Krönung unserer aufreibenden Arbeit für den Verständigungsfrieden war die Entschließung des Parteiausschusses, in der zum erstenmal in Deutschland unter Übernahme des russischen Revolutionsprogramms die Formel »Ohne Annexionen und Entschädigungen« von einer politischen Partei angenommen wurde, die auf dem Boden des Verständigungsfriedens stand. Die Geradlinigkeit der sozialdemokratischen Haltung konnte nicht besser in Erscheinung treten als in diesem Entschluß, der lediglich eine neue und vielleicht präzisere Formulierung der Stellungnahme war, die, wie am Anfang dieses Kapitels ausgeführt, die sozialdemokratische Partei bereits im Jahre 1915 angenommen hatte.



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