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Zweites Kapitel: Dezember

Sylvester

Georg, zerdrückt, zersetzt und mißgefärbt, wie er sich aus Berlin mitgebracht hatte, wanderte gegen halb zwölf Uhr in der Neujahrsnacht vor der Reihe der sechs vom Erdboden aufsteigenden Fenster des langen Saales in Trassenberg auf und nieder. Dabei hatte er außerhalb der Fenster das schwarze Nichts, die Nacht mit einem oder zwei roten Lichtern im unsichtbaren Grunde des Landes; innerhalb den langgestreckten Saal, aus dessen drei Wänden, aus den drei Steinkaminen der Flammenschein herausschlug. Die Kamindächer hingen steil und düster wie gewaltige Brauen über den Feueraugen, deren Flackerblick die beiden mannsdicken, in der Höhe verästeten Holzpfeiler im Schatten ließen, welche, ein paar Schritt weit voneinander entfernt, die Saaldecke trugen. In der Dunkelheit der Wände oben ließ sich von Georgs irrendem Blick hier und dort aus den verblichenen und verrußten Wandmalereien eine Gestalt ergreifen, steif in Umrißlinien und Falten des zwölften Jahrhunderts, ein Schwert, ein verhangenes Roß oder die seltsam verschobene Figur einer Frau, hintenübergezogen vom spitzen Kopfputz und hangenden Schleier.

Georg blickte auf die Uhr, ohne die Zeit zu sehn, und erwartete seinen Vater. Ihn fröstelte; deutlicher empfand er die beiden Toten in der Nähe, Cordelias ewig triumphierendes Lächeln und die Gestalt seiner Mutter; diese manchmal hinter sich, an einem der Fenster, vereinsamt dastehend wie eine Verbannte, – und dann verspürte er wieder ihren Kopfschmerz, als könne der noch immer nicht vergangen sein …

Diese Mutter … Er zwang sich, zu vergessen, daß sie nicht die seine war, sich zu erinnern, wie es hier früher in dieser Nacht gewesen. Dann saßen erst er und sein Vater dort beim Punsch vor dem mittleren Kamin. Zehn Minuten vor Mitternacht erschien die Helene, Diener mit Windlichtern, die ein paar Fenster und die Glastür zum kleinen Altan öffneten – dem Einzug des neuen Jahrs. Sie sagte ein paar heitere Worte. Dann gingen sie zusammen zur Altantür und standen dort im kalten Atem der Winternacht und erwarteten den Glockenschlag. Er kam, feierlicher als jeder Stundenschlag im ganzen Jahr. Dann wurde in der Tiefe, vor der Kirche im Dorf der Holzstoß entzündet; sie sahen von hoch oben den roten Flammenschein, Gestalten, Portal und weiße Wand des Kirchturms im Schein, und im Kreis um das Feuer die Bläser mit ihren Messinginstrumenten. Nun läuteten die Glocken, der Choral stieg vernehmlich zu ihnen empor: Bis hierher hat mich Gott gebracht … Beim zweiten Vers traten sie in den Saal zurück und …

Jahrein – jahraus – zehn, elf Male hatte er das erlebt. Immer eine feierlich leichte, schöne Stunde … Mein Gott, ist es anders geworden! Sie ist nicht mehr dabei, und ich selber bin –, nein, ich soll … soll? Hier ein Fremder sein, ein Eindringling …

Ratlos auf den nächsten Pfeiler zutretend, wie im Verlangen nach einer Stütze, fühlte Georg unter der tastenden Hand die Hunderte der Kerben, die den Stamm bedeckten. Hier hatten sie sich eingeschnitten, die einmal die Seinen waren, bei jedem Bankett, jeder Jagdtafel, sie und ihre Gäste, burggeseßne, erb- und schloßgeseßne Herren, später Grafen, Markgrafen, Herzöge … Auf einem der Böden mußten noch mehr solche Stämme liegen, nachdem die ersten vollgeschrieben waren bis obenhin, – es war wohl mehr als ein Arm gebrochen, wenn sie Stühle auf Tische setzten in ihrer Berauschtheit, um höher hinaufzulangen, und an einem Pfeiler oben stand: Heint hab ich, Hugo Remmele, den – soundso – fast zu Tode gestochen, sintmal ich b'soffen von oben stürzte mit dem Säufang … Oder so ähnlich … Als Junge, sann Georg, konnte ich stundenlang um die Stämme rutschen, um die Namen zu entziffern, die Wahlsprüche und das Lateinische. Drei Kreuze, dacht ich, bedeuteten Tote … Merkwürdig viel Kreuze …

Georg sah aus Knabenkleinheit, in die er sich versetzt, geisterhaft umher. Die drei Kyklopenaugen glotzten, die Flammen züngelten in Buchenkloben, es war still … Nein! nein! er nicht dazu gehören? Nein, davon empfand nie und nimmer etwas sein Herz! Nur unsäglich traurig war alles geworden. Traurig? Warum nur, warum? Nun hatte die Zeit auch Cordelias Lächeln fast getilgt, dies allzutriumphierende Lächeln …

Georg, längst wieder am Fenster stehend, die erst kalte Scheibe warm geworden an seiner Stirn, hörte ein Geräusch und wandte sich. Ein Flügel der Tür zur Linken in der langen Wand war aufgeschlagen, und daneben stand im Schein des Armleuchters, den er selber hochhielt, Egloffstein, schwarz in Frack und Kniehosen, das faltige Gesicht unterm weißen Haar schief geneigt wie immer. Die Schritte und die Stöcke des Herzogs wurden hörbar, er kam zum Vorschein, im Frack, – ja, das war nun auch anders, denn er ging, er ging ganz gut, schon ziemlich grade, machte richtige Schritte, – erstaunlich, was sein Wille in ein paar Monaten zustande gebracht hatte! – Georg ging ihm entgegen, nur mit einem ernsten, schnellen Blick von ihm ins Auge gefaßt. Hinter ihm Leopold und Egbert in ihren blauen Livreen trugen, der eine das Brett mit dem Bowlengefäß und Gläsern, der andre eine kleine Truhe, und setzten beides auf den alten Holztisch vor dem Mittelkamin. Georg hörte Egloffstein seinen Vater etwas fragen und »Halb eins« aus der Antwort, während er Egbert zusah, der den Fuß eines Baumstamms zum Feuer trug und hineinlegte; die Flammen duckten sich, leckten mit körperlosen Zungen daran empor, unterhalb knisterten dunkelrote Funken in der schneller anglimmenden Rinde. Georg gingen die Augen über im Hinsehn, bis ein leises Klirren ihn veranlaßte, sich umzudrehn. Sein Vater, jetzt allein, stellte eben den Löffel in die Bowle zurück, reichte dann Georg sein Glas. »Ach, du trinkst ja wohl nicht …« sagte er, sich erinnernd, und lächelte. Georg antwortete mit einem Lächeln und setzte sich am andern Ende des Tisches den Fenstern gegenüber. In dem Glase dampfte der goldenbraune Punsch, Schwaden zogen sich um die Flammen des Leuchters. Ja – dies war wie immer … Auch dies, wie sein Vater das Glas gegen die Lichter hob, dann kostete. Auch Georg nahm einen Schluck; die flüssige Glut verschlug ihm den Atem, er mußte hüsteln.

Und dann folgte er mit den Augen den langsamen Bewegungen seines Vaters, mit denen er seine Zigarrentasche hervorholte, eine herausnahm, nachdem er mehrere hinter den Klappen gelüpft und gedreht, sie auf den Tisch legte, die Tasche schloß, dann wieder aufklappte und Georg mit einem Lächeln hinhielt. »Dir zu Gefallen«, sagte Georg, eine nehmend, biß wie sein Vater die Spitze ab, aber das mißlang natürlich, er mußte das Deckblatt festlecken und vergaß darüber, seinem Vater den Leuchter zu reichen. Plötzlich sah er ihn aufrecht dasitzen, eine Hand auf der Tischplatte, die Zigarre im Munde, den Leuchter erwartend …

Er hatte sich aber noch kaum nach den ersten Zügen zurückgelehnt, als die kleine, stets Minuten vorgehende Uhr auf dem Kaminsims zum Schlag aushob. Sie nickten sich zu, der Herzog hob seine Stöcke, sie gingen zur Glastür, Georg öffnete, eisig schlug die Nachtluft über sie hinweg. Da – in der Tiefe rechts brannte schon der Holzstoß, Schatten bewegten sich umher, die Bläser stellten sich im Kreis, Messing blitzte, die Dörfler drängten sich herum, beleuchtete Gesichter waren zu sehn. Dann klang der erste Glockenschlag, die Mitternacht schwebte vernehmlich in klaren Tönen herauf, der Choral setzte ein. Georg spürte auf seiner Schulter eine schwere Last, die Hand seines Vaters.

Zudritt mit der Unsichtbaren standen sie in der nächtigen Höhe. Georgs Herz schlug schwer, – er sah das Vorjahr, die Vorjahre … sah sie und ihn und sich selber wieder in den Saal zurückgekehrt … Doktor Birnbaum war schon da mit seiner großen Truhe auf einem Stuhl und Fräulein von Rabenau mit ihrem Arm voll weißer Narzissen. Die Saaltüren standen weit offen. Sie waren lustig. Draußen war der Rücken des Kantors sichtbar, taktschlagend mit beiden Armen, und der Kinderchor klang. Dann kamen sie herein, der Kantor, die Kinder, dahinter das ganze Gesinde, von Egloffstein geführt, bis hinunter zum letzten Stallknecht und Hütejungen, Knechte, Mägde und die Dienerschaft. Zogen vorbei, und jeder bekam dreierlei: vom Herzog einen goldenen Händedruck aus der Truhe, von Georg einen einfachen, von Helene eine Narzisse. Und hundert Stimmen, tief und hoch, heiser und hell – der Neujahrswunsch. Seit er stehen konnte, im weißen Kleidchen, hatte er seine kleine Hand hinhalten müssen, seinen Diener gemacht und in die großen fremden Züge über ihm gesehn … Die Mägde machten heilige Gesichter, wenn sie ihre Narzisse hatten, trugen sie hinaus wie ein Altarlicht, und manche weinten trotz strengen Verbots. Und Mama … Manchmal war sie am Umsinken vor Schmerzen. Dann stand sie, die Augen fielen ihr zu, die Finger der Linken preßten die Schläfenader, nahm eine Blume nach der andern aus der Hand des alten Fräuleins, reichte sie hin und lächelte dazu. Jeder bekam seine Blume und sein Lächeln. Dann hauchte sie Gutenacht und lief hinaus.

Georg brannte der Kopf. War dies nicht schon der dritte Vers des Chorals? – Da wußte er, daß sein Vater sich fürchtete – wie er selber – vor dem Sichumdrehn und dem, was hinter ihnen war … Aber im nächsten Augenblick fühlte er sich von der Hand auf seiner Schulter herumgedreht, sein Blick streifte dabei über das angespannte, entgeisterte Gesicht seines Vaters. Da war der leere Saal …

Heiser hörte Georg ihn fragen:

»Und nun, Georg, wie ist es: fühlst du dich – zu Hause?«

Georg verstand, senkte den Kopf, hob ihn wieder und sagte in den Saal hinein: »Es ist nicht wie früher. Es – – mir ist glaub ich so wie einem, der sich jahrelang herumgetrieben hat und – als hätte er nun kein Recht mehr … so ungefähr.«

»Armer Junge«, hörte er murmeln. Sein Vater drückte ihn liebevoll an sich; er blickte in seine Augen und murmelte, seine Hand suchend, schamvoll: »Wenn ich nur dich habe …« Sein Vater drückte die seine kurz und hart, ging dann durch den Saal zum Tisch, öffnete den Deckel der Truhe und nahm ein zusammengefaltetes Papier hervor, aus dem an seiner Schnur ein großes Wachssiegel herausfiel. – Georg wußte, was es war, und begann im Augenblick heftig zu zittern.

»Dies,« sagte sein Vater, den Bogen langsam aufschlagend und hineinsehend, »dies ist der Vertrag.«

Er legte ihn wieder zusammen und in den Kasten zurück, den er schloß.

»Du kannst ihn an dich nehmen und Gebrauch davon machen. Später – wenn du meiner Hülfe bedürfen solltest …«

Er brach ab, nickte ein paar Male vor sich hin, setzte sich dann.

Georg spürte die hinter ihm hereinströmende Kälte, wandte sich, warf das bitter schmeckende Ende seiner Zigarre hinaus und schloß die Tür. Dann zündete er sich eine Zigarette an und begann, alles umher vergessend, wieder vor den Fenstern auf und ab zu gehn.

Jetzt, während alle Gedanken in ihm, dem Kommenden zustrebend, doch angstvoll vor unsichtbaren Widerständen zurückprallten, tastete seine angereizte Phantasie nach der Schmerzgestalt der Mutter; die aber entzog sich, schwand, und statt ihrer sah er zum ersten Male Cordelia.

Alles sah er. Ein Zimmer. Auf einem ovalen Tisch eine brennende Petroleumlampe; davor einen Berg Wäsche; und daneben – sie, an einem glänzenden Kleide nähend, das über ihren Schoß hin lag, und sie trug ein niegesehenes, loses, morgenrockartiges Kleid, unordentlich; und vor dem Wäscheberg lag ein aufgeschlagenes, vom Zusammenrollen verbogenes Heft, aus dem sie lernte, – ja, er sahs, alles, und nur eins sah er nicht, obgleich er sich bemühte: ihr Gesicht, – nur das Braun vom Haar, undeutlich. Aus der Erscheinung aber glühte es ihn an, daß ihm heiß wurde und heißer: ihr Leben, ihre Tage und Nächte, der endlose Kampf, die brennende Sehnsucht, die Hülflosigkeit am Abend, immer wieder Unverzagtheit am Morgen, immer Hoffnung, Hoffnung, Erwartung, heute, wieder heute, hundert, tausend Heute der gleichen Mühsal, und immer Enttäuschung, immer Entsagung, Verzweiflung, Ratlosigkeit, neue Kraft, neuer Wille, und wieder umsonst, und Arbeit, Arbeit, nächtelanger Fleiß, die ganze unselige Inbrunst, die rasende Erwartung, das Nichtmehrwartenkönnen, das verzweifelte Weinen, der Jammer grenzenlos. Er sah ihre zerbrochene Seele, daliegend entstellt wie eine ausgerissene Pflanze. Alles einst Strahlende, innerst immer noch mit wütender Glut sich Wehrende, in trostlosen Zimmern zerstampft, verschüttet, – ein ewig währender Schmerz in der Brust, wie die Andre ihn im Kopfe trug, wandelnd Beide mit feuergefüllten Becken im lebendigen Fleisch … Und wieder sah er sie eintreten in das schöne Tor, in das leuchtende Schloß, betäubt von Ehrfurcht, zum Kinde geworden vor unsäglichem Staunen, – doch schob sich selbstwillig ein andres Bild dazwischen, das sich nicht verdrängen ließ: die erste Nacht, ihre fast unheimliche Scheu, die dann jählings umschlug in überschwängliche Wonne, Tränen der Wonne – weshalb? Er wußte es nun, verstand nun die Verzweiflung der jahrelang verfälschten Lust, die zum ersten Mal doch endlich sie selber sein durfte, hinströmend in der Umarmung des Geliebten. – Der Brief, ihr Brief mit ihrem Leben brannte auf seiner Brust, und plötzlich, alles Denken fortkrampfend, riß er ihn heraus, ging auf seinen Vater zu, sah ihn ihm entgegenblicken und blieb zaudernd stehn.

»Nun, mein Junge, was hast du?« fragte er weich.

»Ich? – Ich, Vater, ich hatte – zwei Tote in diesem Jahr. Und – – wenn du dies vielleicht lesen möchtest …« Er gab ihm die Briefe, den kurzen und den lebenslangen, setzte den Leuchter näher herzu, warf sich dann selber in den Sessel am Ende des Tisches, legte den Kopf in die Hand und schloß die Augen.

Er wollte nicht denken. Er ließ Wortgebilde, Begriffe, Sätze, Bildstücke in sich herumlaufen, sinnlos und leer, immer wieder zurückprallend mit der inneren Woge von den Briefblättern, die er hin und wieder leise knistern hörte, immer wieder hineingezogen, zu dieser Stelle, zu jener, an welcher sein Vater jetzt halten mochte …

Sie war glücklich das Halbjahr, dachte er, und doch hatte sie noch eine Hoffnung über das Glück hinaus, mußte noch immer hoffen – hoffte, fruchtbar zu sein – ein Kind … War es diese Sehnsucht, die sie dermaßen befeuerte, die Nächte so glühend machte, Nächte – jede wie eine Traube, und jede Beere eine Zelle von Rubin, in der sich Götter umarmten, daß die ganze Traube erdröhnte … Ach, nein, ihre Hoffnung war leise, blühte auf in den stillsten Stunden des Einsamseins, war ein Duft, ein Glück über dem Glück, denn nur das Glück ist ganz süß durch und durch, über dem noch ein andres Glück schwebt …

Georg wartete noch, wartete, wieder leer, ertrug es endlich nicht mehr und sah nach seinem Vater. Der saß groß, aufrecht zurückgelehnt. Die Blätter lagen auf dem Tisch. Nun kam sein Blick herüber. Georg sah die nahstehenden Augen, verschleiert, sehr weich, und der Blick durchschmolz seine Brust, so daß er sich plötzlich schämte und die Augen abwandte.

»Sie ist tot?« hörte er fragen.

Georg nickte. »Ich habe sie gesehn«, sagte er dann. »Sie lächelte. Es läßt sich nicht sagen. Aber – sie war ganz drüben – und wußte – alles.«

Es war still.

»So ist es überall das gleiche«, sagte der Herzog langsam. »Abgrund. Dich dachte ich nicht so nahe daran. Aber – du hast es überstanden?«

Georg konnte nur den Kopf neigen, wieder und tiefer beschämt, als werde er belohnt für eine Leistung, die ein Andrer ihm abgenommen hatte … Ich habe ja nichts getan! dachte er.

Indem vernahm er wieder die Stimme seines Vaters.

»Siehst du, – einmal … du warst noch ganz klein – standen wir dort, zu Zweien, in der Neujahrsnacht. Und da –« Er stockte, räusperte sich, hustete und fuhr fort. »Hast du je empfinden können, was sie gelitten hat? Später wurde es ja wohl besser, das Dunkel tat wohl, die Gewohnheit … Aber dies Dasein! Ihr Geist, ihre vielen Gaben – so verurteilt! Aber – der Anfang! Sie schloß sich ein des Nachts. Ich konnte nicht zu ihr. Da habe ich – nächtelang – vor ihrer Tür gelegen und gehorcht. Und sie wimmerte, sie – kannst du dir das – denken? Ich glaubte, ich könnte ihre Zähne aufeinander schlagen hören. Ich hörte sie hin und her irren und leise jammern, minutenlang, Worte stammeln, schnell, immer schneller, bis es immer lauter wurde und sie aufweinte. Dann wurde es wieder leiser, hörte ganz auf. Und dann fing es wieder an. Und endlos. Heulen hab ich sie gehört. Sie, diese –, sie …

»Und dann – einmal – standen wir dort. Der Vorbeizug war vorüber, sie taumelte auf mich zu, wir waren allein, sie bohrte ihre Stirn gegen mich und schrie: Ich kann nicht mehr! – Dann riß sie sich los und lief auf den Altan. Ich weiß nicht, wie ich sie noch einholen konnte, und dann, – dann wollten wir Beide hinunter. Ich – ich war jung, und gelähmt, und dazu sie … Ich wollte auch nicht mehr können. Plötzlich sah sie mich an, ihr verzerrtes Gesicht glättete sich sonderbar. Sie sagte: Merkwürdig … nun ist es weg. – So stand sie lange, lauschte und wartete, schüttelte den Kopf und wiederholte: der Schmerz sei weg. Wir weinten wohl zusammen und dachten eine Weile, er sei wirklich und für immer verschwunden. Ich weiß noch: sie lächelte wieder und meinte, es wäre wohl wie beim Zahnarzt: wenn man die Treppe zu ihm hinaufstiege, sei der Schmerz fort. Ich hielt sie noch, und dann merkte ich auf einmal, daß sie schlief. Ich hab bei ihr gesessen, sie schlief bis zum Morgen. Da war der Schmerz wieder da …«

Georg hatte zugehört, in Siedehitze getaucht vom Kopf zu den Füßen; seine Hand war feucht, als er sie von der Stirn löste, doch hörte er nun ein Geräusch, wandte sich und sah Egloffstein gedämpft hereinkommen und sich dem Herzog zeigen, worauf er wieder verschwand. Sie erhoben sich Beide, der Herzog murmelte, es sei Zeit für ihn, – ob er noch sitzen bleiben wolle … drückte Georg nur heftig die Hand und ging hinaus.

Als Georg dann wieder im Stuhle saß, sah er die Zukunft vor sich stehn, unentrinnbar. Er fühlte, daß nichts sich hatte ändern lassen, er hatte weiter und weiter gehen müssen auf diesem Weg, nun nur noch wenig Schritte, und das Ziel war da. Trotz der Angst aber, die es ihm einflößte – oder war das nicht es? – schien ihm alles sehr leer, oder leicht, oder – sinnlos. Das Wirkliche, dachte er, ist doch ganz wo anders. Dies gehört zum Dasein, jenem, in dem man sich kleidet und ißt, arbeitet, einen Beruf hat, Umgang mit Andern, Pflichten. Es ist nicht das Leben.

Und da war es ihm, als befände er selber sich weder hier noch dort. Er lächelte; saß er nicht in der einsamen Nacht zwischen dem ersten Tag des neuen und dem letzten des alten Jahrs? – Er mußte eine Bewegung mit den Händen machen, wie um nach rechts zu tasten und links, das Dasein zu fühlen, dort, und hier das Leben. Da war aber nirgend etwas. Nur die Luft. Es ward totenstill. Und in der Leere konnte er sein Herz sehn wie einen schwarzen Klöppel, der ohne Glocke hing, sinnlos, im Schwarzen der Nacht.


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