Paul Scheerbart
Das große Licht
Paul Scheerbart

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Der Baron als Retter

Eine Diplomatengeschichte

Der alte Baron Münchhausen, der ja jetzt bekanntlich schon 187 Jahre alt ist, weilte am Ende des Jahres 1911 in China und sah der Absetzung des Kaisers von China ganz aus der Nähe zu. Dabei lernte der Baron sämtliche Diplomaten der chinesischen Republik kennen und telegraphierte nach Europa mehrmals:

»Donnerwetter! Die chinesischen Diplomaten sind doch zu schlau – immer noch schlauer. Hier kann man was lernen. Donnerwetter!«

Diese Telegramme gelangten auch in die Hände von verschiedenen deutschen Regierungsräten – natürlich auf Umwegen.

Und im August des Jahres 1912, als der Baron zufällig wieder in Berlin war, sagte der Geh. Regierungsrat von Wussow zu dem Geh. Regierungsrat von Dochow:

»Sagen Sie mal, Kollege, der alte Baron von Münchhausen hat die chinesischen Diplomaten ganz genau kennen gelernt und ist dabei selber ein großer Diplomat geworden. Wie wärs, wenn Sie ihn, den Baron, nächsten Sonnabend einlüden? Ich glaube: er kommt. Er kann unser Retter sein. Wir wissen doch tatsächlich nicht, was wir zu dem Gothaer Aeroplan-Turnier sagen sollen. Vielleicht – ja vielleicht ist es möglich, den Baron als Retter in die gute Gesellschaft einzuführen. Wir fragen ihn gleich, was er zu dem Aeroplan-Turnier sagt. Ich glaube: er antwortet uns so, daß wir die Retter Europas werden könnten. Wie denken Sie darüber?«

Herr von Dochow klemmte sich sein Monocle ins linke Auge, sah träumerisch in die Ferne und bemerkte nach zwei Minuten:

»Ich werde ihn sofort einladen.«

Und es geschah.

Und am Sonnabend waren 100 Geheime Regierungsräte mit ihren Damen in dem großen Garten des Herrn von Dochow.

Der Baron von Münchhausen ward von allen Herren umringt und zu seinem prächtigen Aussehen herzlich beglückwünscht – hundert Mal!

»Nun – zu den Damen!« rief der Baron lustig.

Doch da kam der Herr des Hauses und sagte listig:

»Herr Baron! Bitte erst eine Frage beantworten!«

Der Baron nickte, und Herr von Wussow sprach:

»Was sagen der Herr Baron zu dem Aeroplan-Turnier in Gotha, das am 18. d. M. stattgefunden hat?«

»Oh! Oh!« erwiderte der Baron, »ich lese ja keine Zeitungen; ich habe keine Ahnung, was da stattgefunden hat. In Gotha? Gotha ist mir wohl bekannt.«

»Es war«, fuhr Herr von Wussow fort, »ein veritables Bomben-Turnier.«

»Was Sie sagen!« rief der Baron lebhaft.

»Ja«, fuhr Herr von Wussow abermals fort, »es waren zwei Wurfkonkurrenzen ausgeschrieben. Die Flieger sollten in zweihundert Meter Höhe Bomben auswerfen – natürlich vorläufig ohne Dynamiteinlage. Einmal wars ein Feld von hundert mal hundert Meter Grundfläche, das andere Mal ein kleiner Zeppelin. Lindpaintner warf zehn Mal auf das Feld und traf sieben Mal. Was sagen Sie dazu, Herr Baron? Wenn diese Konkurrenzen allgemeiner werden, so sind unsre Warenhäuser, Kirchen und Sitzungssäle in der allergrößten Gefahr. Wie vermeiden wir die Zerstörung dieser wichtigen Staatsinstitute? Das müssen Sie uns erst sagen. Sie sind ja in China gewesen.«

»Nachher«, rief von Dochow, »führen wir Sie zu den Damen – wir führen Sie dort als Retter ein.«

»Einen Stuhl!« rief der Baron.

Man brachte ihn, der alte Herr setzte sich, zog sein Notizbuch hervor und machte zehn Minuten hindurch Notizen. Die geheimen Regierungsräte wurden durch das Stehen sehr angestrengt, und sie setzten sich nach und nach alle auf Stühle, Klubsessel und Diwans; die Diener schleppten die Sitzgeräte mit großer Gewandtheit herbei.

Als sie alle so da saßen, sprach der Baron:

»Merkwürdig, daß Ihnen dieses Problem Schwierigkeiten macht. Eine Gegenfrage zunächst: warum haben Sie die Stadt Rixdorf in Neu-Kölln umgetauft?«

Betreten sah einer den andern an, schließlich bemerkte kleinlaut Herr von Dochow als Herr des Hauses:

»Eine sehr diplomatische Frage!«

»Sie müssen mir«, fuhr der Baron fort, »diese Frage schon beantworten, sonst schweige ich wie eine Pyramide – und wenn zehntausend Frauen da sein sollten.«

»Hm!« erwiderte von Dochow, »vielleicht hat Herr von Wussow die Güte, sich über Neu-Kölln zu äußern.«

»Soll«, fragte wieder von Wussow, »eine ganz freimütige Antwort erfolgen?«

»Gewiß! Gewiß!« riefen alle Geheimräte.

Herr von Dochow bat die Dienerschaft, sich sofort zu entfernen.

Es geschah.

Und Herr von Wussow sprach nun leise und hastig:

»Es war natürlich überall bekannt, daß Rixdorf ganz und gar von Sozialdemokraten bewohnt wurde; Rixdorf war eine Hochburg der Sozialdemokratie. Es gibt noch viele andere derartige Hochburgen. Aber mit Rixdorf sollte der Anfang gemacht werden. Es wurde uns die Aufgabe gestellt, Rixdorf als Hochburg zu vernichten. Und die Lösung des Problems gelang uns spielend: Rixdorf verschwand, indem sein Name verschwand; Neu-Kölln wird Niemand mehr eine Hochburg der Sozialdemokratie nennen; das steht bombenfest.«

Er schwieg, und die andern neunundneunzig Geheimräte blickten mit Stolz auf ihren Kollegen.

Herr Baron von Münchhausen steckte sich eine Zigarre an und sagte:

»Dachte mir schon, daß die Sache so zusammenhängen würde. Ja! Das Umtaufen! Wenn Sie nun den Patriotismus neu beleben wollen, sodaß er Ihnen bei Bekämpfung der höheren Dynamitgefahr hilft – d. h. gegen das Dynamit, das von oben kommt, schützt – so seien Sie noch kühner bei dem bevorstehenden Umtaufen der Städte. Zunächst seien Sie harmlos, damit man sich an die Umtaufen gewöhnt. Machen Sie aus Groß-Lichterfelde – Berlin-Lichterfelde, aus Zehlendorf-Wannseebahn – Zehlendorf-Mitte; das wirkt harmlos. Dann aber kitzeln Sie den patriotischen Ehrgeiz: machen Sie aus Charlottenburg – Gravelotte, machen Sie aus Köpenick – Sedan usw. usw.«

»Ja«, rief nun Herr von Wussow entsetzt, »das macht ja die Bevölkerung noch kriegerischer. Das wäre ja Selbstmord.«

»Selbstmord!« klang es von rechts.

Und »Selbstmord« klang es auch von links.

Herr von Dochow klemmte wieder sein Monocle ins linke Auge und sagte zu Herrn von Wussow:

»Ihre Einladungsidee scheint nicht sehr berühmt zu werden, Herr Kollege!«

»Na, warten wirs«, versetzte der heftig, »doch erst ab.«

Der Baron rauchte und gestattete seinen Zuhörern, immer wieder das Wort »Selbstmord« zu verwenden.

Endlich rief Herr von Wussow:

»Ich bitte sehr um Ruhe. Der Herr Baron will doch fortfahren.«

»Freilich!« sagte dieser, »hören Sie doch: wenn alle Schlachtplätze Frankreichs aus dem Kriege von 1870 auf die einzelnen Städte Deutschlands verteilt sind – wenn Straßburg – St. Privat heißt, Hamburg – Neu Orleans – usw. – und wenn man recht oft das Wörtchen 'Neu' verwertet hat, so kann man, da ja die Bevölkerung schon an die Umtauferei gewöhnt ist – so kann man – Berlin auch in Neu-Paris umtaufen.«

»Ah!« riefen da alle Geheimen, und sie hielten den Mund länger auf, als schicklich ist.

Herr von Wussow lachte plötzlich ganz laut.

Die Andern lachten ganz leise.

Und alles sah den Baron gespannt und fragend an.

»Weiter!« rief Herr von Dochow.

»Nun«, fuhr der Baron fort, »jetzt könnten Sie sich doch ganz leicht den Text selber konstruieren. Frankreich würde nach dieser Tauftat Deutschlands doch Paris zu Neu-Berlin machen ––– alles würde lachen, lachen, sehr laut lachen.«

Jetzt lachten alle Anwesenden so laut, daß sich die Damen, die fünfhundert Meter entfernt waren, ganz erschrocken umblickten.

Der Baron stand auf und sagte:

»Bin ich jetzt Ihr Retter?«

Und alle riefen jubelnd:

»Ja! ja!«

»Die Lachenden sind immer friedlich.«

»Die Bomben schmeißenden Flieger werden ja nicht Städte beunruhigen, die Heimatsnamen der Flieger tragen.«

»Und das gilt für beide Parteien.«

Herr von Dochow führte den Baron zu den Damen und stellte ihn nur mit diesen zwei Worten vor:

»Unser Retter!«

Da verbeugten sich die Damen sehr tief, denn sie wußten ganz genau, warum der Baron eingeladen war.


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