Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Renate bekam an ihrem Geburtstage ein großes Schreiben mit Jasons ganz kleiner, schwarzer und überaus zierlicher Schrift, aus dem ein kleiner Brief und mehrere beschriebene Bogen herausfielen. Der Brief lautete:
Liebe Renate:
Den Menschen Jason bekümmert es, nicht an Deinem diesjährigen Geburtstagsfeste, sich beglückwünschend, erscheinen zu können, also muß er schreiben. Auf der Suche nach einer Gabe erinnerte er sich eines Wunsches von Renate, eine der Geschichten, die er in den Zeiten der Friedliebenden Gesellschaft erzählte – insbesondere eine von ihr nicht gehörte – aufgeschrieben zu bekommen. Dies tut er gerne. Es freute ihn dabei, auch einiges von den Menschenwesen, die sich an der Erzählung gewissermaßen beteiligten – wie Du sehen wirst – mit festhalten zu können: sein Gedächtnis erwies sich noch jugendfrisch und in Anbetracht des guten Zweckes also einmal erfreulich. Einiges ist wohl trotzdem erfunden worden, und es wird dann nicht das Schlechtere sein, sintemal nur in sehr wenig Menschen das nicht zu sein pflegt, was man in ihnen vermutet, auch wenn sie es nicht äußern.
Renate, die noch am Frühstückstisch dies gelesen hatte, nahm den Brief zusammen, wollte in ihr Zimmer hinauf, stieg aber versehentlich höher und betrat das Josefs. Dort im Sessel sitzend und die Blätter mit Jasons Geschichte aufschlagend, merkte sie dann freilich gleich, aus welchem Grunde sie hier zu lesen hatte und nirgend anders. Sie las:
Orest und die Eumenide
(eine Legende im Rahmen)
Sie saßen zusammen im Erker des gotischen Fensters, während es Abend wurde, Esther, Magda, der Maler Bogner und Jason, der zuletzt kam. Zuerst war es Esther allein gewesen, die dicht neben der großen, fast bis zur Erde reichenden, grünlichen Glaswand saß, hoch über sich die schöne Wölbung des spitzen Bogens, das kleine, schwarze Chinahaupt, die reine Stirn, die dunkel brennenden Augen unter den runden Brauen über ihre buntfarbene Stickerei gebeugt, in der Faden um Faden unter den hurtigen Schritten der Stiche aufging, während hin und wieder ein Hauch der Sommerabendluft die kleine, lose Haarsträhne über ihrer Stirn aufhob und sanft zauste, hereinwehend aus einem der kleinen Vierecke, die wahllos über die Fläche der Scheibe verteilt, alle offen standen, so daß jedes ein Quadratstück der Landschaft in der Tiefe enthielt, dieses nur Wiesengrün, jenes einen Ausschnitt vom Bahndamm, jenes ein paar Türme der Stadt weit hinten, und dieses die still und geruhig rauchenden Schlote der Zuckerfabrik ganz rechts. Magda, die dann heraufgekommen war, hatte sich nach ein paar freundlichen Worten ans Fenster gestellt, groß, schmal und blaß von Antlitz und Haar, hinausblickend durch das Viereck, das sie gerade vor Augen hatte, in dem nur der Abendhimmel war, licht und von jenseit zart golden durchleuchtet, aber sie hatte nun die ganze Abendgegend unter sich, die Weiden, die dunstige Stadt mit Kuppeln und Türmen, das Wehr und den Fluß zur Linken, und dahinter das Blau der Hügelrücken; und so fand sie der Maler. Aber sein immer graues und bartloses Gesicht hatte sich nur eine Minute, während er seine kurze Pfeife stopfte, über Esther und ihre Arbeit geneigt, und er war in seiner sachten Art wieder im schon dämmerigen Hintergrund verschwunden, wo er vor den Bücherregalen saß; daß er nicht hinausgegangen war, merkten sie im Fenster nur an dem süßlichen Geruch des Qualms, der ab und zu vorüber wehte und ins Freie zog. Schließlich erschien dann Jason al Manachs Gestalt, der, in den Sessel Esther gegenüber versinkend, gleich sagte, er wäre im Museum gewesen. Danach machte er eine Pause, aber der Maler schwieg natürlich, Esther hatte gerade ein paar Seidensträhnen von ähnlichem Grün über ein halb gesticktes Blatt gelegt und betrachtete das mit kleinen, prüfenden Grimassen der Brauen und der Zungenspitze, und so versuchte die immer Gütige, Magda, ein wenig sich hinüberwendend, ein leises: »Nun, und?«
»Da traf ich den jungen Stupitzka, den Archäologen, und er erklärte mir alles. Die Archäologen sind doch die freundlichsten Menschen«, sagte Jason. Esther blickte ihn schnell an, ein bißchen ungläubig, um nicht zu sagen spöttisch, und was sie meinen mochte, drückte dann Magda aus: es gäbe wohl keine Menschenart, von der er, Jason, nicht, wenn die Rede darauf käme, versicherte, daß sie die freundlichsten seien. »Und nun, – was gab es Besonderes zu sehen?« –
Jason, zu ihr, die wieder hinausblickte, aufsehend, indem er still für sich die Spuren der langen Krankheit, der Schlaflosigkeit und der Schmerzen auf ihrem in sich vergehenden Gesicht zählte, sagte:
»Etwas Einziges. Den Kopf eines schlafenden Mädchens, das unserer Ulrika ähnlich sah, – wißt ihr, wenn sie anfangen will zu spielen, die Brauen sich heben, steiler scheinen und ein ernster Schatten über ihr zartes Gesicht fällt. – Sie war nun freilich überlebensgroß, graugelb getönter Gips, aber dennoch …«
Er fuhr fort, eine Abbildung müsse in einer der Mappen auf dem Schrank sein, und gleich ging Magda, bereit, jederzeit einen Auftrag zu hören und ihn auf sich zu beziehn, hinüber und schleppte die Mappen her, legte sie neben Jason auf die Erde, und der hatte bald gefunden.
»Seht ihr, das ist sie!« sagte er erfreut. (Esther entschloß sich, einen Augenblick aufzuhören mit Sticheln und Fadenabschneiden.) »Sie schläft. Seht ihr hier das Ohr unter den Wellen des Haares, wie einen Eingang in geheimnisvolle Tiefen? Sie schläft, was mag hier eindringen? Es ist recht ernst, dies Profil, – die Brauen … Wie schön es im Schlaf auf die Seite gesunken ist!« Er sah zu Magdas und Bogners – der war hinzugetreten – Gesichtern auf, lächelte und fragte: »Was meint ihr, wer ist es?«
»Muß es jemand sein?« fragte der Maler.
»Ja,« erwiderte Jason, »diese Griechen machten immer etwas, das etwas war.«
»Also vielleicht die Gorgo«, schlug Bogner vor. – Esther, die den Kopf nur umgekehrt, von oben, gesehen hatte, sagte, wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrend, die Gorgo wäre doch wohl wild und häßlich.
»Nun, nun,« meinte Jason, »du vergißt ja die Rondanische. Denke auch an das schöne Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer. Ja, es könnte die Meduse sein; sie war ein geheimnisvolles Wesen, sie war nicht häßlich, ihr Anblick versteinte, das war ein Fluch, sie konnte nichts dafür; wenn sie schlief, war sie unschuldig, dann könnte sie so ausgesehen haben. Ich will es euch sagen,« fuhr er fort, »denn ich selber hielt sie für die Gorgo, aber der junge Stupitzka hat mir gesagt, daß es eine Eumenide ist. Sie verfolgten den Orest, der seine Mutter erschlagen hatte, das wißt ihr ja, und als er sich eines Nachts in einen Tempel geflüchtet hatte, wohin ihm die Dämonen nicht folgen durften, lagerten sie sich draußen auf den Stufen und schliefen auch. Dies ist eine von ihnen.«
Es war nun eine Weile still, nachdem die dunkle und melodische Stimme verhallt war. Sie hörten den kleinen Schrei einer Lokomotive fern, und Magda, die wieder an ihrem Ausguck stand, und auch der Maler, der an ihrem Kopf vorüber hinaussah, bemerkten den kleinen Zug, wie er sich über die schnurgerade Linie des Bahndammes bewegte, und die weißen Rauchballen, die über die Weideflächen leicht davonsprangen, sich auflösend in die goldene Luft.
»Das finde ich nun schön,« sagte Jason leiser: »auch die Erinnye schläft einmal. Was uns verfolgt und quält, einmal läßt es uns ruhen; auch das Quälende bedarf des Schlafs.«
Esther hatte einen lichtblauen Faden zwischen den Zähnen, zog ihn mit beiden Händen langsam hin und her, während sie irgendwohin blickte, in das verschwommene Grün der Wipfel hinter dem Grün des Glases, bis der Faden mit einem kleinen Ruck zerriß, und sie sagte eilfertig, von oben auf die Abbildung herunterblickend, wie ein Schwan auf sein Spiegelbild:
»Das ist – –, wenn ich so deine Worte höre: Auch die Erinnye schläft … und dies Gesicht dabei sehe, dann steigt etwas daraus auf wie –« Sie stockte und blickte erst zu Bogner auf, der noch immer betrachtete aus seiner Höhe, dann in Jasons Gesicht. Während ein Lächeln und das Erröten zugleich auf ihren Wangen langsam aufschwebte, war es ihr, als ob er magisch aus ihr herauszöge, was er sagte:
»Wie Legende, nicht wahr? Als gäbe es etwas zu erzählen.« Da nickte sie zufriedengestellt, als würde er flugs anfangen, und begann einzufädeln.
»Das sagst du so,« meinte Jason, »daß ich nun erzählen soll. Freilich ist da etwas, aber nun ist es bloß ein Anfang, und alles Übrige fehlt. Nun, vielleicht findet ihr selber es nachher, also setzt euch.«
Er winkte zu Magda und Bogner, und während dieser sich wieder in sein Dunkel zurückzog, setzte sie sich auf die weiche Lehne von Esthers Ledersessel. Jason, aus den vielfarbigen Seidendocken auf dem Tischchen neben Esther eine dunkelrote ergreifend, die er langsam durch die Finger gleiten ließ, fing an.
»Am siebenten Abend nach dem Beginn der Verfolgung, nachdem er ohne Unterlaß bei Tage hinter sich die Schritte und das Rauschen der Kleider, das Zischen der Nattern und die halblauten, höhnischen und gehässigen Gespräche der drei Schwestern gehört – er hörte sie nur, sie waren fort, wenn er sich wandte –, bei Nacht aber, wenn er sich wie ein Bündel irgendwo hingeworfen, ihre Dolche in seiner Brust, ihre Vipern um seinen Hals, ihren giftigen Atem über seinem Gesicht gespürt hatte, schlaflos bis zum Morgengraun, wo sie schwanden, – am siebenten Abend taumelte Orest eine Treppe hinauf und brach oben an etwas Kaltem und Steinernem zusammen. Als er nach langer Zeit wieder zu sich kam, gewahrte er, daß er im Eingange eines Tempels lag, eines großen, dämmrigen Raums hinter einer Säulenreihe, der wie eine leere Höhle, wie eine Lichtung in Wäldern von unzählbaren, grauweißen Säulen lag, zwischen denen Gänge erschienen; Säulen, riesige, breite, stumme, bedrohliche, ernste überall, aber in der Mitte der hohen Halle, auf einem schlichten Postament, stand einsam die kleine Statue des Gottes aus dunklem Silber, der ein junger Mann in einer knappen Tunika war. Sein Antlitz war im Dunkel dort nicht mehr zu erkennen, deutlich jedoch die beiden kleinen Vogelflügel an seinen Schläfen. Es war der Gott des Schlafs.
»Orest, Atem schöpfend, sah jetzt nach draußen aus dem breiten Tor, an dessen Pfeiler er lag. Dreimal vier lang hingestreckte und flache Stufen führten hinunter; drunten aber war nichts als die Ebene, die kahl war, baumlos, hügellos, glatt und grau bis zum Rauch des düstern, geröteten Abendhimmels. Aus dem Dunst der traurigen Ferne aber löste sich alsbald eine graue Gestalt, gerötet, wie in Blut getaucht, und schien zu kommen. Sie kam, und hinter ihr ein grauroter Schatten, der ersten gleich, und ein dritter hinter der zweiten. Es waren die Schwestern, die so durch die schweigsame Abendebene heranzogen, die an diesem Nachmittage der Wirbel seiner rasenden Füße hinter sich gelassen hatte, und er stöhnte leise, stand auf, und ihm fiel ein, daß hier eine Zuflucht sei, wie er es wußte aus den Legenden von Übeltätern, die er in seiner Kindheit gehört, – nun war er selber solch einer. Er sah, daß seine Füße blutig waren, und schlich mühselig bis zur Statue des Gottes, sah die blauen Augen aus Edelstein in dem dunklen, freundlichen, kleinen Silbergesicht, legte die Hände zusammen und bewegte die Lippen. Darauf schlürfte er eilig zur Türe zurück, und es gelang ihm mit seiner letzten Kraft, die großen Bronzeflügel einen nach dem andern zu bewegen und zusammenzuschlagen.
»Nun stand er im Finstern, schwankend auf unerträglich brennenden Füßen, todmüde, lechzend, sich irgendwo niederzulegen zwischen den Säulen. Im selben Augenblick jedoch, als er die schon zugefallenen Lider noch einmal öffnete, gewahrte er zu seiner Linken ganz fern einen Lichtschein im Dunkel. Wie es langsam heller wurde, sah er den Lichtkreis eines Lämpchens, den Schatten einer gehenden Gestalt, sah die ersten, dunkel droben aus dem Schatten der Wölbung auftauchenden Häupter der Säulen und sah bei aller Müdigkeit doch, wie schön und feierlich das war, da links und rechts Säulenpaar um Säulenpaar aus der Nacht sichtbar wurde und hervortrat, dunkle Riesen erst, die alsbald rein und leuchtend wurden wie in weißen Gewändern, während schon neue Säulen dunkelten, bereit, hervorzutreten, und auch diese erglühten und strahlten, alle ernsthaft von droben herunterblickend auf die kleine weiße, daherwandelnde Gestalt, die zierliche Silberlampe in der linken, eine Schale von gleichem Metall leise blitzend in der rechten Hand.
»Jetzt, nahe dem letzten Säulenpaar drüben, blieb sie stehn, erhob die Hand mit der Leuchte, blickte zu ihm herüber und fragte – es war ein Mädchen – mit sanfter Stimme: Ist jemand hier? –
»Er machte ein paar Schritte, fast schreiend vor Schmerz, da die Sohlen am Boden klebten, und stieß ein paar rauhe Worte hervor. Das Mädchen zauderte, glitt dann herbei, hielt, da sie kleiner war als er, die Lampe gegen sein Gesicht empor, und er sah, welch mitleidige Augen sie machte. Du suchtest wohl Obdach? – fragte sie freundlich. – Er bemerkte seine aus dem zerrissenen Mantel vorgestreckten Hände, die sie gerade betrachtete, die grau und gelb waren und schrecklich anzusehn, habgierig, und: Was für Hände! sagte sie ergriffen, und dein Gesicht ist auch so! und das schwarze Haar, wie verwirrt und zottig! Du mußt entsetzlich müde sein, und es ist noch so weit zur Stadt, fuhr sie fort, aber hier bist du ja recht im Hause des Schlafs. Ich bin eine Dienerin von ihm, erklärte sie errötend, hier hab ich die Milch für die Schlangen. Es sauste ihm in den Ohren, er hörte nichts und stürzte zu Boden. Gleich kauerte sie neben ihm, setzte das Licht auf den spiegelnden Estrich, riß Streifen von seinem Mantel, löste die Riemen der zerfetzten Sandalen, wusch die Füße nach kurzem Zögern mit der heiligen Milch und verband sie. Schließlich nahm sie den Mantel unter ihm fort, rollte ihn zusammen und schob ihn unter seinen Nacken.
»Er richtete sich nun auf, starrte mit blöden Augen in das Licht, lachte ein wenig und fing an, sie zu sehn. Weißt du, wer ich bin? – fragte er plötzlich. – Nun, gleich, sagte sie, wenn ich dir nur helfen kann; du bist ein Armer jedenfalls, sagte sie. Er mußte in ihr ernstes, ruhiges Gesicht blicken, bemerkte, daß die Augen schön braun waren und auch das Haar, wollte sich wieder legen und hörte im gleichen Augenblick draußen Geräusch von Füßen und Stimmengewirr. Er sprang auf.
»Auch sie war aufgestanden und sah erschreckt, wie er dastand, gespannten Nackens, wütend, mit geballten Fäusten, wartend, lauschend mit Augen, Ohren, mit dem ganzen Leib. Dumpfe Schläge fielen gegen das Erz des Tors, er keuchte, Blut stieg ins Weiße seiner Augen, das Mädchen wich langsam, an seine Augen gefesselt, gegen die Tür zurück mit von sich gestreckten Armen und wiederholte mehrmals, angstvoll und eifrig versichernd: Niemand kommt herein! Niemand kommt herein! – Ist das gewiß? schrie er laut. Wie willst du's denn wissen? Weißt du denn, wer ich bin? Ich bin Orest! Weißt du, wer die draußen sind? Weißt du, was sie halten, sahst du ihre Dolche, ihre Fackeln, ihre Vipern? – Er brüllte. Herein! Kommt doch herein, ihr, wenn ihr könnt! Hört doch, ich bin drin! Ich, Orest, ich, der seine Mutter erschlug, ich! – Draußen erscholl Geschrei, die ehernen Flügel zitterten und bewegten sich, es krachte im Gebälk. Vor der im Lichtschein glühenden Erzwand stand das Mädchen, bleich, hinter sich ihren Schatten hochaufgereckt bis ins Dunkel, da die Lampe noch dicht neben den Füßen des Flüchtlings auf den Fliesen stand. Auf einmal kam er mit stampfenden Schritten gegen die Tür vor, knirschend: Geh! sie sollen herein! ich bin das satt! ich will sie jetzt packen, ich will hier mit ihnen die Treppe hinunterkollern wie ein Knäuel von Panthern und Schlangen! – Das Mädchen packte seine Hände und rang mit ihm, er schleuderte sie weg, doch sie kam wieder, warf sich an ihn, umschlang ihn, sie keuchten, schließlich erlahmte der Mann und fiel langsam zusammen, während sie mit fliegenden Gliedern zur Tür zurückjagte, sich gegen die Fuge in der Mitte preßte, schlank wie ein Baum, als wollte sie hinein, sie zu verstopfen. So glitt sie langsam auch zu Boden und hockte dort, großäugig.
»Nur die Stöße seines Atems waren hörbar, auch draußen war es still. Ruhig stieg die vorher hin und her gescheuchte Flamme der silbernen Leuchte. Plötzlich aber sank sie in sich zusammen, wie auf Befehl, zu einem roten, glimmenden Funken, und während ein unendlich leises Flügelrauschen durch die Finsternis hinzuschweben schien, sank von hoch oben eine ernste, klare, langmütige Stimme hernieder und verhallte in alle Fernen des Hauses:
Schlaf, Mensch, so schlaf! Auch die Verfolgerin,
Auch die Erinnye schläft.
»Wieder war alles still. Orestes lag ausgestreckt, so lang er war, die Arme überm Kopf fortgeworfen. Da schien das Tor sich zu bewegen, das Mädchen sprang auf und eilte zu ihrer Lampe, die einige Pulsschläge lang wieder in ihrer früheren Größe aufgerichtet stand, aber nun langsam erblaßte, denn die Torflügel falteten sich langsam auseinander, und draußen war das Mondlicht. Da war die Treppe, breit und schneeweiß, die Ebene, schattenlos, dunkel und doch erhellt vom unsichtbaren Mond in der Höhe, und jetzt sah Orest, das Haupt erhebend, daß neben der ersten Säule der Vorhalle über den Stufen eine dunkle Gestalt im Schatten hockte, ganz still; und als er hinunterblickte, entdeckte er eine zweite mitten auf der Treppe, ruhend wie eine Schlafende, ganz unten aber die dritte, hell im vollen Licht, in sich gesunken, im Schlaf.
»Orest stützte sich auf die Arme und stand auf. Sein Gesicht zuckte, als ob es in Weinen zerbrechen sollte, sein Haupt schwankte, er ging mit schweren Schritten zur Statue des Gottes und sank dort hin, den Rücken gegen das Postament gelehnt. Stracks durchdrang unbeschreibliche Müdigkeit magisch seine Glieder; sie lösten sich auf in Wonne der Schlaftrunkenheit, ein sanftes Prickeln bedeckte seine Seele wie ein vergehender Schaum, – so verging sein Leib. Er schluchzte tief, er sank tiefer in sich, er öffnete noch einmal die Lider, als müsse irgendwo etwas sein, nach dem noch hinzublicken sei, doch sah er nichts mehr als einen nächtigen Lichtschein, dann – ging ein Schritt, rauschte Gewand? – nur noch Finsternis, aus der eine Schattengestalt von fernher zwischen dunklen Wänden nahte und stillhielt. Er erkannte zwei dunkelsilberne Fittiche, zwischen ihnen den Schatten eines braunen Antlitzes und ein bläuliches Lächeln von Augen. Da fielen ihm die seinen zu, und er schlief.«
Jason schwieg. Im Zimmer stand jetzt die Dunkelheit, nur im höchsten der offenen Vierecke war der noch helle Himmel zu sehn; die Bäume rauschten im Dunkel unsichtbar; vor dem Fenster waren die lichten Gesichter der Drei, ganz weiß das Jasons mit den schwarzen Flecken der Augen, ein wenig dunkler das Esthers, Magdas ganz matt, kaum sichtbar über den andern. Wie Jasons Hände im Schoß ausruhten, so auch Esthers linke, während ihre rechte die Hand der Freundin gefaßt hielt, die über ihre Schulter herabhing. –
»Soll ich Licht machen?« fragte Magda nach langer Zeit. Niemand antwortete. Aus dem Hintergrund scholl ein leichtes Pochen; der Maler klopfte seine Pfeife aus. –
»Es ist doch nicht zu Ende?« fragte Esther.
»Ich weiß nicht.« Jasons Schultern bewegten sich. »Das Antlitz der Eumenide erzählt eigentlich nicht mehr. Oder doch?«
»Und wie kam das Mädchen in deine Geschichte?«
Der Maler sagte aus dem Dunkel: »Sie haben von Schlangen gesprochen. Verwechseln Sie das nicht mit Asklepios?«
»Vielleicht,« erwiderte Jason leicht, »obgleich ich persönlich überzeugt bin, daß die Schlange auch dem Schlaf heilig ist wegen seiner heilenden Kraft. Überdies ist die Schlange dasjenige Tier, das fast immer schläft, und schließlich dachte ich mir auch etwas Besondres dabei. Wie geht es aber weiter?«
»Ich sehe noch etwas«, fuhr er leise fort. »Ich sehe dies Marmorhaupt der Schläferin. Wer hat es gesehn? Der es gemacht hat, muß es gesehn haben, oder einer hat es ihm beschrieben. Orest vielleicht? Wann sah denn er es?« Esther schlug vor: »Morgens früh, als er weiterging.«
»Sieh, Esther, was für richtige Sachen du denkst! Ja, da muß er es gesehen haben. Er erwachte vor Sonnenaufgang, erquickt und gestärkt. Die Ebene lag unter weißen Nebeln wie eine stille See, und –« »Und das Mädchen, die Priesterin?« fragte Magda. »Sie ist fortgegangen. Orest will nun gehn, spricht sein Gebet, da sieht er beim Hinaustreten, daß die Erinnyen noch dort sind und schlafen. Eilig will er vorüberschleichen und tuts, an der ersten, der zweiten, aber wie er unten bei der dritten angelangt ist, da ging inzwischen die Sonne auf, und er sieht ihr Gesicht, und daß sie braunes Haar hat, das ihn an andres Haar erinnert. Da bleibt er nun stehn und sieht ihr leise glänzendes Gesicht, wie ernst es ist, kaum lieblich und doch schön, die Brauen streng und groß, und daß sie unschuldig ist, wenn sie schläft, trotz der erloschenen Fackel neben ihrem Fuß, trotz des Dolches, den sie an die Brust drückt, und er kann sich nicht abwenden und redet leise Worte in die Höhlung ihres Ohrs, in den seltsamen Eingang zu der schlafenden, inneren Welt, indem er sich fragt, ob sein Flüstern wohl eindringe und drinnen zur Gestalt eines Traumes wird, die leuchtet, so daß die Wände der dunkelgoldenen Seelenhalle davon glänzen, oder vielleicht wie die freundliche Silberfigur des Gottes auf der Lichtung inmitten des dämmerweißen Säulenhains. Plötzlich – was erschrickst du?«
Esther, die leicht zusammengeschaudert war, schüttelte abwehrend den Kopf und sagte: »Nur die Fledermaus … nur weiter!«
»Plötzlich«, fuhr Jason fort, »erblickt er den kleinen Kopf einer Viper, die, ins Haar versteckt, auch dort schlief die Nacht und nun hervorkommt bei der Wärme des Tages. Er wendet sich eilig und flieht.«
»Und dann?« fragte Esther.
»Dann bleibt er nach ein paar Schritten noch einmal stehn und dreht sich zurück und sieht, daß sie sich aufgesetzt hat. Sie hebt die Arme und lächelt zu ihm; ihre Augen, erst noch geschlossen, öffnen sich schlaftrunken, sie stammelt, ihr Gesicht glüht über und über vom Sonnenaufgang, er starrt hin, da sinkt sie wieder zusammen, fröstelt, tastet nach einem Gewandzipfel und entschläft.«
Es schien nun still bleiben zu wollen im Raum. Magda erhob sich, trat an ihren Ausguck und sah im Dunkel den Horizont besteckt mit den Lichtern der Stadt, darüber die ersten, weißlichen Sterne im Raum. Vernehmlich rauschte das Wehr in der Ferne.
Esther hatte ihre zusammengefaltete Stickerei wieder auseinander genommen, die Farben leuchteten noch matt im Finstern, sie strich glättend mit dieser und jener Hand darüber und sagte endlich:
»Ich sehe noch etwas. Da ist solch ein Wiesental, so bunt wie dies hier am Tage ist, und – ich kann das nicht beschreiben, es ist etwa so wie auf Böcklins Bild, eine kleine blaue Quelle, die sich durch die Blumenböschungen schlängelt, herab von einem Hügel unter großen, schattigen Bäumen. Und dort liegt Orest und –« sie stockte.
»Nun?« mahnte Jason in guter Langmut, »was tut er dort? Ja, das weißt du nicht? Vielleicht meinst du, er wartet. Ja, am Ende wartet er.«
»Oder auch nur, weil es so schön dort ist …« sagte Esther mit einem kleinen Seufzer.
Über ihnen klang Magdas immer noch ein wenig matte Stimme, doch sehr gütig: »Als ich von den Toten wiederkam, die ich doch schon so nahe gesehn, durfte ich auch wieder in den Garten, nach all den schlaflosen Nächten, und das war gut. Freilich,« setzte sie mit dunklerer Stimme hinzu, »sie stehn immer hinter uns.« Und fast hart: »Sie sind ja die Unentrinnbaren.«
Eine Weile wars wiederum still, dann begann Jason:
»Ich glaube, daß er wartet. Er hat sich des Lächelns der Einen erinnert und beschlossen, sie zu erwarten. Er will sich zu ihren Füßen hinwerfen und bitten, daß sie ihn manchmal schlafen lassen. Er denkt, daß sie das nicht werden abschlagen können. Er fühlt sich so neu, kräftig und zu allem bereit, wenn nur etwas Hoffnung da ist.
»Und dann kommen sie nun. Ihm gegenüber ist der Tannenwald, aus dem der Weg hervorkommt, dem sie nahen, und die Jüngste geht voran. Er hält sich hinter einem Felsblock verborgen und sieht, wie sie nacheinander hervortreten und erfreut scheinen von der anmutigen Gegend. Zwei von ihnen legen sich im Tannenschatten ins Gras, aber die eine kommt bis zum Bach, kniet hin, legt Fackel und Dolch neben sich, bespiegelt sich und lächelt sich an. Da übermannt es ihn, und er tritt hervor.
»Wie er herabkommt, sieht sie auf und erschrickt. Sie greift nach ihren Waffen und erhascht den Dolch und springt auf, sieht ihn an, und da erkennt sie ihn nun; ihn, den sie ja zuvor nie, nur in jenem Augenblick des halben Wachens oder im Traum gesehn hat. Er sieht wohl schrecklich aus, in seinem grauen, zerfetzten Mantel, mit dem wirren, schwarzen Haar und dem gelben, eingeschrumpften Gesicht, aber seine Augen strahlen seltsam, und sie muß lächeln und streckt wieder die Arme aus, seufzt und stammelt etwas, und – was geschieht nun?
»Jetzt sieht er auf einmal alles schwarz umher werden. Schwarz jede Blume, schwarz das Gras, schwarz die Tannenwand, schwarz wie Marmor den Quell und schwarz den Himmel. Aus der Erde schauert es eisigkalt, und es durchschaudert sie. Sie windet sich seltsam, als werde sie unsichtbar ergriffen und nach unten gezerrt, ihr Lächeln, wie etwas Erdrosseltes, stirbt, sie öffnet die Lippen, will schreien, da fühlt sie, daß sie hinunter muß, sie verzweifelt, sie zuckt, da erblickt sie ihren Dolch, sie ringt sich noch ein Lächeln ab, erfaßt eine Strähne ihres braunen Haares, sie schneidet zu, sie trennt die Locke, sie wirft sie gegen sein Gesicht hin, das ihr noch glänzt. Langsam nun, blaß und blässer, wie ein farbloser Regenschauer, gleitet sie hinunter in den schwarzen Quell; ihre Füße, ihre Hüften, ihre Schultern verschwinden, noch schwebt ihr schmerzliches Gesicht, lächelnd mit einer späten Qual über dem Schwarzen, und erlischt darin.
»Hades rief sie hinunter. Sie hatte vergessen, wer sie war, vergessen den Haß und Tartaros, ihren Ursprung; da zog er sie zu sich herab. Und er –
»Er warf sich über die Stelle hin, wo sie versunken war, griff in die Flut und – nun, Esther?«
»Er faßte – er erfaßte die großen Büschel schwarzer Iris, die rund herum aufgeschossen waren, und –«
»Und es ward langsam wieder hell um ihn, alles ward wie vorher, dort aber, wo der Weg in die Tannenwand schwindet, haben sich die beiden Schwestern aufgestellt, gleichmütig, gegürtet, abwartend.
»Er aber, schwer aufstehend, gewahrt einen braunen Falter, rostrot glänzend im Sonnenlicht, der gegen ihn fliegt, seinen Mund berührt und zurückbebt und davon und wieder heran und über seine Stirn hin und wieder fort und noch einmal heran, einen Kreis windend um seine ausgestreckte Hand und jetzt fort, auf und nieder, hierhin und dorthin schaukelnd, den Weg hinab und zwischen den Tannen fort. Er aber, wie an einem goldenen Faden nachgezogen, folgt, ein wenig staunend, ein wenig lächelnd, sich vergessend. Er sieht die Schwestern dastehn, er will zwischen ihnen hindurch, er erschrickt, es stehen da zwei schweigsame Fichten links und rechts vom Wege, ernsthaft auf ihn heruntersehend, dieweil vor ihm das rostrote Blatt in der Sonne im Tannengang leuchtet, und er folgt.«
Obwohl Jason schwieg, schien es den Andern, als halte er nur inne und bedenke die kommenden Worte. Schließlich fragte die Stimme des Malers aus dem Finstern: »Ist das alles?«
»Die Erinnyen sind ja fort«, sagte Jason, während gleichzeitig Esther ein tief ungläubiges »Oh nein!« hervorstieß.
Jason schwieg und sagte nach einer Weile leise: »Kinder! Was denkt ihr denn nun?«
Esthers Gesicht, der weiße Schein davon, war verschwunden; an ihrer Stimme konnten die Andern hören, daß ihre Hände davor waren; sie bat:
»Mach ihn heil, Jason! Die Wunden von ihren Dolchen werden wieder aufbrechen, und das Gift … Mach ihn ganz heil!«
Und auch Magda erklärte mitleidvoll: »Er war doch unschuldig. Daß er die Mörderin seines Vaters erschlug, das war fromm, und die Götter wollten es. Ich meine –« sie rang mit den Worten, »es giebt Sünde und Sühne, Bös und Gut, aber es ist nichts einzeln davon, Eines wohnt immer im Andern, und Orestes büßte lange und wurde schließlich befreit – wenn ich mich recht erinnere …« schloß sie zaudernd.
»Es kommt vor,« hörten sie den Maler von fern, »wenn ich ein Bild machen will, daß ich meine, es müßten zwei gemalt werden. Nicht wegen der Stimmung in der Natur oder so, sondern –, etwa, wenn ich einen Kranken malen wollte, so müßte ich auch einen Gesunden machen, damit man sieht, was all das heißt. Allerdings,« setzte er, sich räuspernd, hinzu, »das darf nicht sein, obgleich ich mich einmal nur schwer entschließen konnte, denn«, schloß er bedachtsam, »Kunst ist für sich und giebt Gesetze.«
»Orest kam nun,« fuhr Jason fort, nachdem er Bescheid erhalten, »Orest kam nun, dem Schmetterling folgend, am neuen Abend wieder zu einer Treppe und zu einem Tempel. Schön leuchteten sie beide von weit, Stufen, Säulenreihn und farbiges Dach, aber der Weg war nicht gut gewesen, alle Wunden brannten wieder, auch die Füße, und oft mußte er stehen bleiben, wenn er hinter sich das alte Zischeln und Raunen zu hören glaubte, auch begriff er nicht, weshalb er hinter diesem schaukelnden Blatt einherging. Nun aber sah er die Treppe und erkannte sie gleich, auch das Mädchen, das auf der untersten Stufe saß, gebückt, als betrachte sie etwas in ihrem Schoße. Wie er näher kam, schaute sie auf, und da sah er den Falter mit Heftigkeit gegen ihre Lippen fliegen, worauf er augenblicklich in ihrem Haar verschwand. So ging er auf sie zu, die still saß und ganz wenig lächelte.
»Was tust du hier?« fragte er, indem er bemerkte, daß sie ihre Silberschale voll Milch mit beiden Händen im Schoß hielt. »Still!« sagte sie, »bleib ruhig stehn! Sie müssen gleich kommen.« Und sie pfiff ganz leise zwischen den Zähnen. Alsbald raschelte es im Gebüsch neben dem linken Treppenkopf, und zwei Schlangen, so lang wie ein Arm jede, die eine dunkelbraun, die andre dunkelblau schillernd, kamen hervor, glitten herbei, kletterten links und rechts von der Sitzenden die Stufen empor und begannen von der Milch zu schlürfen. »Erkläre mir dieses!« sagte Orest.
»Dies«, erklärte das Mädchen, »sind die heiligen Schlangen. Zwei Schlangen trägt der Gott des Schlafs, eine giftige und eine gute. Die giftige träufelt bösen Seim auf das Herz der Bösen, die gute aber ringelt sich über dem Herzen der Guten zusammen und macht es kühl.«
»Oh,« sagte er enttäuscht, »so giebt es doch Böse und Gute!«
»Jeder,« sagte sie leise, »jeder ist jedes zu dieser und jener Zeit.«
»Und eine von diesen ist also giftig?« fragte er.
»Diese nicht,« sagte sie lächelnd, »sie stellt ja nur eine giftige vor.« Orestes beugte sich, um die braune zu streicheln, da zückte ihr Kopf empor, und schon hing sie an seiner Hand. Schnell packte er mit der Linken in das Haar des Mädchens, bog ihren Kopf zurück und schrie: »Jetzt erkenne ich dich! Du bist –« Da er einhielt, sagte sie leise, den Kopf zurückbiegend, um seinen Griff zu erleichtern: »Wer soll ich denn sein?« Und während er noch, heftig atmend, die Zähne in der Lippe, in dies Antlitz starrte, das ihm gar zu ähnlich dem andern schien, das versank, hörte er sie, auf die Schlange deutend, flüstern: »Sieh doch, sie saugt ja!« Plötzlich fühlte er eine rieselnde Erleichterung durch seine Glieder strömen; wonnig aufgelöst stand er und blickte auf das Tier herab, das von seiner Hand hing wie ein brauner Riemen, glaubte zu sehn, wie die Wunden seiner Füße sich schlossen, seine Brust sich schloß, und stammelte endlich, halb lachend, halb schluchzend, seine Worte von vorhin: »Erkläre mir dieses, Kind!«
Sie nahm seine Hand aus ihrem Haar, gab sie ihm zurück und sprach:
»Zwei Schlangen, Gastfreund, eine giftige, eine gute. Hast du nie gehört, daß alle Dinge verschwistert sind? Vielleicht war ich selbst eine Schwester und habs nicht gewußt. Ja, vielleicht bin ich eine Schwester von der, die du – sieh!« unterbrach sie sich.
Die Schlange, auf die ihre Augen wiesen, war heruntergefallen, lag einen Augenblick still, ringelte sich ein paar Schritte hinweg, rollte sich zusammen und lag in der Sonne, blinzelnd. Die andre aber schlich herbei und legte sich schön darüber, so lang wie sie war.
»Ich glaube,« schloß Jason mit Bedacht, »Orest konnte jetzt zu der Gottheit hineingehn, um zu zeigen, daß er rein war.«
Lange Zeit saßen sie schweigsam. Dann hörten sie, daß der Maler aufstand und gegen etwas im Dunkel stieß. Und dann hörten wohl nur Magda und Esther Jason sprechen, kaum vernehmbar leise:
»Wenn wir jetzt Licht machen, und jemand, der vielleicht unten steht, so ein Orest, sieht den sanften grünen Schein unseres Fensters hier oben, der weiß nichts von den drei Gesichtern und von den Leben und den Schicksalen, die wir sind. Der denkt nur: Dort oben muß es schön sein …«
Seine Stimme erlosch, und als sie ihn gleich darauf wieder sprechen hörten, schienen es ihnen Verse zu sein, doch vernahmen sie, ein jeder in sich selber versunken, nicht mehr davon als eine ferne Musik ohne Worte. Bald darauf stand Magda auf, ging zwischen Esther und Jason hindurch zur Wand und drehte die Kurbel für das Licht; als es aufflammte, kniffen sie Alle geblendet die Augen zu, und Esther sagte, die Handrücken gegen die Lider drückend: »Aber Jason, nun sind es doch vier Schwestern gewesen, davon drei böse und nur eine gut!« Indem ging Magda schon durch das Zimmer, öffnete die Tür, wandte sich noch einmal, grüßte müde und gütig und verschwand. Auch Jason schien zu lächeln, sagte aber nichts, und so trat denn Maler Bogner, der älter war als sie Alle, auf das Mädchen zu, legte eine Hand auf ihren Kopf und sagte freundlich:
»Das Gute, Esther, ist doch immer in der Minderzahl.«
Sprachs, nickte und ging hinaus. Esther folgte still, als letzter Jason, der das Licht wieder löschte.
*
Die Verse aber, die er gesprochen hatte, lauteten folgendermaßen:
O Nacht! O Tiefe! Drunten auf den Stufen,
Du weißt es, schläft die Eumenide nun …
Noch ist die Gottheit leise anzurufen,
So wird dir, was du sehntest: du wirst ruhn.
Die Säule klingt; die dunkle Wölbung schwindet;
Gestirne wandern über Wäldern fort. –
Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort,
Schlaf deiner Kindheit, der dich wiederfindet.
Renate, die Augen hebend vom letzten Wort, verwunderte sich, keine Dunkelheit, sondern nur die Dämmerung um sich her zu finden, die vom ohnehin trüben Tage durch das verschleierte Glas bewirkt wurde. Während ihre Lider sich zusammenzogen, sah sie immer größer den fernen gotischen Bogen ragen, und nun war es ein Tor; es schien ausgefüllt vom unendlichen Grün einer Ebene, und winzig klein auf ihr erschien eine schwarze Gestalt – Josef –, die mit rasender Geschwindigkeit daherfuhr, ohne jedoch größer zu werden, und Renate empfand, daß die Gestalt nicht mehr an die Zeit gebunden war, sondern außerhalb ihrer dahinjagte wie ein Gestirn. Alsbald aber spürte sie, daß sie an ihrem eigenen Blick hing, daß der an ihr zog, und sie zwang ihn zu Kraft und Willen, zog mit ganzem Dasein, – allein die Gestalt blieb so klein, wie sie war, und auf einmal war da das Fenster.
War es wieder da? fragte Renate sich betäubt. Aber so war es doch nie? War doch immer nur – Erscheinung? Wann hätte ich je selber hineingegriffen? – Der Gedanke aber, Josef stehe unten und warte, daß sie ihn einlasse, überfiel sie mit solcher Gewalt, daß sie sich kaum halten konnte im Stuhl, gequält vom Reiz, das Fenster zu öffnen, was ja nicht möglich war, da nur die kleinen Quadrate sich auftun ließen.
Warum denn nur, mein Gott, warum kann ich ihn nicht rufen?
Nein, fuhr sie auf, nein! Er soll nicht meinetwegen kommen! Wenn er denn kein Herz hat für den Vater, – was könnte dann auch sein Kommen auswirken? – Und sich zur Ruhe zwingend, lenkte sie die Augen wieder auf den Schluß der Legende, über den sie schon, ganz im Gedanken an Josef, nur hingeglitten war, und las noch einmal: ›Das Gute ist doch stets in der Minderzahl‹ und dann die Verszeilen:
›Gestirne wandern über Wäldern fort. –
Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort …‹
Mit einem gellenden Schrei fuhr sie zur Tür herum, zitterte und strauchelte im Stehn. Da war nichts. Ihr Herz jagte. Nach endlosem Warten hörte sie Schritte im Treppenhaus, trat, unfähig länger auszuhalten, zur Tür und öffnete. Unten, wo die Treppe sich wendete, erschien die weiße Tolle des Hausmädchens, dann sie selber ganz im rosa Waschkleid und weißer Schürze, blieb Renate erkennend stehn, lächelte und sagte: »Frau Tregiorni ist gekommen. Und Herr Saint-Georges ist schon lange da.«
»Ich komme«, erwiderte Renate heiser und zog die Tür zu, nur um zu verbergen, daß sie nicht aufrecht bleiben konnte. Minuten später hatte sie sich wieder gewonnen und verließ den Raum.
*
Hier enden des sechsten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.