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Sechstes Kapitel: Juli

Requiem

Renate, an einem offenen Flurfenster im ersten Stockwerk des Nordflügels von Helenenruh stehend, als es eben Nacht geworden war, hörte Magdas singende Stimme, die im Klaviersaal die Gruppe aus dem Tartarus begann. Ein Fenster war dort offen und matt erleuchtet. Renates Augen ruhten halbgeschlossen im ungewissen Dunkel, das leise vom fallenden Regen rauschte und sich zu bewegen schien. Ein Tropfen spritzte hier und da herein, ihre Hand treffend, ihre Stirn; es war kühl. Am Himmel oben über den beweglichen, finsteren Massen der Baumwipfel war ein wenig Licht hinter gelblichem, dahinflüchtendem Gewölk. Bleich gegenüber schimmerte die Wand des Südflügels. Ohne hinzusehn konnte sie in dem erhellten Saalfenster zur Linken den Lichtschein der unsichtbaren Lampe gewahren, die in der Mitte auf einem Tisch stehen mußte, und, schräg durch den Raum hin, die hohe weiße Mitteltür samt ihrem flachen Giebeldreieck und dem fast schwarzen Porträt im Goldrahmen darüber, dicht unter der Zimmerdecke. Zu sehn war niemand.

Die Musik des Harmoniums kam sanft und wehend, – schön, klar und kräftig kamen die dunklen Töne der singenden Stimme durch den Regenfall. Ein heftiges Aufschaudern der windgetroffenen Baumkronen überrauschte jetzt alles, es ward still, leiser der Gesang, in einer Dachrenne plätscherte hörbar die Regenflut, es klapperte, – oder wars auf der Terrasse? – Da stürzte mit mächtigem Aufbruch, ja wie ein großes, schwarzes Panthertier stürzte die große, tiefe Stimme mit »Ewigkeit! Ewigkeit! Bricht die Sense des Saturns entzwei!« in das Finstre, warf sich durch den Nachtstrom empor, triumphierte, senkte sich, stieß ein zweites Mal siegreich vor und schwand im Allgemeinen der Musik, untertauchend wie ein Schwan, und in den verworrenen Stimmen der Regennacht.

Renate bebte leise, frierend von Nachtkühle und dem Gesang. Lauter toste der Regen. Oh dies gewaltig gebliebene Herz in der singenden Brust! Aber oh, wie waren die Toten einsam und ganz im Freien, ausgesetzt aller windigen Geschäftigkeit der Nacht und der wimmelnden Erde! – Da sah sie den Katafalk der Herzogin mitten in der Nacht stehn, schwarz, die großen Kandelaber, flatternd im Winde Flore und Kerzen, das große, starkriechende Gepränge der Blumen, Schleifen, Palmwedel, umher die Schauer gedrängter Menschen, und inmitten das seltsam kleine, kaum wahrnehmbare tote Antlitz der aufgebahrten Gestalt, in weißen Kissen, gerader und viel steifer, als sonst ein Mensch liegt. Daneben war der Rücken des Herzogs, gebeugt, sein Hinterkopf, der kein Auge von der Schläferin wandte.

Aber dies verschwand, und im lichten Morgenkleide kam die Herzogin zu einer Tür herein, zu ihr, die an einem Fenster stand, einen Morgengruß hinnickend, und setzte sich an den Frühstückstisch. Sie sagte mit leichter Stimme etwas, aber Renate konnte es nun nicht mehr hören, besann sich vergeblich auf Worte, fühlte, daß sie traurig war und das schreckliche Entgleiten eines Toten, der uns nicht sehr nahe stand, ins Ungewisse. Da war das Gesicht des Herzogs, wie es langsam aus dem Wagenschlag kam, die heißen Augen, die herumfuhren, zu ihr empor, und sie wollte die Stufen hinunter; sein ganzes Gesicht war gesträubt von Bart, dann kamen unten die Stöcke zum Vorschein, er zwängte sich heraus, stand, und an Renate vorüber eilte Magdas schwarzgekleidete Gestalt zu ihm, und dann schien etwas ihn zu durchbrausen, und er hing über …

Wollte Magda nicht wieder anfangen? Das Harmonium war sehr gedämpft hörbar, lange Zeit. Renate setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken gegen den Rahmen gelehnt, vom Schlosse weg ins Dunkel der Parkwiese blickend. Gleich darauf ward es am Ende des Flurs hell; die Wendeltreppe, aus der Tiefe beleuchtet, ward weißgetüncht sichtbar, und von unten heraufsteigend erschien ein Diener in Frack und Kniehosen; er griff nach der Wand, die Lampe unter der Decke glühte hell auf, kam auf sie zu und bat sie, in den Saal zu kommen. Sie fragte, ob auch die Fürstin Schwester dort sei, und er bejahte.

Wenig später stand Renate vor der Saaltür und hörte von drinnen das Harmonium im sachten Vorspiel zu ›Du bist die Ruh‹. Sie zauderte, wartete dann einen Augenblick ab, wo der Gesang schwoll, öffnete behutsam und trat ein. An der Tür blieb sie stehn.

Auf dem ovalen Tisch in der Saalmitte stand eine Petroleumlampe von glänzendem Messing mit geradem, grünem Schirm. Aha, die selbe Lampe, welche die alte Fürstin stets auf Reisen mit sich zu führen pflegte, ergrimmt auf das elektrische Licht. Da saß sie, rechts am Tisch, und strickte, sah nicht auf, denn sie zählte gerade, die Maschen mit dem linken Daumennagel zusammenschiebend; das in Falten hängende Kinn – Festons hatte Georg gesagt, und einen Augenblick kam Renate sein Gesicht dazwischen, verdunkelt von der schwarzen Kleidung und verlegen, weil er gescherzt hatte mitten in seiner Trauer – gegen die Brust gedrückt, sah sie von oben schräg auf ihre Hände; eine kleine eiserne Brille hing ganz vorn auf der Nasenspitze wie ein windiges Geländer. Diese sparsame Alte trug eine gestrickte schwarze Mantille um die Schultern, aber die Hände, die aus schwarzen Pulswärmern kamen, waren über und über beladen mit funkelnden Ringen. Jetzt sah sie gegen Renate auf, dunkeläugig, rückte an ihrer Brille, musterte sie scharf, fuhr mit flacher Nadel über die aufgesträubten Blätter eines vor ihr liegenden Buches – sie dehnten sich gleich wieder empor –, blickte hinein, blickte wieder auf und verneigte sich mit dem Oberkörper, freundlich lächelnd und nickend, während Renate zu Boden sank. Dann hielt sie ihr Strickzeug weit von sich ab, fuhr mit gewaltigem Stoß der linken Nadel hinein und rasselte darauflos, nicht ohne schräg von oben gegen die emporstehende Buchseite zu blicken. – Renate lächelte in sich hinein, denn da die Fürstin außer ihren beiden Beschäftigungen auch wohl noch auf den Gesang hörte, so schien ihr dies eine gewinnsüchtige, aber geschickte Alte.

Links am Tisch sah Renate nun den breiten roten Rücken eines Sessels mit vergoldeter Umrahmung auf ganz kurzen Beinen. Darüber war der Hinterkopf des Herzogs, wie ein Strudel: eine tonsurhafte kahle Stelle mitten im Wirbel des großen, runden Haarschädels im Schatten der Lampe. Renates Eintreten hatte er scheinbar nicht gehört.

Und da rechts in der Ecke, halb im weißen Vorhang des offenen Fensters, war noch etwas Lebendiges, nämlich ein kleiner Greis mit glattem, rosigem Gesicht, aus dem zwei freundliche kleine Augen Renate unbeirrt anstarrten, während ihm ein rosenroter Papagei über die Hände im Schoß an der Weste hinaufkletterte, sehr mühselig, mit Schnabel und Krallen sich abwechselnd einhakend und festkrallend.

Daneben war die dunkle Türöffnung zu den Zimmern der Toten. Stand sie vielleicht darin, auch zuhörend, die Augen im sanften Licht, erleichtert? – Aber Magda blickte vom Harmonium herüber, nickte und lächelte während des Zwischenspiels. Renate lehnte sich gegen die Tür, folgte den langsamen und kunstlosen Griffen und Veränderungen der schmalen Hände auf der Klaviatur, selber fern in unbewußten Gedanken, kaum hörend, daß jemand sang. Dann war es still im Raum.

Der kleine Greis, augenscheinlich der Mann der Fürstin, klopfte seinem Papagei auf den Kopf und erhob sich. Die Fürstin sah auf, räusperte sich stark zum Herzog hinüber, zog, da er sich nicht bewegte, eine Nadel aus dem Strumpf, zeigte damit auf Renate und sagte: »Nun sie!«

Magda erhob sich. Jetzt bewegte sich der Kopf des Herzogs, einen Augenblick wurden seine Stirn und Augen über der Sesselwand sichtbar, dann stand er schwer auf und sagte heiser: »Guten Abend.« Und zu den Andern: »Bitte, dies ist Fräulein von Montfort.«

Der kleine Fürst kam zierlich und ein wenig schlotternd im Gehrock herbei, den Papagei an die Brust gedrückt, und verneigte sich sehr tief.

»Setz dich nur!« schrie die Fürstin. Er machte mit der rechten Hand eine Muschel am Ohr und hielt es ihr hin, aber sie sah es nicht, und während er sich, Renate zulächelnd und kopfschüttelnd, zurückzog, sagte sie zum Herzog, kaltblütig auf französisch, dies wäre ein sublimer Mensch, worauf sie in derselben Sprache zu Renate fortfuhr, sie habe das auf französisch gesagt, um die Schmeichelei nicht so geradezu herauszuschmettern. Freundlich und auf deutsch bat sie dann etwas zu spielen. »Aber nichts Modernes!« sagte sie.

Renate setzte sich, aber nun fiel ihr nicht das geringste ein. Endlich fand sie die kleine Ballettmusik zu den Gluckschen Gefilden der Seligen und fing damit an, gleich darauf sich erschreckt fragend, ob wohl außer Magda jemand den unpassenden Titel der Musik kannte; die war freilich sanft und lieblich genug. Als sie geendet hatte, sagte die Fürstin, das wäre Kleinkindermusik. So begann sie denn das Orgelkonzert von Friedemann Bach, indem sie dachte: ich will dirs heimzahlen. Bald aber erschrak sie heftiger, denn sie fühlte plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Die Fürstin neben sich gewahrend, wollte sie schon die Hände von den Tasten nehmen, weil aber weiter nichts erfolgte, spielte sie fort, die Fürstin blieb so neben ihr, und nun jagte sie die achttaktige Fuge in ihr großes Rasen hinein, daß es in den Fugen des Instrumentes krachte. Am Ende des ersten Satzes sagte die Fürstin nur: »Weiter! Zweiten Satz!« Sie schien mächtig aufgeregt, und so ging auch dies endlos scheinende Gigantengehämmer des nächsten Satzes ohrbetäubend vorüber, ohne daß die alte Dame ihre Stellung verändert hätte. Am Ende atmete sie gewaltig auf, packte Renates Gesicht, küßte sie unter plötzlich strömenden Tränen und rief: »Heldenhaft! Heldenhaft!« Dann erklärte sie, daß sie gern so neben einem Spielenden stünde; das ginge ihr dann gewaltig durch Mark und Bein. – Als Renate sich im Sessel umdrehte, blickte sie gerade gegen die geröteten Augen des Herzogs, die sie starr anschauten. Seine Schwester trocknete sich die Augen und das Kinn, über das ihr vor Eifer ein wenig Mundfeuchte heruntergelaufen war. Dann riß sie ihren großen Pompadur auf, fuhr tief hinein und brachte einen Kake zum Vorschein; den schenkte sie Renate; er war nicht mehr ganz heil. Es war eine kriegrische alte Frau.

Am Tische sitzend nahm sie ihren Strumpf wieder auf, setzte die Brille auf, kratzte sich dann nachdenklich mit einer Nadel den Kopf und sagte:

»Weißt du, Woldemar, an wen dies Spiel mich erinnert? An meinen Kardinal. Kardinal Massi. Er war nur ein dürrer Mensch,« erklärte sie Renate, »aber er hatte allmächtige Pranken und eine höllische Seele. Er war ein gottloser alter Heide, aber vor jeder Musik, die er machte, sagte er die Worte: ›Im Namen des allbarmherzigen Gottes …‹«

Der Herzog lächelte und meinte, so fingen die Koransuren an.

»Die was?« fragte seine Schwester.

»Die Gebete im Türkenkoran.«

»Er wird sich den Teufel um Suren kümmern, wenn ihm einer auf goldenen Wolken zufliegt, der Herrgott«, versetzte sie stramm, nahm ihr Buch vor und fing trotzig zu lesen an.

Es war nun still. Renate sah zu Magda empor, die hinter ihr an der Wand lehnte; sie blickte mit weit offenen Augen ins Leere. Renate sah die Gestalt der Toten in diesem Blick und wandte ihr Gesicht vorsichtig dem Herzog zu. Der saß tief vornübergebeugt im Stuhl. Jetzt löste sich fern drüben zwischen den Klavieren eine Gestalt aus dem Dunkel, Dr. Birnbaum, der auf den Zehen herkam, eine dicke Zigarre vorsichtig in der ausgestreckten Hand, von der er ein großes weißes Aschenstück in eine Bronzeschale auf dem Tisch legte. Er entfernte sich ebenso leise und ohne die Augen zu erheben. Ganz hinten auf einem Stuhl an der Wand zwischen zwei Klavieren setzte er sich nieder. Aber dem Herzog mußte der Vorgang doch bewußt geworden sein, denn nun richtete er sich auf, zog ein Zigarrenetui aus der Brusttasche, nahm eine heraus, die Augen mit ungewissem Blick gegen die Lampe gerichtet, biß die Spitze ab, nahm sie von den Lippen, legte sie auf die Aschenschale, ergriff die Streichhölzer und schien dann all dies zu vergessen. Er bewegte sich nicht mehr. Endlich kam Magda zum Tisch vor, nahm die Schachtel aus seiner Hand, strich ein Hölzchen an und hielt es ihm hin. Aufblickend nahm er es aus ihren Fingern, nickte sehr eifrig dankend, rauchte an und sagte: »Ihr macht eine schöne Musik …« Dann blies er das Streichholz aus und legte es hin.

Indem sagte eine ganz ferne, lippenlose, vernöckerte Stimme, leise warnend: »Heinrich, der Wagen bricht!« –

Magda, der Herzog, Renate, alle Drei sahen nach dem Papagei in der Ecke, der sorglos vom Fußboden am Vorhang hinaufstieg. Der Herzog blies eine starke Qualmwolke, lehnte sich grade zurück und sagte mit Gleichmut vor sich hin: »Nein, Herr, der Wagen nicht!« Und schwieg. Die Fürstin hatte nicht aufgesehn.

Da erst fühlte Renate die Beängstigung des Raumes und der Stille. Die Tote war überall zugegen; jede Bewegung bog um sie aus, jedes Wort hielt sich vor ihr zurück, jeder Blick glitt erst von ihr ab, ehe er zu jemandem hinging. Oh, gegenwärtiger war sie nun als jemals, da sie ja kaum sichtbar gewesen war am langen Tag; oder war es gerade dies, daß Alle, die sie gekannt hatten, immer nur eine Abwesende in ihr besaßen? Und wenn sie jetzt erschiene, – würden sie erschrecken? Sie war doch immer so selten gekommen! – Dumpf polternd fiel der Papagei zu Boden, der Vorhang bauschte sich, hörbar war der Regen, und Renate zerbrach sich den Kopf um etwas, das sie sagen könnte, aber die unsichtbare tote Seele hatte auf alle Dinge umher die Hand gelegt und Schweigen geboten. Dazu quälte es Renate, daß sie sich inständig mit dem Herzog beschäftigen mußte, ohne im geringsten wissen zu können, welcherlei Art das war, das in ihm vorging, und so folgte sie stumm und wie gebannt den Bewegungen seiner Schwester, die jetzt ihr Buch zuklappte, die Brille abnahm, ins Futteral steckte, dann Brille und Buch in ihren Pompadur, und aufstand. Gleichzeitig erhob sich ihr Mann in der Ecke. Sie ging um den Tisch, blieb vor ihrem Bruder stehn, der in die Lampe sah, und fragte ihn in versöhnlichem Ton und schonend: »Glaubst du vielleicht ans Jenseits, Woldemar?«

Er blickte sie kurz an, sah wieder fort, schien lange zu zaudern mit der Antwort und sagte endlich: »Ich weiß nicht …«

»Nein, Woldemar,« sagte sie entschieden, »nein, das verstehe ich nicht. Denn erstens wirst du sehn, daß es unrecht ist, später, denn dann hast du sie fortgeschickt, nach da oben hin –« Sie trat eilig an den Tisch, strich mit beiden Händen die Falten der Decke glatt und fuhr fort: »– und dann wirst du sehn, wie schrecklich es ist, wenn ihre Seele in allem abstirbt, was sie hier unten hatte, und auch in dir. Zweitens aber –« Sie, klein und zierlich, kreuzte die Arme unter ihrer Mantille und sprach über die Lampe hinweg zu Renate hinüber – »– zweitens sind wir allerdings von Natur ungenügsam, und sollens auch sein; das mit dem Jenseits aber, das sollten wir doch wohl den Armen lassen. Es sind schon so viel, daß das ganze Jenseits davon voll wird. Sollen sie gar nichts für sich allein haben?«

Der Herzog sah zu ihr auf, aber Renate konnte sein Gesicht nicht sehn. Nach einer Weile fuhr die Fürstin fort, das Gesicht wieder auf die Lampe senkend, und als rede sie mit sich selber: »Mehr als dreitausend Mark im Jahr für sich haben und dann noch an ein Jenseits glauben, – das ist ruchlos.«

»Sie leben«, unterbrach der Herzog mit rauher Stimme, »auch mit dreitausend Mark wie in einem irdenen Topf.«

»Die meine ich nicht,« versetzte sie fest, »du weißt wohl, wie ich es meine. Ihr habt,« sprach sie nun leiser fort, »ihr habt eine Seele, mit der ihr die ganze Erde bedecken könnt; ihr habt eine Phantasie, mit der ihr die ganze Welt mit Göttern, Christussen, Heiligen und Helden bevölkern könnt; ihr habt eine Liebe, die euch das Fernste so nah machen kann wie Kleid und Haar, – was habt ihr nicht? Und ihr wollt doch noch ein Jenseits, damit es gar niemals aufhört? Seid froh, wenn ihr endlich schlafen könnt.«

»Du warst immer eine harte Frau«, sagte der Herzog.

»Ich dachte, du wolltest sagen, eine harte alte Frau,« erwiderte sie nicht ungütig, »aber das würde nicht gestimmt haben, wenn ich auch zwanzig Jahre älter bin als du.«

»Zwanzig Jahre«, sagte der Herzog ruhig, »ist sie da im Dunkeln auf ihrem Teppichstreifen hin und her gegangen, und du sagst: ›daß es nur niemals aufhört‹.

Renate, die das selbe gedacht hatte, sah auf einmal Magdas Augen, die noch am Tische stand, die Hände auf der Platte, sehr dunkel im erbleichten Gesicht auf sich gerichtet. Sie schien etwas sagen zu wollen, die Fürstin ebenfalls, aber dann sahen Beide sich an und schwiegen. Dann kam etwas Weinerliches in die verwelkten Züge der alten Frau, sie machte ein paar heftige Kaubewegungen, nickte irgendwohin und sagte: »Also, gute Nacht!« – Ihr Mann folgte ihr nach tiefer Verbeugung vor Renate mit leicht verwirrtem Gesicht hinaus.

Jetzt fegten die Sommerstürme durch den Park hin, warfen sich gegen das Haus und schütteten Regen, daß es rauschte. Die Läden krachten und klapperten, am offenen Fenster wehte der Vorhang, Magda ging hin und schloß die Flügel. Der Herzog warf sich plötzlich im Stuhl herum und fragte hastig: »Sie bleiben doch noch?«

Renate nickte erregt und hülflos, fragte sich, ob sie noch spielen sollte, wandte sich dann zu Magda hinüber, aber die war nicht mehr am Fenster. Noch zauderte Renate, erhob sich dann aber leise, schritt bis zur Türöffnung und ging dann, da sie fern einen leisen Lichtschein bemerkte, durch die dunklen Zimmer Magda nach.

In dem großen, düstern Gemach saß Magda am kleinen Rokokoschreibtisch der Herzogin bei einem Licht vor den matt glänzenden Goldbronzebeschlägen der vielen kleinen Schubkästen des Aufsatzes, unter dem Bilde des Herzogs, die Unterarme auf der Tischplatte. Renate legte, zu ihr tretend, die Hand auf ihre Schulter, und sie sagte:

»Ich kann nicht mehr; ich möchte zu Bett gehn. Laß ihn noch nicht allein. Starke Männer wie er sind so hülflos. Es wäre gut, wenn er weinen könnte. Was schenkst du mir vorm Schlafengehn?« fragte sie, zu ihr aufblickend.

Sie schwiegen Beide, Beide an die Genfer Zeit denkend, wo Renate Magda allabendlich einen Spruch schenken mußte, und Renate schauderte vorm Schwinden der Zeit. Lange fiel ihr nichts ein, doch dann kamen die Worte Hölderlins zum Vorschein, die sie leise über Magdas Scheitel vor sich nieder sagte:

»Gleich dem Gewölke dort geh ich dahin, und du
Ruhst und glänzest in deiner
Schöne wieder, du süßes Licht.«

Als sie zusammen in den Saal zurückkehrten, stand der Doktor Birnbaum neben dem Herzog, an seiner Zigarre wickelnd, den Kopf gesenkt; der Herzog hielt den seinen in der linken Hand, die er auf das Knie gestützt hatte. Plötzlich machte der Doktor einen kleinen Ruck von Verbeugung und schlich leise hinaus. Magda hatte sich von Renate losgelöst, stand einen Augenblick frei im Raum, schien zu schwanken, aber dann ließ sie die Hände fallen und ging eilig zur Tür und verschwand. Renate blieb stehn, schaudernd vor Ratlosigkeit. Der Sturm wühlte heftiger um das Gebäude; am ganzen Haus schienen klappernde Dinge locker zu sein, die sich losreißen wollten. Auf einmal schlug irgendwo in der Tiefe eine ferne Tür laut hallend zu. Der Herzog ließ die Hand sinken, richtete sich auf und sah Renate in seiner Nähe. Augenblicks mußte er lächeln, und sie sah deutlich den Ausdruck eines Menschen, der leidet und dem ein Andrer eine schöne Sache hingeschoben hat, über die er sich freuen muß, – aber dies erlosch, er senkte langsam den Kopf und sagte, scheinbar aus früheren Gedanken und sehr verzweifelt: »Wissen Sie denn vielleicht einen Spruch?« – Sie erschrak.

Aber sie dachte nicht weiter, suchte umher, aber nun war sie durch die Verse vorhin an Hölderlin gefesselt, ihr fiel ein: ›Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist‹, und das sinnlose Wort ließ sich lange nicht abschütteln, bis sie endlich wieder jenes erste erhaschen konnte, und im dunklen Gefühl, daß es irgendeinen Sinn habe, sagte sie leise das Ganze auf:

»Heilig Wesen! gestört hab ich die goldene
Götterruhe dir oft, und der geheimeren
Tieferen Schmerzen des Lebens
Hast du manche gelernt von mir.

O vergiß es, vergieb! gleich dem Gewölke dort
Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du
Ruhst und glänzest in deiner
Schöne wieder, du süßes Licht!«

Sie hatte nach der Lampe gesehen, solange sie sprach, und nun, ohne erst mit Augen zu fragen, wußte sie, daß sie zu ihm hinzugehn hatte, aber jetzt war es der Erasmus, dem sie die Hand auf die Schulter legte. Während vor ihren verdunkelten Augen die Wände der Kapelle sichtbar wurden, die Pfeifen der Orgel, die Fenster, hörte sie das aufsteigende Schluchzen in der Brust des Mannes, das er noch bezwingen wollte, dann fühlte sie ihre linke, herabhängende Hand heftig ergriffen, und diese an seine Schläfe pressend, daß es sie schmerzte, weinte er, und sie hielt still, bis er genug hatte. Einmal, wie ein Knabe, der glaubt, sich entschuldigen zu müssen, brachte er hervor, ungeschickt und kläglich: »Sie war doch nie da, und nun ist sie ganz fort.« Renate biß die Zähne zusammen; langsam hörte er auf. Um ihn ja nicht zu beschämen, ging sie eilfertig hinaus.

In ihrem Zimmer saß Renate lange auf einem Stuhl, biß ins Taschentuch und dachte, es sei nicht anders, und sie müsse dem Erasmus nun schreiben, daß er sie haben könne. Sie fühlte mit furchtbarem Reiz den Zwang, irgend etwas zu tun, als sei da ein Strom des Leidens, über den ein einzig Mal und in diesem Augenblick der Damm einer Tat geworfen werden müsse, und wenns eine Untat war. Der Erasmus hatte niemand, und ihm stand sie doch nah, und der reiche Mann hier, der Herzog, der hatte gleich jemanden bei der Hand. Ihr quoll das Herz von Elend, die Zunge ward ihr bitter im Mund, sie sprang auf, lief zur Tür, auf den dunklen Flur und an ein Fenster. Aber es war kein Licht mehr im Saal. Im Dunkel gesträubte Gestalten von Bäumen schüttelten sich, wankten, schlugen mit Ästen; schwer goß der Regen, und die Dachpfannen lärmten. Einmal, dachte Renate sinnlos, sind wir ja alle tot. – Als aber jetzt ein Geisterscheinen durch die Nacht ging, hielt sie es für die abgeschiedene Seele, die in Sturm und Nächtelärm auch noch nicht wußte wohin, herumwehend, nach Seufzern der Lebenden haschend und langsam, langsam sich verlierend in das Allgemeine der dämmrigen Welt.

Sie trat zurück vom Fenster, ging in ihr Zimmer, entkleidete sich müde, legte sich und verlor in Bälde Sinne und Herz in dem öden Dämmerland der zerfließenden Träume.

Sommer

Renate saß auf dem Rand des Deiches im Schatten des hinter ihr stehenden Sonnenschirmes, ließ die Füße nach unten hängen, hielt die Hände über Buch, Briefblock und Bleistift im Schoß gefaltet und betrachtete die hellblaue, sonnenglitzernde Wasserfläche vor ihr mit tiefem Behagen. Als sie sich satt gesehen zu haben glaubte, legte sie das Buch neben sich ins Gras, klappte den Löschblattdeckel des Briefblocks um, setzte die Feder an und schrieb:

 

»Lieber Josef!«

An meinem Geburtstage kam ich diesmal leider nicht –, wollte sie fortfahren, allein das war nicht möglich. Es gab nichts zu schreiben. Sie wollte sich besinnen, weshalb das so war, fand aber keinen Grund, worauf sie das Blatt lostrennte, es erst zusammenfalten wollte, dann aber wie es war aus der Hand fliegen ließ. Es stolperte mühselig, vom Luftzug unbeholfen gestützt, die grüne Deichwand hinunter bis unten, wo es groß und weiß haften blieb. Wenn ich nun wüßte, ob Flut oder Ebbe ist, dachte Renate geringschätzig, könnte ich ja noch warten, bis es in See sticht. Ein schönes weißes Blatt mit Wasserlinien und Lieber Josef! darauf dürfte genügen. Sie wartete wirklich ein Weilchen, sah eine, zwei Wellenzungen – träge, als ob es die Mühe nicht lohnte, nach dem Blatt emporlecken, dann hatte sie genug, sah auf das neue Blatt auf ihren Knien, setzte wieder an und schrieb in einem Zuge:

»Ach, Georges …

»Ein ganz kleiner Wind möchte gar zu gern den unteren Rand des Blattes hochheben, auf dem ich schreibe, immer wieder versucht ers, seine unsichtbare, kleine weiche Hand drunter zu schieben, bis ich ihm einen Klaps gebe, dann ist er für Augenblicke still. Auf dem Papier liegt Schatten, und links unter mir liegt ein unförmliches Ungetüm von Schatten die Grasböschung hinunter, das bin ich mit dem hinter mir stehenden Sonnenschirm; rundum aber ist alles Licht, schwellendes, singendes, funkelndes, flimmerndes, tanzendes Sommerlicht, aber was mir im Ohre, im Blute rauscht, leise rauscht, anschlagend immerfort, immer wieder, ununterbrochen, das ist die See, die See dicht mir zu Füßen am Deich, auf dem ich im Grase sitze, die See, die, wie mir scheint, in die höchste Flut gestiegen ist, die beim Landwind nicht brandet, sondern nur anschlägt, immer wieder, ein kleiner Schlag, und wieder – ein leichter Schlag, und so fernhin zur Linken, und fernhin zur Rechten am Ufer die leise Bewegung des weißen Bandes, das zurückgezogen wird und wieder angeworfen, so leicht, so leicht … Aber wenn ich die Augen hebe, liegt sie still und gewaltig da, nicht eben unermeßlich, der Horizont ist ganz nah, es ist nur ein kurzes Stück Wasser, das ich sehe, aber es ist doch unermeßlich, denn es endet nirgends, und es bewegt sich so geheimnisvoll, es ist wie eine ungeheure Masse von Wesen, Tierwesen, Götterwesen, gestaltlos aufgelöst und doch wesenhaft, als könnte jeden Augenblick Gebärde und Blick und Leib deutlich herausspringen und sich zeigen, aber schon versinkt es wieder und ist so beklemmend allgemein, Heerscharen, nur Heerscharen heranströmender Seelen, die niemals näherkommen. Und kühl ist es dabei, wonnig kühl und glitzernd und wäßrig dunkelblau und unsagbar ruhig unter der großen Sonne am Himmel.

»Ich hab die burgunderrote Seidenjacke an, Georges, es wäre mir aber nicht unlieb, wenn Du Dir den hinter mir stehenden gelblichen Leinenschirm weg dächtest und an seiner statt – Septentrio, sanftesten Seewind, einen kiefernbraunen Götterjüngling, der mit ebenhölzernem Kamme – – soweit. –

»Lieber guter Georges, als ich zuerst eben Deinen Namen schreiben wollte, hätte ich fast mit einem S angefangen und Schorsch geschrieben oder auch Schorschl. Siehst Du, so wohl ist mir! Nicht ganz christlich wohl, denn wir haben ja vor kaum acht Tagen die arme Helene zur Ruhe gelegt auf der kleinen Insel im Süßwasserteich. Am Rande einer kleinen Lichtung liegt sie, wie sie es gewünscht hatte, unter einer Blutbuche. Kein Grashügel ist zu sehn, nur flacher, grüner Rasen, und am Baumstamm ist eine eherne Tafel, von weitem kaum sichtbar, auf der steht nur

Helene
Herzogin

»Der Herzog war fast drei Wochen fort; ich sehe ihn nun zuweilen von weitem im Park sitzen. Georg ist wieder fort ins Semester.

»Lieber Freund, es ist ein Wintertag gewesen, und an diesem Wintertage verlor sich diese Renate Montfort und sagte zu Georges, weil er etwas gesagt hatte, das ihr nicht gefiel: Geh hinaus. Da ist er aufgestanden und hinausgegangen, und sie saß böse da und zerriß ihr Taschentüchlein wie so eine Hysterische, bis er wieder hereinkam und sagte, es hätte aufgehört mit Regnen. Da ist sie aufgestanden und vor ihn hingetreten, hat aber nur ihr rechtes Handgelenk auf seine linke Schulter gelegt und ist so einen Augenblick dagestanden und hat den Kopf gesenkt gehalten und ist hinausgegangen. Ich habe eben versucht herauszubekommen, was ich gedacht haben mag in jenen Augenblicken, aber es muß feststehn, daß ich wirklich nichts gedacht habe, nur etwas empfunden. Ich glaube, bei Männern ist das unmöglich, und ich sage gleich, daß sie es deshalb besser haben, denn sie wissen sich immer zu helfen mit einem obstinaten Gedanken, wir aber sind uns selber preisgegeben, müssen aus solchen Pausen des Nichtseins nachher handeln, und alles wird verkehrt. Sonst habe ich ja diesen ganzen, traurigen Winter lang nichts getan als herumgegrübelt, es war entsetzlich, ich weiß nun erst, wie meiner armen Magda ums Herz gewesen sein muß in dem Winter vor zwei Jahren.

»Sage, Georges, ist es wahr, daß in der Güntherstraße die Sonne nicht mehr scheint? Oft, so oft, wenn ich mittags am Fenster stand und den alten Mann in seinem schwarzen Mantel, gebückt und schneeweiß auf dem Weg um die Sonnenuhr wandern sah, so dachte ich, daß er den Schatten von der Uhr fortgenommen habe und selber der Schatten sei, der in furchtbarer Schnelle herumkreise und die ganzen Sonnenstunden des Tages abwirble, und wenn er plötzlich fort war, war auch keine Zeit mehr im Garten und im Hause, und alles stand still.

»Es war immer Schlackerschnee und Regen, solange ich diesen Winter zurückdenken kann, nur einmal erinnere ich mich eines Vorfrühlingstages, da fuhr ich zu Irene, und die Sonne schien, aber siehst Du: in der Güntherstraße war das nicht. Und ich kränkelte immerfort – wann wäre ich früher krank gewesen! – und oh wie mir am ganzen Leibe zumute war, das kannst Du ja gar nicht ahnen, und ich kanns nicht beschreiben.«

Aufblickend dachte Renate, daß aus den zwei Tagen, die sie allmonatlich zu ruhen pflegte, mit der Zeit fünf geworden waren, wo sie sich kaum zu regen vermochte, wo sie kaum ein Stück Kleidung am Körper ertragen konnte und immer nur auf dem blauen Sofa lag, halb oder ganz entkleidet, stundenlang manchmal vor sich hin weinend vor Gram und Hülflosigkeit über sich selbst, aber das konnte sie ihm nicht gut schreiben, und sie fuhr fort:

»Tagelang, wochenlang drückte mich jedes Band, jede Falte auf der Haut, ich kam mir neidlos vor wie die berüchtigte Prinzessin auf der Erbse, und wieder tagelang und wochenlang war ich so schlampig, daß ich vor reiner, oder vielmehr unreiner Trägheit manchmal des Morgens nicht gebadet habe, sondern bloß abends. Ich weiß nicht, woher ich so war, denn das kann ich doch nicht auf mein Herzeleid wegen Onkel Augustins schieben. – Was es auch gewesen sein mag, so bitte ich Dich jedenfalls heute herzlich um Verzeihung wegen jeder Laune und Unwirschheit, wobei mir albernerweise einfällt, daß ich noch nie einen Menschen habe sagen hören, er sei wirsch, aber nun bin ich wirsch.

»Da ist der Bleistift abgeschrieben, und ich habe kein Messer, um ihn anzuspitzen, und Georges ist nicht da, der ein Messer haben würde, und ich denke, wenn mans wagen könnte, so würde ich mich jetzt splinterfaselnackt ausziehn und von oben ins Wasser springen, da wo es am tiefsten ist. Leider konnten wir noch nicht in der See baden, es ist noch zu kalt. Ich hole das letzte Bißchen Graphit aus dem Bleistift heraus, sende Dir viele schöne Grüße und anbefehle, daß Du spätestens am fünfzehnten Juli in Helenenruh zu erscheinen hast. Helenenruh gehört nämlich jetzt Magda, und da sogar der Herzog sich als ihr Gast betrachtet, so wirst Du kaum herzoglicher als der Herzog sein wollen. Grüß Gott, Georges, und mach, daß Du kommst! Stets Deine alte Renate.«

Renate legte die Blätter zusammen und in das Buch, auf dem sie geschrieben hatte, legte es ins Gras und streckte sich lang aus. So lag sie eine halbe Stunde, oder eine ganze, sie wußte es nicht, die Hände unterm Kopf, friedlich aufgelöst in Sonnenschein, Himmel und Geräusch der See. Dann stand sie auf, klappte den leinenen Sonnenschirm zu, klemmte ihr Buch unter den Arm und schlenderte langsam über die Wiesen hin, im Gehen einen lockern Strauß von gelben Sternblumen und Gräsern sammelnd. So geriet sie in den Schatten des Parks, wanderte hindurch und geriet an den Teich, ging zur Bank, die dort stand, und setzte sich, machte ihr Buch auf und las ein Stück im Großen Kriege der Ricarda Huch, merkte aber, daß es sich nicht gut las im Freien und in der Sonne. Ja, dachte sie aufsehend, wie kann man im Sonnenschein lesen: Graues Gewölke bedeckte den Novemberhimmel, oder dergleichen? Aber sonderbar, daß nur das künstliche Licht abprallt – denn dabei gehts doch! – aber die Sonne läßt ihrer nicht spotten …

Das Stück des Weihers vor ihr war glatt und schwarz, Himmelsblau und Wolken erfüllten die Tiefe, vielmals tiefer als der Weiher selber war, zur Rechten war alles grün, eine rasenhafte Fläche von Entenflott, ja dort war wohl Magda hineingeritten und hatte Jason herausgeholt. Wie war das zu verstehn? Jason, der herumging wie eine sonderbare Abart des lieben Gottes, der sollte hier – –? Magda freilich, – ihre Tat war eher zu verstehn heute. Nur dunkel tauchte in Renate eine sonderbare Prophezeiung auf, – ach längst erledigt und abgetan! – Renate sah nach links hinüber zu den Baumkronen der Insel in einiger Entfernung. Sonderbar, die kleine Brücke, die dort hinüberführte, stand ja schräg empor? Richtig, sie erinnerte sich, daß ein Gewinde daran war, um sie durch einen Knopfdruck, wenn man auf der Insel war, steigen zu lassen, so daß niemand herüber konnte, denn es war ja einmal ein Liebespavillon auf der Insel gewesen, die Trümmer waren erst jetzt fortgeräumt, denn nun war es ein Friedhof; und nun hatte der Herzog wohl auch das durchgerostete Hebewerk erneuern lassen. Renate dachte an Stöckelschuh unter breiten Seidenröcken, an zierliche Krummstäbe, Bänder und schäferliche Hüte, die einmal über diese Brücke geglitten waren. Schwerer trug sich ein Sarg von Ebenholz mit silbernen Beschlägen an dem traurigen Tag der Fackeln und Flöre, seltsam flatternd in kräftigem Seewind und hellem Sonnenschein.

Indem bewegte sich etwas auf der Insel, ein Mensch, schwarzgekleidet, kam auf die Brücke zu, von einem andern, kleineren begleitet, der Herzog auf seinen Stöcken. An der Brücke blieb er stehn und schien herüberzublicken. Dann ging er über den Steg, blieb stehn, und nun entfernte sich der Andre, Dr. Birnbaum wars, nach dem Schloß hin. Der Herzog kam auf dem Uferwege auf ihre Bank zu, langsam, Stock um Stock und Fuß um Fuß vorwärtssetzend, vornübergebeugt, – Renate blickte fort, um es nicht mitanzusehn. Als sie seine Schritte nahe hörte, stand sie auf, er versuchte eiliger zu gehn und bat sie schon, sitzen zu bleiben. Bald darauf saß er neben ihr, erhitzt von der Anstrengung, sein Keuchen unterdrückend, die Stöcke zwischen den Schenkeln, barhaupt. Renate fand ihn stiller, die Augen freilich hatten sich noch nicht gänzlich wieder in der Gewalt, und ein Blick von sonderbarer Ängstlichkeit kam dann und wann zum Vorschein. Verquer dazwischen fuhr dann ein gewaltsamer Ausdruck von Verächtlichkeit, am Munde im Bart verzuckend. So saß er eine Weile still, über den See hinblickend, sah dann zur Seite, sah Renates Buch auf der Bank, rührte mit der Hand daran und sagte, er habe sie hoffentlich nicht gestört. Renate, schon zufrieden, daß er sich wieder an einen Menschen gemacht hatte, dachte, daß er nun einen Anfang gefunden habe, und lächelte nur verneinend; da er aber wieder schwieg, sagte sie ihm, was sie eben gedacht hatte vom Lesen im Sonnenschein. Er hörte zu und schwieg weiter, sagte dann, einen Schweißtropfen mit der Hand von der Stirn wischend: »Ein hübscher Gedanke, ja, sehr hübscher Gedanke. Meine Frau las viel, auch die letzten Jahre wieder konnte sie sich doch vorlesen lassen, ja, sehen Sie, das muß man doch sagen, ja, das muß man doch sagen, daß es, solange ein Mensch lebt, solange er leben muß, nichts Unerträgliches gibt. Ihr Kopfschmerz war so, immer durch Tage, ja durch Wochen hin so, daß sie in den ersten Jahren mit Gewalt am Leben gehalten werden mußte. Ja, und dann hat es sich doch gegeben, oder vielmehr sie ist es gewohnt geworden. Mitunter waren ja auch Tage, zwei Tage, drei Tage, wo der Schmerz nur ganz leicht war. An den schweren Tagen soll es so gewesen sein, als ob – also wie diese mittelalterlichen Mundbirnen – als ob ihr die Knochen des Kopfes von einer ungeheuer langsamen Gewalt auseinandergetrieben würden, aber das waren nur die Nerven, ja nur die Nerven. Sehen Sie, und das dauerte nun bald zwanzig Jahr.«

Er hatte langsam, aber doch leicht und ruhig, beinah trocken vor sich hingesprochen. Jetzt drehte er sich zu Renate herum, legte die Hand auf das Buch und sagte:

»Die Weisheit des Herrn ist unvergänglich, und seine Güte währet ewiglich. Dies Wort ging so in mir herum, und sehen Sie, ich finde es doch erstaunlich, wie die Menschen solche Worte aufgestellt haben. Man kann fast nicht daran rütteln, es steht so da wie ein Turm, und wenn es sich auch nicht denken läßt, so läßt es sich doch sehn, nicht einsehn, aber sehn, jawohl …«

Nun schwieg er wieder und sah vor sich hin. Renate dachte, daß dieser Mensch wahrscheinlich niemals geschwiegen habe. Er konnte alles sagen; was er wollte und wie ers wollte. Immer waren Menschen da, die es anhören mußten und darauf eingehn. Und vielleicht gerade, weil er gegen seine Frau zum Schweigen verurteilt war, hatte dies ihn um so leichtherziger gemacht im Aussprechen seiner Gedanken gegen die Andern, gegen seinen Sekretär vor allem, der ihm durch den Tag hin anhing wie ein Schatten. Denn das Eigentliche war es doch nie, was er sagen konnte, oder wenn es schon das Eigentliche war, so konnte ers doch nicht auf die rechte und innerst gewünschte Weise hervorbringen, und es war – aber in diesem Augenblick hörte Renate ihn wieder sprechen und merkte betroffen, daß er eben das, was sie zu denken im Begriff war, aussprach, indem er anfing:

»Ich will Ihnen sagen – es ist nun schon so, daß ich den Mund nicht halten kann,« unterbrach er sich lächelnd – »ich will Ihnen sagen, daß ich eigentlich jahrelang, zwanzig Jahre lang in einer fremden Sprache geredet habe. Ich habe nicht wenig geredet, es war ja immer wer zum Zuhören da, aber immer habe ich meine Gedanken erst so übersetzen müssen; in die Fremdsprache. In der eigentlichen schwieg ich mich aus, in der hätte ich mit Helene reden können, aber nun war das ja zugeschüttet. Haben Sie«, fragte er, sich unterbrechend, »meine Schwester kennen gelernt? Richtig, Sie spielten uns ja vor neulich abend! Ja, mit der Fürstin habe ich wohl auch hier und da ein Wort in unsrer Muttersprache gesprochen, aber es war doch nicht die richtige, nein, es war nicht die richtige.«

Er faßte sich mit der Hand nach den Augen, als gebe es etwas wegzustreifen, und sagte:

»Es ist mir doch fortwährend, als wäre sie selber wie ein Schleier vor mir weggenommen, und ich kann sie nun erst sehn, wie sie wirklich war, und was ich – nie besaß, und was ich nun endgültig verloren habe.«

Er hielt inne, und Renate merkte wohl, daß dies auch nicht die rechte Sprache war, und wie er herumtastete, hülflos genug, und nach um so gemeineren, allgemeineren Worten griff, je heftiger ihn nach eigentümlichen verlangte. Hastig sprach er schon weiter, auf einmal von seinem Malheur, an das er nun immer denken müsse, dies merkwürdige Zusammentreffen mit dem Krankheitsbeginn seiner Frau, und er erzählte, wie das gewesen sei: zwei Stockwerke hoch sei die Planke des Baugerüstes gebrochen, und er habe schwankend und um sich greifend sich noch gesagt: springen und – vornüberfallen, sonst ist das Rückgrat zum – da lag er unten, die beiden Füße waren einfach ab. Anfänglich habe er, als es mit dem Gehen nichts wurde, geheult wie ein Dorfköter an der Kette, – er lachte gutmütig und zeigte Renate eine Narbe am Handgelenk, die sei vom Einschlagen der Glasscheibe am Gewehrschrank, den sie zugeschlossen hatten, ja, damals sei er ganz außer Rand und Band gewesen. Wie sich denn aber das Leiden seiner Frau so hartnäckig erwiesen habe wie seine Gehunfähigkeit, da habe er nachgegeben und um so leichter verzichtet. Vielleicht, meinte er, hätte ich sogar gehen gelernt, der Arzt sagte sowas von ein paar Jahren, dann würde alles wieder zurechtgewachsen sein …

»Aber sehen Sie,« hörte Renate ihn wieder deutlicher reden, da sie sich aus den Vorstellungen und Bildern, die seine Worte erzeugten, losmachte, »da wollte ichs denn auch nicht mehr, wenn Sie vielleicht eine Ahnung haben, was Warten ist, Warten, wie sie und ich auf ihre Heilung, auf Linderung gewartet haben, erst Wochen, sechs Wochen, neun Wochen, zwölf Wochen, und auf einmal warens Monate, drei Monate, fünf Monate, acht Monate, und nun – Jahre, ein Jahr, drei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre, sechs Jahre und am Ende – alles umsonst.«

Er schlug die Handballen gegen die Stirn, krümmte und wand sich innerlich. Gleich aber ermannte er sich wieder, setzte sich gerade, faßte seine Stöcke und sagte:

»Ja, sehen Sie, dabei bin ich nun das hier geworden. Sie glauben vielleicht, ich wäre als Junge so was gewesen wie Georg. Ha, der Junge denkt in einer halben Stunde soviel wie sein Vater nicht im halben Jahr!« Er lachte. »Ich sage nicht, daß ich mit ihm zufrieden wäre, man muß ihn schon lassen, da läßt sich nichts ändern, übrigens ist er die Monate jetzt in Trassenberg stramm hinter der Arbeit gewesen, mein Sekretär bezeugts, also ist es wahr. Ein komischer Bursch. Ja, hören Sie mal, wir machten eine kleine Reise zusammen, gehen in einen Laden, und ich kaufe was für Helene, da habe ich kein Geld bei mir und sage ihm, er solls auslegen. Ja, er hätte kein Geld bei sich, sagt er. Nun, das kann vorkommen, aber ein paar Tage später passiert dieselbe Geschichte, und da erzählt er mir denn, er hätte überhaupt niemals Geld und zeigt mir so zwei, drei Goldstücke, das sei alles, die brauche er hin und wieder zum Verschenken, und zeigt mir ein Scheckbuch und sagt: ›Ich schreibe immerzu meinen Namen.‹ Unbegrenzten Kredit haben, ist groß, sagt er, ihn benützen kann nur kleiner sein, – oder so ähnlich. Nein, da war ich ein Windhund gegen ihn. ›Höchstes Glück der Erde,‹ wie der Dichter singt, ›heißt der Adelsspruch, liegt auf dem Rücken der Pferde‹ und so weiter. Ja, das waren auch Zeiten!« Er sah an Renate vorüber weit weg in die Erinnerung.

»Eines Tages,« begann er wieder mit leiserer Stimme, »eines Tages sagte eine junge Dame zu mir, weil ich irgendwas nicht gewußt hatte: ›Wie kann man so dumm sein!‹ Das hatte ich noch nie gehört, und nun von solch einem Wesen mit großen Augen und braunen Haaren! Die Sache war schon abgekartet, sie war Hofdame und würde nicht viel haben, aber doch gerade so ein Stück Land, das meinem Vater zur Abrundung fehlte, sie war reichsunmittelbar, und so paßte alles, bloß ich habe ihr ganz und gar nicht gepaßt. Wir verlobten uns allerdings, und ich war heftig verliebt, sie aber schickte mich auf Reisen. Mein Vater hatte nichts dagegen, und so reiste ich, ja, ich reiste nicht allein, ich hatte eine Geliebte, die nahm ich mit, ich war trotzig auf meine Braut, so fuhr ich um die halbe Welt, aber ich kam wohl nicht viel anders wieder, als ich ausgefahren war. Ja, nun hören Sie, wie es mir erging. Ich hatte doch gedacht, meine Braut würde das nicht merken mit meiner Reisebegleiterin, aber weit gefehlt, denn sie hatte mich auf der ganzen Reise von einem Freund beobachten lassen – dies gestand sie mir erst Jahre später –; und also, wie ich wieder vor sie hin trete, sagt sie: Wo bist du gewesen? – Es ging mir durch und durch, wie sie mich ansah, dermaßen kaltblütige Augen machte sie, und ich fing an zu stottern. Bisher, sagte sie da, ich höre es noch heute, bisher habe ich dir wenig genützt; nun kannst du noch mal andersherum um die Welt fahren, dann werden wir weiter sehn. – Diesmal aber gab sie mir einen Freund mit, einen kleinen Juden, den ihr Vater als Bocherknaben aufgegriffen und erzogen hatte. Er hatte alles gelernt, was es in der Welt zu lernen giebt, sprach viele Sprachen, war so unauffällig wie eine Katze, so bescheiden wie ein wohlerzogener Hund und so klug wie Rabbi Löw, nun, Sie kennen ihn, er hat sich seitdem verändert, es ist mein Doktor Birnbaum, der ging also mit, und da gingen mir die Augen auf. Als ich dann wieder kam, – nun, was mich selber angeht, ich hatte einen Eckstein zu mir gelegt, und sie fiel mir damals um den Hals und sagte, sie wäre gestorben, wenn sie mich nicht gekriegt hätte. Sie hätte mich ja nicht gewollt, grollte ich da. Dummes Zeug, sagte sie, ich –«

Überdem gingen ihm die Worte aus, seine Augen verdunkelten sich, es rauschte im See, er drehte sich heftig um, der schwarze Artaxerxes kletterte von der Insel ins Wasser, schlug mit dem lebendigen Flügel und glitt schaukelnd davon.

»Ein Jahr«, sagte der Herzog vor sich hin, »neun Monate lang war sie jung und schön und zierlich; ihre Hände griffen kräftig zu, und so packte sie mein Herz, sie ließ ihrer nicht spotten, ja, und nun ist sie ja tot …«

Der Schwan hatte einen Bogen geschlagen, kam nun in schnurgerader Bahn auf die beiden Sitzenden zugeschwommen, hin und wieder den Kopf drehend, ein wenig emporfahrend bei jedem Stoß des ruhig treibenden Fußes. Gleichzeitig wurden Schritte hörbar, Doktor Birnbaum erschien, langsam am Ufer hergehend. Der Herzog wandte sich nach ihm um, nickte und sagte, wieder zu Renate gedreht, trübherzig spottend: »Der Arzt mit der mahnenden Arzneiflasche Arbeit.«

Der Doktor nahm ein Stück Brot aus der Tasche, brach Brocken ab und streckte die Hand aus; der Schwan schwamm ans Ufer, stieg herauf, der lahme Flügel hing kahl und ergraut zu Boden, er streckte den Hals, nahm den Brocken und verschluckte ihn; dabei sah er mit dem roten, stirnartigen Wulst über dem Schnabel und den rotgeränderten Augen nicht klüger und nicht stolzer aus als ein häuslicher Hühnervögel. Der Herzog seufzte leicht und stand auf.

»Doktor Birnbaum, sehen Sie, hat auch den Schwan repariert,« sagte er, »schon benimmt er sich wieder zahm und manierlich.«

Er nahm die Stöcke in die linke Hand, streckte Renate die rechte hin und bat, ihm nicht zu zürnen … Sie konnte ihn nur herzlich ansehen und ihm die Hand drücken. Er drehte sich weg, reichte dem Doktor einen Stock und faßte seinen Arm. Renate wandte sich ab.

Auf dem grünen Uferstreif hockte der Schwan und putzte mit dem Schnabel an dem vertrockneten Flügel. Lange blickte sie gedankenvoll auf ihn herunter, dann kam Magda, um sie zum Frühstück zu holen, aber sie schien dem Schwan nicht zu gefallen, er fauchte, machte sich auf, stieg ins Wasser und zog mit unwilligen Kopfbewegungen davon. Magda lächelte und meinte, er habe es ihr nicht vergessen, daß sie ihn überflog, – fragte dann, ob Renate mit dem Herzog gesprochen habe. Renate versuchte, während sie auf das Haus zugingen, einiges von dem, was er gesprochen hatte, wiederzugeben, gewahrte aber jetzt, als habe Gewölk sie bisher verdunkelt, die Sonne wieder, den juligrünen Garten, atmete auf, brach einen Satz inmitten ab, legte einen Arm um die Freundin und sagte:

»Ich möchte dich an der Hand fassen, wie meinen Vater als Kind, wenn ich ›blind‹ mit ihm spielte, und so mit geschlossenen Augen durch den Wind und den Sommer hingehn.«

Sie blieb stehn, schloß die Augen, streckte die Arme ein wenig rechts und links und rief leidenschaftlich: »Ach, ein Unsichtbarer hat uns ja doch immer an der Hand und führt uns durch Winter und Sommer, wohin er will.«


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