Paul Scheerbart
Das große Licht
Paul Scheerbart

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Münchhausen in afrikanischer Sklaverei

Eine Geschichte in Briefform

 

Geehrter Herr Asenikoff!

Sie machen mich rasend, wenn Sie das Manuskript nicht mehr auftreiben können. Sie waren dabei, als der Baron Münchhausen im Sommer des Jahres 1904 plötzlich in Neapel erschien und dort im »Europäischen Hof« einen Vortrag hielt – über sein Leben in der afrikanischen Sklaverei. Sie haben den Vortrag stenographiert und müssen jedenfalls doch wissen, was Sie stenographiert haben. Das kann doch Ihrem Gedächtnis nicht einfach entfallen sein. Das ist doch einfach unmöglich. Der Baron macht doch sonst Eindruck mit seinen Vorträgen. Außer Ihnen ist kein Mensch mehr zu entdecken, der damals auch dabei war. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, bin deswegen fünfmal in Neapel gewesen – und alles war vergeblich. Ich bitte Sie nun flehentlich: geben Sie sich doch die größte Mühe, das Manuskript zu entdecken. Ich habe bestimmt darauf gerechnet, daß Sie's zurückbekommen würden. Lassen Sie sich doch nicht so schrecklich viel bitten. An den Baron selbst kann ich mich nicht wenden, da ich seine Adresse nicht kenne. Er soll immer noch in Ostasien sein. Aber Niemand weiß den Ort, in dem er sich aufhält. Erfahre ich die Adresse der Gräfin Clarissa vom Rabenstein, so bekommt sie sofort ein paar Zeilen von mir. Leider sind ihre Eltern auch verreist.

Hochachtungsvoll

Ihr
Scheerbart.


Friedenau b. Berlin, 25. Juni 1910.

Geehrter Herr Scheerbart!

Da ist leider nichts mehr zu machen. Das Manuskript erhielt im Sommer 1905 ein Berliner Verleger. Der ist inzwischen gestorben, und seine Erben bestreiten alles – wollen nichts gesehen und nichts gehört haben. Ich habe nichts in der Hand, wodurch ich die Leute zwingen könnte. Hätte auch keinen Wert. Sie würden die Geschichte schon herausgeben, wenn sie die Sache in der Hand hätten. Haben aber nichts in der Hand. Bot vergeblich tausend Rubel an. Mehr kann ich in der Angelegenheit nicht tun. Glauben Sie, daß es Zweck hat, das Doppelte oder das Dreifache zu bieten? Dadurch würden diese Verleger vielleicht nur verleitet werden, ein Falsifikat einzuschmuggeln. Und das würde ich sofort durchschauen. Nein – wir wollen in der Münchhausenaffäre um alles in der Welt willen keine unwahre Geschichte aufkommen lassen. Lieber wollen wir sagen: wir wissen nicht, wie sich die Sache verhält. Und so ist es. Das müssen Sie dem Publikum ganz kühn ins Gesicht sagen. Dadurch wird Ihre Wahrheitsliebe scharf markiert an die Wand gemalt. Die Adresse der Gräfin Clarissa vom Rabenstein muß durch den ehemaligen Reichskanzler Fürsten von Bülow zu erfahren sein. Wenden Sie sich an den. Das ist das einzige, was ich für Sie zu tun vermag. Mehr kann ich leider nicht.

Hochachtungsvoll

Ihr
Asenikoff.


Petersburg, 5. Juli 1910.

Geehrter Herr!

Nein aber – wissen Sie – der Baron ist ja einfach entzückt gewesen, daß der Herr Asenikoff sein Manuskript verloren hat. Das wußte übrigens der Baron schon vor einem Jahr. Ich bin jetzt hier in Wiesbaden zur Kur. Der Baron will nichts mehr von seinem hundertjährigen Sklavenleben in Afrika wissen. Tun Sie mir den Gefallen und verzichten Sie auf alle weiteren Nachforschungen. Die haben, nebenbei gesagt, auch nicht den geringsten Wert. Was man nicht sagen will, das sagt man eben nicht. Und was man vergessen will, das vergißt man eben. Geben Sie sich keine weitere Mühe in der Angelegenheit. Alles ist vergeblich. Schreiben Sie aber keine Unwahrheiten. Das rate ich Ihnen. Denn der Baron ist in puncto Wahrheitsliebe von einer außerordentlichen Feinfühligkeit. Er ist momentan noch in Ostasien.

Hochachtungsvoll

Clarissa vom Rabenstein.

Wiesbaden, 15. Juli 1910.

Geehrter Herr Asenikoff!

Anbei die Abschrift eines Briefes der Gräfin Clarissa vom Rabenstein. Wenigstens weiß ich jetzt als erster Münchhausenforscher eins ganz sicher: der Baron ist tatsächlich hundert Jahre lang als Sklave bei kleinen fingerlangen Lebewesen im Innern Afrikas gewesen. Hundert Jahre! Aber darum wird ja die Geschichte nur noch interessanter. Nie habe ich geglaubt, daß es ein Mensch hundert Jahre in qualvoller Gefangenschaft aushalten könnte. Vielleicht stammt aus dieser hundertjährigen afrikanischen Sklavenzeit der nie umzubringende Humor des alten Barons. Jetzt aber müssen Sie mir umgehend alles das schreiben, was Ihnen noch in der Erinnerung geblieben ist. Zunächst mal: war der Baron schon auf der Weltausstellung in Melbourne gewesen, als er in Neapel seinen afrikanischen Vortrag hielt? Bitte schreiben Sie gleich – und gleich möglichst viel, denn ich bin sehr neugierig.

Hochachtungsvoll

Ihr
Scheerbart.


Friedenau bei Berlin, 17. Juli 1910.

Geehrter Herr Scheerbart!

Wenn die Sache so steht, dann ist ja alles gut. Also: der Baron will nicht, daß man über seine afrikanische Existenz redet und schreibt, nicht wahr? Nun – dann ist es doch einfach Sache des Anstandes, die ganze Geschichte ruhen zu lassen. Ich verstehe da nicht, warum Sie noch nicht mit Ihrer Aufklärungsarbeit abgeschlossen haben. So viel steht fest: Ende 1904 war der Baron in Melbourne. Er kam also nach Melbourne, nachdem er in Europa schon gewesen war. Alles Andre halte ich jetzt für endgültig erledigt.

Hochachtungsvoll

Asenikoff.

Petersburg, 20. Juli 1910.

Werter Herr Asenikoff!

Ihr Ton ist sehr scharf. Sie werfen mir ganz einfach veritable Taktlosigkeit vor. Indessen – der Fall liegt hier doch anders, als Sie denken. Wir wissen doch schon eine ganze Reihe von Tatsachen über den Aufenthalt des Barons in Afrika. Und wir wissen doch, daß der Baron dabei gar keine anstößigen Erlebnisse gehabt haben kann, denn er war hundert Jahre hindurch Sklave bei ganz kleinen fingerlangen Leuten und der einzige Mensch in der dortigen Gegend. Was soll er denn da Böses begangen haben? Man kann doch nur gegen Menschen Böses begehen. Alles Andre gilt doch nicht. Demnach – meine Taktlosigkeit existiert für mich nicht. Ich krame doch nicht in peinlichen Familienakten herum. Was denken Sie sich eigentlich? Ich halte die Verschwiegenheit des Barons in puncto Afrika einfach für einen lustigen Spaß. Er will seine Verehrer ein bißchen foppen und mal so recht geheimnisvoll tun – zum Spaß – zum Spaß!

Und darum bitte ich Sie nun recht inniglich: schreiben Sie mir doch, was Sie von den kleinen Leuten wissen. Ich weiß, daß diese Kleinen einen unzerreißlichen Stahldraht fabriziert haben, und auf diesem Draht sind die Kleinen immerzu auf und ab gefahren. Und nun kommt es: der Baron erzeugte die elektrische Kraft, die bei dem Fahren der Kleinen verbraucht wurde, in einer Tretmühle durch ständiges Treten einer Motorenkomposition. Mehr aber weiß ich nicht. Der Baron war somit das Perpetuum mobile für die afrikanischen Zwerge – ihr »großes Licht«, wie sie ihn auch nannten. Aber das Perpetuierliche erscheint mir doch zweifelhaft. Der Baron muß doch mal geschlafen haben. Er kann doch nicht immerzu Tag und Nacht hindurch getreten haben. Das ist doch einfach gar nicht denkbar. Ganz und gar erscheint es mir ausgeschlossen, daß ein solcher tretender Zustand volle hundert Jahre ausgehalten haben könnte. Das hält doch kein Mensch aus.

Bitte, bitte, sagen Sie mir, wie es sich hiermit verhält, damit keine Unwahrheiten in den Bericht kommen.

Schrecklich muß ja die Treterei gewesen sein. Das gebe ich ja zu – selbst wenn es täglich nur zwölf Stunden gewesen sein sollten. Aber diese zwölf Stunden müssen doch der Entwicklung der geistigen Kräfte hinderlich gewesen sein. Und der Baron ist immer in so vollständiger geistiger Klarheit. Wir stehen hier in jedem Falle vor einem psychischen Rätsel. Bitte, schreiben Sie mir gleich.

In vorzüglicher Hochachtung

Ihr
Scheerbart.


Friedenau bei Berlin, 24. Juli 1910.

Sehr geehrter Herr Scheerbart!

Ihr Brief hat mich jedenfalls davon überzeugt, daß Sie durchaus in dem guten Glauben sind, mit Ihrem Forschungseifer Gefühle und Empfindungen der Beteiligten und auch der Nichtbeteiligten in keinem Falle verletzen zu können. Darum sage ich Ihnen: Wüßte ich noch etwas Näheres über den afrikanischen Aufenthalt des Barons – ich würde es Ihnen ohne Umstände verraten. Aber ich weiß Näheres nicht. Sie können's mir glauben. Mein Wort darauf. Daß der Baron hundert Jahre hindurch nicht einmal geschlafen haben sollte, halte ich für gänzlich ausgeschlossen. Andrerseits glaube ich aber, daß er seine Wächter gründlichst getäuscht hat, indem er eine kleine Maschine für sich arbeiten ließ. Ob sich's wirklich so verhielt, weiß ich nicht mehr. Aber es scheint mir das Wahrscheinliche. Die kleine Maschine – wahrscheinlich eine Dampfmaschine – hat eben die ganze Treterei besorgt. Und der Baron führte ein Herrenleben, wenn die kleinen Herrschaften dachten, er trete für sie. Das wäre wohl die einfachste Lösung. Ob sie stimmt, weiß ich nicht. Aber – sagen Sie's doch so, wie ich's Ihnen sage.

Hochachtungsvoll

Ganz
Ihr
Asenikoff.


Petersburg, 1. August 1910.

Hochverehrter Herr Asenikoff!

Heißen Dank für Ihren aufklärenden Brief. Ich werde unsern Briefwechsel einfach veröffentlichen und es dem Publikum überlassen, sich die ganze Sache zurechtzulegen. Es gibt ja so viele Dinge, die unbegreiflich sind. Warum soll ein hundertjähriges Sklavenleben nicht ebenso unbegreiflich sein und bleiben?

Hochachtungsvoll

Ganz
Ihr
Scheerbart.


Friedenau bei Berlin, 4. August1910.


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