Paul Scheerbart
Das große Licht
Paul Scheerbart

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Die Perlmutterstadt

Eine chinesische Geschichte

Bekanntlich weilt der uralte, nun schon hundertundfünfundachtzig Jahre alte Baron Münchhausen augenblicklich immer noch in China, und da entdeckte er Dinge, die noch kein andrer Mensch vor ihm entdeckt hat.

Über sein Neuestes schreibt er in einem Tagebuch, das er seiner Freundin, der jugendlichen Gräfin Clarissa vom Rabenstein, sandte, die noch vorgestern auf Helgoland war, das folgende:

 

17. Mai 1910. Kaping (Mittel-China).

Die Chinesen hier wollen mir einen großen Bären aufbinden. Sie erzählen mir von einer Stadt, die ganz und gar aus Perlmutter bestehen soll. Wer's glaubt, wird selig. Ich aber glaube es nicht, denn ich weiß, daß alle Menschen außer Clarissa und mir immer geneigt sind, zu lügen. Dieses ewige Lügen macht mir ja die Menschen hauptsächlich so verhaßt. Mein Menschenhaß ist doch eigentlich nur ein Lügenhaß.

Die Chinesen aber, die ich hier kennen lernte, lachen sehr viel und sehen sehr verschmitzt aus. Sie wollen mich überreden, hundert Meilen ins Land hineinzufahren. Zehn alte Herren in prächtig gewebten seidenen Staatskleidern, in denen zweitausend Farben mindestens zu sehen sind, wollen mich begleiten.

»Kein Spaß, Marquis!« sagen sie immerzu.

Und – wenn sie nicht so verschmitzt lächeln würden, wäre ich beinahe bereit, ihnen zu glauben.

 

18. Mai 1910.

Ich habe mich entschlossen, die Reise anzutreten.

Ich bin doch neugierig, wie die Sache auslaufen wird. Es ist sicher, daß mir etwas Abenteuerliches begegnen wird.

Wie aber wird es aussehen?

Das ist jetzt die große Frage.

Jetzt wollen mich schon dreißig Herren begleiten.

Mit meiner Dienerschaft und der kleinen Schutztruppe werden in achtzig Automobilen nicht weniger als zweihundertundsiebzehn Menschen zur Perlmutterstadt fahren.

Die dreißig Herren schwören immerzu:

»Die Stadt existiert.«

Na – wenn sie existiert, so ist es jedenfalls wieder sehr verwunderlich, daß man von derartigen Wunderstädten in ganz Europa und auch in ganz Amerika nicht eine blasse Ahnung hat.

Die Leute reisen heute mehr denn je – aber sie entdecken immer nur das, was längst bekannt ist.

Es scheint doch, als ob es mir wieder mal anders gehen sollte; ich hab ja schon so viele Dinge entdeckt, von denen Niemand bisher etwas wußte – warum also soll ich nicht eine Perlmutterstadt entdecken? Unmöglich ist das gar nicht; China ist ein so herrliches Land, daß man ihm das Unglaublichste zutrauen könnte.

 

10. Juni 1910. Maso (Besenstadt in China).

Das erste Abenteuer hätten wir also schon: wir sind Gefangene – allesamt – von den 217 konnte keiner entwischen. Getötet ist Niemand, verwundet auch Niemand. Und diese Stadt ist tatsächlich eine Besenstadt; vor jedem Hause sind ein paar hundert Besen aufgepflanzt. Und darum herrscht hier eine Sauberkeit – solche Sauberkeit habe ich noch nicht kennen gelernt. Und man sagt mir öfters:

»Marquis, wir sind nicht weit vom Ziel. Die Gegend wird noch viel sauberer werden.«

 

12. Juni 1910. Immer noch in Maso.

Wir sind als Gefangene nicht in ein Gefängnis gesteckt worden – aber in die Badewanne.

Wir wurden nur gefangen genommen – der Reinigung wegen; tüchtig wollte man uns reinigen. Wir ließen uns alles gern gefallen. Die Automobile sind jetzt auch sehr sauber. Aber – unser Gepäck ist uns abgenommen worden. Dafür haben wir andres Gepäck bekommen.

Und man hat uns in köstliche seidene Gewänder gehüllt.

Die Schutztruppe und meine Dienerschaft muß leider zurückbleiben.

Aber mit den dreißig chinesischen Herren fahre ich morgen weiter. Ich bin der einunddreißigste. Nun bin ich diesen freundlich lächelnden Chinesen ausgeliefert mit Haut und Haar.

Nun wollen wir sehen, was jetzt kommt.

Morgen also geht's weiter.

 

15. Juni 1910. Laupa.

Hier hört sich alle Schilderung einfach auf. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin wirklich am Ziel; die Perlmutterstadt existiert. Die Chinesen haben Recht gehabt; es sind keine Lügner. Ich muß lachen, wenn ich an die Europäer denke; die haben keine Ahnung von diesem Stadtwunder.

Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll.

Ich sitze in einem eirunden Saal – so wie in einer großen hohlen Eierschale. Die schräg ansteigenden Wände sind wirklich nur aus Perlmutter – aber nicht glatt – sie sind in unzähligen phantastischen Formen da – so wie echte Perlen – nur viel viel größer ist das meiste. Ich weiß gar nicht, wie die Geschichte gemacht ist; so große Muscheln gibt's doch einfach nicht.

Der Tisch, an dem ich sitze, hat Perlmutterfüße. Ja – diese Füße – die sehen aus wie Meerwunder. Seesterne – in allen möglichen Formen – sind überall. Aber diese Seesterne sind aus Perlmutter.

Dazu wirken die schlichten grünen Samtportieren großartig. Das Licht kommt von oben – durch ein großes Kaleidoskop, das sich in jeder Minute dreimal verändert. Das hängt mit der großen Perlmutterstanduhr zusammen, die in der Eispitze auf einem Perlmutterhügel thront.

Ich habe zwei Stunden auf einem schwarzen Samtdivan gelegen und geraucht, und dieses Milieu in mich aufgenommen.

Ich geb's auf, die Sache vollständiger zu beschreiben. Ich bin einfach überwältigt.

Das Pflaster der Straßen, auf denen ganz langsam unsre Automobile dahinrollten, ist auch aus Perlmutter – das ist ganz glatt.

Es muß künstliches Perlmutter sein.

Menschen hab ich nicht in den Straßen gesehen – Staub auch nicht. Jetzt begreife ich den Reinigungsprozeß, den wir durchmachen mußten.

Aber – die Triumphpforten.

Erinnern ganz entfernt an gotische Dome. Nur ist die Zahl der Türme und Erker überall unzählig. Und – Alles Perlmutter – in Milliarden von Formen – oft ganz drollige Auswüchse – Knollenphantasieen...

Die Automobile fahren tief unten in Schluchten. Oben rechts und links sieht man Perlmuttergeländer. Ich bin einfach futsch.

 

25. Juni 1910. Immer noch Laupa.

Laupa heißt diese Stadt. Ich werde den Namen nicht mehr vergessen. Ich bin gar nicht dazu gekommen, mein Tagebuch vernünftig weiterzuführen. Die Stadt ist von einem reichen Chinesen gebaut – mit Elektrizität wird alles gemacht. Windmotore sieht man überall. Und Saugluftapparate schlucken unaufhörlich allen Staub auf.

Einwohner hab ich auch kennen gelernt – die gehören aber alle zur Dienerschaft des reichen Chinesen. Der Überfall auf uns vor Maso war von dem Herrn der Perlmutterstadt arrangiert; die dreißig Chinesen wußten darum.

Pferde gibt's hier nicht – auch keine vierbeinigen Tiere. Nur Vögel gibt's – in köstlichen, sehr großen Käfigen – die Vögel sollen alle sehr reinlich sein.

Kein Lärm ist zu hören.

Dies ist ja eigentlich nur ein riesengroßes Schloß – aber es hat doch Stadtcharakter.

So oder so ähnlich müßten alle Städte aussehen, die einen größeren Kulturwert repräsentieren wollen.

Das muß in Europa bekannt werden.

 

30. Juni 1910. Glücklicherweise immer noch in Laupa.

Heute großes Diner beim Oberbibliothekar der Stadt. Es war auch der Direktor der hiesigen Kunstsammlungen da.

Ich erfuhr endlich, wie die ganze Geschichte gemacht ist.

Der Oberbibliothekar sagte:

»Die Geschichte ist sehr einfach, lieber Marquis! Sie kennen die venetianischen Wachsperlen, nicht wahr? Gut! Sie wissen, daß diese künstlichen Perlen von den echten nur dann zu unterscheiden sind, wenn man ein scharfes Messer auf sie rauflegt, mit der Scheide nach unten – und dann auf den Rücken der Scheide energisch raufkloppt. Bricht dann die Perle, so sieht man, ob Wachs, Stein, Blei, Eisen – darin ist – oder ob die Masse eine konforme Perlenmasse ist. Im letzteren Fall ist die Perle echt. Man stellt die künstliche Perlmuttermasse aus den Schuppen eines kleinen Fisches her. Der Fisch heißt Ukley und befindet sich zu Billionen in den sogenannten Ukley-Seen des Landes Ostpreußen. Aus diesem Lande haben wir all unser Perlmutter bezogen. Es hält ausgezeichnet. Die Europäer denken immer noch nicht daran, künstliches Perlmutter en gros herzustellen – und en gros zu verwenden. Die Europäer sind doch immer trotz aller ihrer Erfindungen sehr weit zurück in der Kultur.«

Ich mußte dem Oberbibliothekar Recht geben.

»Ja«, versetzte ich, »die Europäer sind noch immer sehr weit zurück in der Kultur.«

»Merkwürdig ist nur«, fuhr der Chinese fort, »daß die Europäer gar nicht bemerkten, mit welchem Eifer wir dem Ukley nachstellten; die sibirische Bahn hat mächtige Gelder durch unsern Ukley-Transport eingenommen.«

 

Mehr habe ich bislang nicht aus den Tagebüchern abschreiben können. Die Gräfin Clarissa vom Rabenstein wollte mir leider das übrige nicht zeigen. Vielleicht bekomme ich's später – dann mehr...


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