Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel: Oktober

Cordelia

Georg, aus seinem Schlafzimmer am Abend hervortretend, wo er die Koffer für Berlin geschlossen hatte, erschreckte sich vor einer geduckten kleinen Gestalt, die im Geisterlicht der Sphäre am Treppenfuß stand: Hesekiel. Ärgerlich auf Egon, der trotz häufigen Tadels wieder einmal zu faul gewesen war, nur die Stufen hinunter zu gehn, um die Kurbel der Hängelampe zu drehn, fragte er: »Nun, was ist denn, Hesekiel? noch ein Brief?« indem er die Schreibtischlampe aufflammen ließ. Ja, Hesekiel hatte einen Brief, einen großen, sonderbar dicken Brief. Als Georg, im Stuhl sitzend, ihn aufschnitt, kam ein ganzer Pack beschriebener Blätter zum Vorschein, um den ein gleichfalls beschriebener Briefbogen geschlagen war; alles Cordelias Schrift. Georg klappte den Briefbogen auseinander und las:

 

»Die arme Seele sendet ihrem Gebieter diesen letzten Gruß.

Glück und Segen! Es ist alles gekommen, wie es beschlossen ward in dem himmlischen Rat, so wird auch das letzte bald geschehen sein. Glück und Segen! Das Bett ist gemacht, bereit steht der Becher, bereit ist die arme Seele. Glück und Segen über das heilige Leben dessen, der dies liest.«

 

Georg flimmerten die Augen. Esthers dunkelfarbiger Schmetterlingskranz um die Kuppel der Lampe zuckte leuchtend und tanzte. Das Herz vom Angstkrampf zusammengezogen, starrte Georg. Das Ende, sagte er, das Ende … Cordelia war … war …

Er nahm das Blatt wieder vor, seine Hände flackerten, er mußte es auf die Tischplatte legen, er las:

 

»Glück und Segen, die arme Seele ist nun nicht mehr da. Wo bist Du, Geliebter? Glück und Segen, ich bin schon den kleinen Fluß hinuntergeschwommen, schon rauscht der ewige Strom, ich hebe noch einmal die wieder verarmte Hand, es rauscht – horch, es rauscht …

Glück und Segen, Glück und Segen!

Im großen, dunklen Meerstrom sind alle Wellen einander gleich. Was macht so dunkel den Strom, so groß, und die Wellen so gleich? Das ist die ewige Liebe. – Doch einmal, wenn Abend ist über der schweren See, die Rose, die himmlische, entfaltet ist an der unsterblichen Brust, so blinkt eine Welle auf ganz fern, die Du kennst, eine lächelnde Welle, die Dich erinnert an: Einmal … Und Du sinnst: arme Seele, bist du's?

Und so gehn die Jahre, so wandert die Zeit. Ist auch Dein Herz nun alt geworden, geliebte Jugend, Dein Haar ergraut, faltig Dein Mund? Die Berge stehn dunkel, so ernst sind die Sterne, nicht mehr lang ist der Weg, schon hörst Du den Strom.

Glück und Segen, das Leben war schön! Sang es der Wind, klang es der dunkelnde Baum? O mein sinkender Freund, es war die arme Seele! –

Viele Menschen kommen herein und stehn um einen Schläfer in friedlichem Schlaf. Da kommt auch die arme Seele mit ihrer Blume und ihrem Dank. Sie hatte einmal die Hände voll Gold – es ist alle geworden. Nun legt sie die kleine Blume auf die erstorbene Brust, ihr Amt ist nun aus, sie wandert ins Meer und vergeht. Wo bist Du, Geliebter?

Gute Nacht, schlafe wohl! Es muß wohl sein. In meiner Brust sitzt eine goldene Schlange, die will seit ewig hinaus, aus der himmlischen Schale zu trinken. Gott ist allzeit gut.

Ich liebe Dich, Geliebter, auch dort, wo Du mich nicht mehr siehst. Das Blatt ist aus, aus ist das Licht, aus ist das Leben. Geküßt tausendmal! Abschied – ich kann nicht mehr – alles gut.

Cordelia.«

 

Georgs Kopf sank langsam vornüber auf das Blatt und lag fest. Als die Umnachtung wieder gewichen war, sprang er auf, riß alle Kraft, die zu erreichen war, zusammen in das Jagen seines Herzens, sah Hesekiel stehn und sagte: »Weißt du, was geschehen ist, Hesekiel?«

»Is ein Unglück geschehn, Herr Doktor?«

»Es – es scheint so, Hesekiel. Sage mir jetzt – kannst du mirs genau sagen: warst du allein im Haus, als du gingst?«

»War ganz allein, Herr Doktor, sell kann i –«

»Wann bekamst du diesen Brief?«

»Gestern abend, Herr Doktor. Gnä Frau gab ihn mir. Gestern abend wars, so um halber acht herum.«

»Und was sagte sie?«

»Sehr lieb und gut war s', wie halt immer. Gab mir den Brief und sagte, daß ich ihn bringen soll, heint, wenn dunkel wär. Ach, Herr Doktor, is am End gar g'storm, gnä Frau?« Hesekiel fing an zu weinen.

Georg legte ihm bewußtlos die Hand auf die Schulter. – »Ich muß sie sehn,« fuhr er dann auf, »ich muß wissen, muß – Hesekiel, sage mir – besinne dich, sage mir: weißt du die – die andre Wohnung von gnä Frau?«

»Sell weiß i net, Herr Doktor.« Georg sah es wieder dunkel werden. »Man könnt am End – am End könnt ma nachschlagen im Adreßbuch …«

Natürlich, mein Gott! das gabs ja, Adreßbuch … Georg lief ins Ankleidezimmer, wühlte Mütze und Mantel hervor, dann stand er wieder vor Hesekiel, sah gleichzeitig den Stoß Blätter noch ungelesen auf dem Tisch liegen, raffte ihn samt dem Brief auf und steckte ihn in die Tasche. Hesekiel nahm er mit sich ins Freie und schickte ihn mit irgendwelchen Worten nach Haus.

Cordelia nicht mehr da! Nicht mehr da, mehr da, mehr da … Das Ende … das Ende … Georg jagte die Allee hinab, über den Platz, auf ein erleuchtetes Schild ›Schloßwende‹ zu, stand dann vor einer Theke, eine Frau gab ihm ein Adreßbuch, er blätterte, suchte, er fand endlich: Severin, Karl, Tischler; Severin, Doktor; Severin – plötzlich, furchtbar deutlich: Severin, V., Privatiere, und C., Schauspielerin, Inselbrückstraße 9, Hinterhaus 2 Treppen.

Georg lief wieder durch schwarze, nasse Straßen mit Laternen. Inselbrückstraße – ganz in der Nähe – Gerberstraße – Inselbrücke – da war die Hartwigstraße, er bog ein … Severin, V., Privatiere … O, sie hatte eine Schwester! – Georg mußte an einer Laterne stehen bleiben und den Schweiß von der Stirn trocknen. Er merkte plötzlich, daß er sich fürchtete. Inselbrückstraße, eine verrufene Gegend … Er schüttelte den Kopf und ging weiter mit lahmen Füßen, dann wieder schneller durch die enge Buchbinderstraße, wo es fast finster war. Er hörte Schritte hinter sich, längere Zeit, plötzlich eine Stimme, die seinen Namen sagte, blieb stehn und drehte sich um. Ein großer, breitschultriger Mensch zog den Hut, es war – war? – Josef von Montfort. Merkwürdig sah sein Gesicht aus …

»Aufs höchste entzückt, lieber Prinz! Sie erinnern sich doch meiner?« Der fast schmerzhafte Händedruck brachte Georg zu sich. »Ja, da streift man so herum durch abenteuerliche Gegend, und da findet man die Erlauchten. Aber – mein Gott, Prinz, wie sehen Sie aus? Was ist Ihnen?«

Georg fühlte, daß sich ein Arm um seine Schulter legte, daß er weitergeführt wurde, und vergaß sein Erstaunen über die Begegnung vor großer Erleichterung.

»Ich verstehe, ich verstehe schon«, hörte er begütigend hinter sich sprechen. »Ein Unglück, ein Schmerz, eine Tote vielleicht? Kopf hoch, mein Junge, nur ruhig, nur ruhig! Wohin geht der Weg?«

Georg sagte: »Zur Inselbrückstraße. Ich bekam einen Brief. Ich – jemand wohnt dort, der … Ich war nie dort … Ich wäre dankbar …«

»Gewiß, aber gewiß! Nun nur ruhig! Wir werden alles an uns herankommen lassen. Inselbrückstraße – eine böse Gegend. Und die Nummer? Sehen Sie, da ist die Brücke schon!«

Die Brücke, überragt von eisernen Trägern und Balken, lag schwarz im Schein ferner Laternen, umrieselt von leuchtendem Nebel. Georg nannte die Hausnummer. Als sie fast hinüber waren, sah er zu seiner Linken, am gemauerten Flußufer hinunter die Inselbrückstraße, Laternen, dampfend, dunkle Häuser und helle Fenster. Montfort, der die Hand unter seinen Arm geschoben hatte, schwieg. Gestalten kamen, nicht als ob sie gingen, sondern wehten, weibliche, in Pelzen und riesigen Hüten, ein Mann schlich an der Hauswand, zwei weibliche blieben stehen, Georg sah ihre gefärbten Gesichter deutlich im Vorbeigehn. Er hörte Montfort etwas murmeln, fühlte sich angehalten und blieb stehn. Nun bekam er sich wieder fest, las von einem, viereckig um eine Lichtkugel gebogenen Glasstreifen ›Unionkino‹ in roten Lettern und sah eine transparente Glaswand darunter leuchten von Schrift und gemalten Indianern. Daneben war ein schmaler Hausflur und daneben eine große, dunkle Torfahrt mit geschnitzter Tür, über der in einem kleinen blauen Oval deutlich eine goldene Neun erschien. Montfort erfaßte den Drücker und bewegte ihn, die Tür war zu.

»Das war zu denken«, sagte er. »Und dies Haus –«

Indem lehnte sich zu einem offenen Parterrefenster neben der Torfahrt ein fettes Weib heraus, rief: »Man Geduld, meine Herren, ich komme sofort!« und verschwand.

»Um Gottes willen, das ist ein Bordell!«

»Ja, da wollen wir nicht hinein. Kommen Sie, es wird sich anders machen lassen.« Montfort zog ihn zu dem Hausflur, in dem Georg jetzt einen Billettschalter entdeckte. Montfort bezahlte, empfing zwei rote Billetts, sie traten auf einen Vorhang zu, der den Flur versperrte, doch wurde er im selben Augenblick von drinnen zurückgeschlagen. »Erster Platz!« rief eine weibliche Stimme, ein Mann ließ sie eintreten, Georg sah Finsternis, dann einen Lichtkegel, der aus dem Hintergrund breit nach vorn flutete, darunter eine Menge beleuchteter Gesichter, ebensolche gerade vor sich, etwas höher, Stehende, die nun vor ihnen bereitwillig auseinander wichen, da der Mann sie den Gang hinunter führte. Sein Gesicht war Georg plötzlich ganz nahe, indem er sagte: »Einen Augenblick, meine Herren, es wird gleich hell.« Dann ging er wieder nach vorn.

Eine Weile standen sie, und Georg sah das Flimmern und Zucken der schwärzlichen Bildfetzen auf der Leinwand. Dann fühlte er sich an der Hand ergriffen, Montfort zog ihn zu einer Tür, über der ein Licht war und auf einem Pappdeckel ›Erfrischungsraum‹ zu lesen stand. Nun war da ein kleiner Flur mit Türen links und rechts und schräg gegenüber. Auf der linken stand wieder ›Erfrischungsraum‹, über der rechten ›Toilette‹, Montfort trat zu der gegenüberliegenden – ein rotes Licht neben der Aufschrift ›Notausgang‹ brannte darüber –, öffnete sie, sie standen in einem dunklen Hof. In der Nachthöhe hier und da schwebte ein leuchtendes Fenster. In der Rückseite des Vorderhauses waren viele große Fenster hell, und Georg konnte durch ein offenes in einem erleuchteten Raum einen Mann sehn, der sich ein wollenes Hemd über den Kopf streifte, worauf ein gelber Vorhang davorfiel.

Und nun fiel ihm ein, daß er hier Cordelia suchte …

Im Finstern hinten waren zwei wandgroße Öffnungen, in denen es graulich dämmerte. Montfort murmelte etwas von Speichern und dem Fluß, während Georg hinter ihm über das glitschige Pflaster ging. Eine Türöffnung war da, ein Flur, ein Treppenhaus, und auf einmal ein kleiner Lichtkegel, der umher tastete. »Wieviel Treppen?« fragte Montfort; Georg erwiderte: »Zwei!« Sie tasteten sich vorwärts, stolperten über Stufen, dann sah Georg im Lichtschein der kleinen Taschenlaterne das Geländer und die Stufen der Treppe und folgte Montfort hinan, krampfhaft bemüht, zu vergessen, was bevorstand. Das Steigen dauerte endlos, die Hand am Geländer. Endlich stand Montfort vor einer Türe still und sagte: »Wir sind oben.«

Sie mußten unter dem Dach sein. Der Lichtkegel schöpfte aus der Tür ein Porzellanschild heraus, auf dem klar und leserlich der Name ›Severin‹ stand. An der glatt braun gestrichenen Türfläche war nur ein metallener Knopf. Indem erlosch das Licht.

Das dauerte wieder endlos … Anklopfen – Warten – Anklopfen, lauter. Die Schläge dröhnten durch das Haus. – »Wir müssen öffnen«, sagte Montfort. Das Licht blitzte wieder auf und erlosch, Georg hörte rütteln; gleich darauf flog die Tür gegen seine Stirn, daß er zurückfuhr.

»Nun bitte ruhig sein,« flüsterte Montfort, »ich werde vorangehn. Aber da ist ja Licht!« Er zauderte.

Undeutlich quoll das rötliche Leuchten aus dem Hintergrund, wie es schien, über eine Wand empor, die halbhoch war. Im wiederaufleuchtenden Laternenschein gewahrte Georg Schränke, einen Stuhl, ein Sofa, an den Wänden eines kleinen Korridors, dann erlosch das Licht wieder, und Montfort sagte leise: »Ich habe etwas gesehn, warten Sie«, worauf Georg ihn nach links hinüber gehn sah.

Dort – er zuckte zusammen – stand ein Mensch, stand ganz gerade und still; nur den Kopf hielt er tief gesenkt. Darüber war das bleiche Quadrat eines schrägen Fensters im Dach.

»Nein,« hörte er Montfort laut und langsam sagen, »das kann sie nicht sein«, und trat zitternd näher. »Machen Sie doch Licht«, sagte er.

»Man muß nicht alles beleuchten.«

Und nun sah Georg, da das Dunkel sich aufhellte, einen Kopf mit weißlichem Haar, das Genick und eine Schnur, die nach oben verlief. Arme standen seitlich ab. Alle Kraft zusammennehmend, zischte er wütend: »Machen Sie doch Licht!« – Aber er fuhr doch gepeitscht zurück, als er die kleine, in Kleidern schlottrige Figur mit abstehenden Armen und hängendem Kopf dastehen sah, die zwischen Zahnreihen hervorstehende Zungenspitze, das Zahnfleisch, zurückgeraffte Lippen, die lange spitze Nase im weißen Gesicht und nun auch das Weiße in halboffenen Augen, aus denen ein schiefer, listiger Blick zu ihm sprang. Dennoch fiel eine Berglast von seiner Brust. »Das Gespenst«, flüsterte er heiser. Und dann, erklärend: »Ihre Schwester.«

»So, so. Aber was hat sie denn da?« Indem machte der Arm des Leichnams einen Ruck und hielt Georg einen langen Papierstreifen hin. Montfort lenkte den Lichtkegel darauf, faßte das Handgelenk und drehte es herum, fing dann an zu lesen:

»Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.«

Er hatte schön und ruhig gelesen, und als Georg jetzt hinzutrat, konnte er sehn, daß es Cordelias Schrift war. In plötzlicher Kälte und Gelassenheit drehte er sich darauf um, öffnete eine lose kleine Tapetentür und fand sich in einem großen Raum mit zur Hälfte schrägem Dach, in dessen Hintergrund auf einem Tisch ein schöner messingner Tempelleuchter mit einigen halb herabgeschmolzenen Kerzen brannte. Darunter funkelte etwas Blutrotes, ein Glas, und dahinter, an der Wand, stand ein Bett, über das Cordelias schwarzer Seidenmantel gebreitet war, weit, bis auf den Fußboden herab.

Lange Zeit kam Georg nun nicht weiter. In seine Augen brannte der rote Becher, und dahinter zeigten sich unbekannte Erscheinungen: eine Frau in einem dunklen Laden mit einem Kopftuch, ein Schaufenster voller Lampen und Geschirr auf Regalen, ein altes, plumpes Kirchenschiff, – bis er plötzlich, weit rechts von dem Glase, am Ende des Bettes, zwei weiße Füße gewahrte, die gegeneinander gewinkelt emporstanden. Und jetzt zog Cordelias Antlitz wehend vorüber in einem schmerzlichen Gefühl. Er trat näher an das Bett, es waren Umrisse eines Körpers unter den schwarzen Seidenfalten zu erkennen, die stark glänzten. Hier sollte Cordelia liegen … Und dies waren ihre Füße …

Und nun sollte der Mantel von oben aufgehoben werden, dann würde etwas – da – sein …

Georg wußte nicht, wie, doch nun hatte er den Mantel aufgeschlagen, und dort lag ein Gesicht und – es schien Cordelias Gesicht.

Er beugte sich darüber und sah von oben auf zwei festgeschlossene Augenlider unter einer fremden, sehr reinen Stirn, von der das braune Haar zur Seite gestrichen war. Aber dann – ein Schauder, nie gekannt, rieselte durch seinen ganzen Leib – sah er das Lächeln eines Mundes, das ausströmte, mit einem namenlosen Triumph, gegen sein Herz.

Plötzlich war alles in ihm ausgelöscht und vernichtet. Nur das Lächeln noch strömte sich unaufhörlich aus. Das ganze, weiße, weiche, sanft gerundete Antlitz unter ihm schwieg in tiefem Schlaf; schwieg sich in Ewigkeit aus, schwieg, leuchtete ihn an mit grenzenlosem Schweigen. Und auch das Lächeln schwieg, schwieg und gebot Schweigen. Da war nur dieser Mund, der sein Lächeln festhielt; festhielt mit beiden hochgebogenen Winkeln, um nicht auszuhören mit Lächeln, nicht auf-, nicht aufzuhören mit Lächeln.

Und dies war jenseits; jenseits von allem, von jedem Ahnen und jedem Wort. Sie lag und wußte; wußte, daß sie schlief; lächelte, lag, lächelte, weil sie wußte, alles wußte, alles, alles …

Georg wandte sich langsam fort. Hier war nichts mehr. Kein Tod, kein Schmerz, kein Verlust. Nur – Ende. Sie war drüben.

Aber, unwollend die Hände in die Manteltaschen senkend, fühlte er Papiere in der einen und erkannte beim Herausziehn Cordelias Schrift. Längere Zeit verging, während es ihm einfach schien, die Blätter in eine der Kerzenflammen zu halten, allein das Gefühl: Cordelia, jene, die Andre, habe sie geschrieben und für ihn bestimmt, hielt ihn zurück. Nach einem Stuhl umherblickend, hörte er ein leises Geräusch; in der rötlichen Lichterdämmerung des Raumes stand die hohe und dunkle Gestalt Josef von Montforts, der zum Bett hinsah – seltsam, mit einem lebendigen und einem starren Auge, und wie der Länge nach mittwärts gespalten schien sein Gesicht. Georg winkte ihm, näherzukommen, sah ihn herzutreten und vor das Bett, worauf er nach einem Blick auf das Antlitz überrascht zurückfuhr, dann wieder sich überbeugte und in dieser Haltung verblieb, solange, daß Georg, einen Stuhl entdeckend, ihn herbeitrug. Nun stand Montfort wieder aufrecht, den Blick in die Leuchterflammen geheftet, und sagte nach einer Weile wie zu sich selber langsam: »Das war ja fast zum Fürchten …« Dann wandte er sich zu Georg.

»Sie wollen etwas lesen?« fragte er mit Zartgefühl gedämpft. »Ich werde nicht stören. Sie werden mir aber erlauben, daß ich Sie nicht allein lasse in diesem Hause.«

Er neigte ernst den Kopf, und Georg sah ihn auf den Fußspitzen durch den Raum zurückgehn und hinter der kleinen Tür verschwinden, – wobei er sich nun des abscheulichen Leichnams erinnern mußte, der dort hing, doch hinderte ein Streifblick auf den unwandelbar lächelnden Mund alle weiteren Gedanken. Er stellte den Stuhl neben das Bett, setzte sich so, daß er das schlafende Antlitz mit jedem Blick über den Rand des Papiers erreichen konnte, faltete die Bogen auf und las.

 

»In der Haide; im April

Ein ganzer Monat fast ist vergangen, seit ich Dich zum erstenmal sah, und zu einem Entschluß bin ich nicht gekommen. So bin ich hierher gefahren in den kleinen Haideort, dessen wunderlicher Name Cananoë lieblich an Kindheit und die geheimnisvollen Kähne der Indianer erinnert, die man Kanoee nannte. Es ist kühl, windig, der Himmel bewegt – zum Abschied, zum Willkommen? – er selber weiß es kaum, wie es scheint, ob es Herbst ist oder April hier unten in der Welt. Meine Fenster zu ebener Erde im kleinen Bauernhaus gehen auf den Obstgarten hinaus, der noch ganz kahl ist, und ich kann beim Schreiben durch den Raum hinten die braune, kahle Haide zu Hügeln mit schwarzen Wacholderstauden ansteigen sehn, und dahinter den blauen Himmel, in den kleine und größere Wolkenballen lichtweiß unaufhörlich hineinquellen … Und unaufhörlich wechseln Sonnenschein und Beschattung. Zu hören ist nichts als der Wind und fernes Schnattern von Enten.

Und so will ich denn einmal mein ganzes Leben ausbreiten vor mir und vor Dir, denn ich ahne wohl, daß Du einmal diese Zeilen lesen wirst. Ausbreiten wie ein elendes Gewand, an dem alles und alles zerrissen ist. Und muß wohl anfangen mit dem Anfang. Wie soll der Anfang heißen? – Es war eine arme Seele.

(Denn sie war ein paar Jahre im Paradiese der Kindheit und dann immer im Fegefeuer.)

Das Haus, in dem sie geboren wurde, hätte seinem Namen nach das allerheiterste sein müssen, und für die arme Seele, die sieben Kinderjahre darin verlebte, war es das auch. Viele schöne, blondhaarige und schwarzhaarige Wesen in himmelblauen und rosenfarbenen Gewändern waren im Wachen und Träumen um sie her, pflegten sie, badeten und liebkosten sie und lachten beständig, und als sie erst so alt war, daß sie Märchenbücher lesen konnte, wußte sie ganz genau, daß es Feen waren, und sie ein Königskind, alldieweil nur solch eines Feen und Elfen zu Dienerinnen haben konnte, alle Tage Schokolade trinken und Zuckerwerk essen, soviel sie mochte. Dazu gab es allezeit, besonders aber am Abend, eine himmlische, geheimnisvolle Musik zu hören, auch des Nachts, wenn sie einmal aufwachte, Musik und Gesang, Gelächter und Gläserklirren aus den schönen Zimmern und Sälen voller Spiegel und Lampen und kostbarer Teppiche. Und von Allen wurde sie liebgehabt, wurde geküßt und gedrückt, war immer die einzige ihrer Art und führte das wunderbarste Leben. Du verstehst wohl, daß es ein Freudenhaus war. – Ihre Mama, eine große, dunkle Frau mit blitzenden Steinen in den Ohren, war die Herrin, der all die Schönen dienten und zuweilen böse von ihr gescholten wurden. Dann legte die arme Seele sich ins Mittel, es gab Gelächter, und alles war in Ordnung.

Diese herrlichen Tage dauerten, bis die arme Seele sieben Jahre alt war. Da kam auf einmal ein großer Jammer und Aufruhr, die Mama lag ganz bleich zwischen Kerzen und grünen Bäumen, Alle weinten, obschon es sehr feierlich war und nicht traurig, also weinte sie auch. Dann kam ein großer, starker Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, der schon manchmal die arme Seele auf seine Knie genommen hatte, wenn er einmal da war, und gesagt, er wäre ihr Papa. Er gefiel ihr nicht besonders; böse schien er nicht zu sein, aber er roch häßlich und nahm die arme Seele mit fort.

Nun wurde es beinahe noch herrlicher. Die Feen waren zwar weg, aber dafür kamen die Tiere. Alle Tiere aus den Bilderbüchern kamen, waren ganz zahm und fraßen aus der Hand, Pferde, ganze Reihen und in allen Farben, schwarze, braune und weiße, die buntesten Katzen, Hunde aller Arten, vom kleinsten Rehpinscher bis zum riesigen Neufundländer, Affen in bunten Soldatenjacken, ein großes Schwein, eine Menge Gänse, Ziegen und Esel und die ernsten Kamele, und vor allem zwei ungeheure, graue Elefanten. O und auch wilde gab es, die einen durchdringenden, ganz betäubenden Geruch ausströmten und nur durch Eisenstangen gesehen werden konnten, Löwen, Tiger, Jaguare und Leoparden, und das war mit das herrlichste, ganz klein im Dunkel zu stehn und in dem wilden, starken Geruch und sie hinter den Gittern am Boden liegen zu sehn, ganz schlaff wie Häute, aber sie atmeten heftig, und auf einmal, wenn sie den Kopf hoben, erschienen ihre gelben Augen, die eine Weile Ausschau hielten in weite Ferne …

Die Menschen dahier waren mit der armen Seele stets lustig und freundlich, jedenfalls die Männer, die fürchterlich stark waren oder fürchterlich gelenkig; sie meinten es gewiß gut, wenn sie die arme Seele mit einer Hand an die Decke schwangen, aber ihr Geruch war schwer zu ertragen. Die Frauen hier kümmerten sich weniger um die arme Seele, gingen bei Tage grau und mürrisch umher und strahlten erst am Abend, wenn die Vorstellung kam und alles anfing zu glänzen.

Und alle paar Tage gabs eine andre Stadt zu sehn und dazwischen wundersame Reisen in der langen Wagenkolonne. Sind denn alle Wandertage durch das flache Land Sommer- und Sonnentage gewesen? Die wenigsten waren es wohl, aber nun ist da nur ein unendliches Lerchengetriller, unendliches Himmelsblau, sind die gelben Wände der Kornfelder, aus denen man mit vorsichtigen Armen große rote Mohnblumen und blaue Cyanen herausholen durfte, sind die weißen Landstraßen mit den vielen Schatten der grünen Wagen und der Pferde, die kurzen, wunderlichen Schatten, die unter einem fortzogen, wenn man sich abmühte, darauf zu treten, und sind die schmalen grünen Streifen zwischen Straße und Grabenrand, auf denen man sich immer wieder lange, lange bis zum Schreien und Winken der ganz klein gewordenen Kolonne vergessen konnte, im Suchen nach einem Vierblatt unter den aberhundert kleinen grünen Blättern des Klees.

Ein komischer alter Mann war da, der immer kaute, ganz vertrocknet im Gesicht, schief, mit einem Holzbein, ein gewesener Clown, dem einer von den Löwen das fleischerne zerrissen haben sollte, der war ihr Lehrer. Er muß viel mehr Kenntnisse gehabt haben, als die arme Seele damals ahnte; viel später merkte sie erst, was alles sie gelernt hatte, ohne je in eine Schule gegangen zu sein.

Im Zirkus zu arbeiten brauchte sie nicht. Sie hatte sich gleich beim ersten Versuch etwas gebrochen, wobei sich herausstellte, daß ihre Knöchlein zu zart waren für diese gefährliche Arbeit. So wars ein glückliches Leben, und das ›Schönste‹ darin ist noch nicht einmal beschrieben.

Später aber wurde alles immer blasser und farbloser, sie wuchs heran, und eines Tages starb auch ihr Vater. Sie und ihre Schwester kamen damals zu einem Onkel ins Haus, der sie ungern nahm, sich aber später mit der armen Seele ganz gut vertrug, ein strenger, trockner Mann, knochig und wortkarg, der einen kleinen Weißwarenladen hatte in einer süddeutschen Stadt und Guttempler war. Hier ging die arme Seele auch eine Zeitlang in eine richtige Schule, aber dann kam eine böse Zeit endloser Kämpfe und Schmerzen, denn sie wollte nun Schauspielerin werden. Sie hatte schon im Zirkus alle möglichen Dichter und Stücke gelesen, und schon als sie noch klein war, angefangen, die Leute dadurch zu belustigen, daß sie ihnen vormachte, wie sie waren, worin sie es mit den Jahren zu großer Fertigkeit brachte. Und die Kämpfe gingen vorüber, die arme Seele bekam einen Lehrer, und einen andern Lehrer, sie kam in eine andre Stadt, lernte und lernte, und das Leben bestand nur noch aus Lernen und Theater und Theaterleuten, und eines Tages hatte sie ausgelernt, und jeder prophezeite ihr eine glänzende Zukunft. Sie hatte auch schon einen schönen großen Vertrag mit einer guten Bühne in der Tasche, und die lange, lange Qual fing an.

Ja, wie ist das? Man meint, man hat eine feurige Sonne in der Brust, und nun wird nur der Vorhang hochgezogen, und die Sonne strahlt, daß alle Bühnenlampen erblinden müssen. Und wie ist das? Ein Theater ist da, da soll man spielen. Aber da sind Viele, die spielen wollen, für jede Rolle bald zwei und drei, man muß warten, o man hat ja Geduld, die Sonne brennt, es tut weh, aber sie brennt, und man wartet. So spielt man die kleinen Rollen, kommt in ein Zimmer, verneigt sich, giebt die Hand, wie mans gelernt hat, und man wartet und hat viel Zeit, weiter zu lernen und – da sind nun die Männer. Man mag sie nicht, sie riechen schlecht und haben böse Augen und – man wartet vielleicht auf einen, denn – man ist eine arme Seele, die nicht viel weiß von der Welt.

Da geht man zum Feind, der der Direktor ist, und bittet um eine Rolle. O, ja, gewiß, die Rolle ist da, sie wartet schon, der Direktor ist einfach und kühl, und man möchte sterben vor Schreck und Beseligung: die große Rolle!

Da kommen nun die Proben, und es geht ja nicht? Was ist nur, warum es nicht geht? Es ist alles schlecht und verkehrt, was man sich in den langen, langen Nächten ausgedacht und geprobt hat und so sicher wußte, und es sind ja nun auf einmal lauter Feinde da, die lachen und kaum noch antworten, und kaum noch nicken, wenn man grüßt. Der Regisseur ist da, ein Feind, der gerät ganz außer sich über das unmögliche Spiel. Wo ist denn die Kraft geblieben? Wartet nur bis zum Abend, Geduld, es wird besser werden, die Sonne brennt, – aber sie ist so klein geworden, täglich wird sie kleiner und schwächer, sie sieht einer Sonne gar nicht mehr ähnlich, vielleicht war es gar keine? Alle lachen und sehen, wie klein sie ist, Alles und Alle sind kalt, und die Sonne erlischt, man hat die Rolle nicht mehr, man steht auf der Straße.

Oder war es vielleicht nicht so? Vielleicht war es ganz anders? Es ist lange her …

Da ist eine andre Bühne. Da ist ein Freund, ein guter Mensch, nun wird alles gut werden. Eine Rolle ist da, nicht so groß, aber gut genug, um zu zeigen, wieviel heller die Sonne brennt, und es geht ja vorzüglich, der Freund hilft. Alle staunen. Ein Tag kommt, da ist der gute Freund nicht mehr der Freund, er riecht, er ist ein Feind geworden, aber was schadets? Die Sonne ist da, die Sonne genügt.

Der Abend ist da, die Sonne kann nicht ihre ganze Kraft brauchen, aber man sieht sie hell genug, und daß sie heller sein könnte. Man ist zufrieden, man schläft wieder einmal, man hofft – aber was steht denn in den Zeitungen? Es war nichts, es war alles so übertrieben, kein Verständnis für den Umfang der Rolle, in ganz verkehrten Händen, eine Anfängerin, die bescheidener sein sollte …

Sinds denn schon Jahre geworden? War es denn so? War es nicht ganz anders? viel mehr? Wie gingen denn die Jahre? Ging man denn immer spazieren im Park, im Feld, in den Straßen? Nähte man die alten Kleider immer noch einmal um? – sie lachen schon lange im Salonstück, so geht es nicht weiter, mein Fräulein! – Aber meine Gage …

Gage liegt auf den Straßen reichlich genug zum Aufheben. Die arme Seele will die Gage von der Straße nicht, sie wartet, sie hat ja Geduld, sie steht Tag für Tag im häßlichen Zimmer und lernt, für später, die Sonne brennt, sie vertausendfacht ihre Kraft in tausend Gestalten, Alle haben die Sonne in der Brust, sie sehnt sich, sie lernt, sie lernt, sie hungert, sie weint längst nicht mehr …

Ach, kann man das schreiben? Es war ja nicht so, es war ja alles ganz anders. War die Welt etwa schlecht? Warfen sie sich Alle über die eine arme Seele her und wollten sie zerdrücken? Die Welt ist nicht schlecht, die Menschen sinds nicht, es will, sagt der kluge Georg, ein jeder nur das Seine und will sich nicht hindern lassen dabei, aber – die arme Seele hatte kein Glück.

Kein Glück? Es sind Jahre geworden, aber nun ist das Glück da, der Tag ist da, der – Tag ist. Eine Rolle ist da, und alles geht sehr schnell, eine Aushilfe, der Direktor zuckt die Achseln, aber man kann ja die Rolle, im Schlaf kann man sie, und man spielt, und die Sonne brennt und strömt aus Augen und Kehle, aus den Gliedern, und dann – am Morgen nach dem glückseligen Abend, wo sie Alle ihr um den Hals fielen, der armen Seele, und sie küßten und weinten, und sie kaum schlief vor Trunkenheit – was steht in den Zeitungen der kleinen Stadt? O welche Empörung! War das nicht Babel? War das nicht abscheuliche Realistik? (Und war doch nur Stil gewesen, nur Stil, so dumm ist die kleine Stadt!) Die Welt war nicht gut am Morgen, die Menschen hatten alles vergessen, was die arme Seele für unvergeßlich gehalten, in den Zeitungen stand, daß man es vergessen müßte, der Direktor war ja nicht unfreundlich, es tat ihm leid, aber – Sie sehen, Severin, Sie sind nicht für hier …

Aber die Sonne, ein Widerglanz, ganz klein saß er doch in einer Zeitungsspalte, ein Keim, der aufging, und da war man in einer andern Stadt und spielte sich aus, das Glück war da, die Sonne brannte, brannte sehr schön im klassischen Stück. Aber im klassischen Stück war das Parkett leer, im Salonstück saßen die Offiziere und Damen, – die Toiletten der Severin waren unmöglich, und waren doch so schön, wie die größere Gage erlaubte, die Sonne brannte …

Warens schon viele Jahre?

O der wahn–witzige Durst! O die wütende Sehnsucht! O die Verzweiflung! All die vergebene Arbeit und Müh! Man ging wieder spazieren. O brennende Nächte, Fleiß, Fleiß, Fleiß, und Darben, die arme Seele wurde mager und häßlich, was schadete das, sie wartete auf den Tag, sie hatte keine Sorge mehr um Hunger, um Scham und Verzweiflung, wenn eine Rolle kam und ihr wurde ein Hemd angezogen, das reichte kaum zu den Knien, und die Stimme des alten Feindes sagte: Sie müssen wohl selber sagen, Severin, mit den Beinen … Tage und Nächte. Alle Bücher gelesen, alle Rollen studiert, alle Werke, Geschichte, Kostümkunde, Biographien, die Sonne brannte, ein Morgen kam, grau, grau, sie war allein, kein Licht mehr.

Schon viele Jahre …

Da kam ein Mensch. O zart, o schön und ganz sanft wie ein Engel. Sein Blick durchbohrte die arme Seele, er war rein. Verkündigung, dachte sie, o Engel, bist du's? Ein Dichter, er hatte ein Stück geschrieben, Theodosis, das wurde aufgeführt, die arme Seele sollte spielen, sollte sagen:

Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern
Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt
Die Erde, ja die Erde klingt, die alte.
Wir sind geliebt, wir Menschen sind geliebt,
Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken,
Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen …

Und da – gnädiger Gott! – war die Erwartung zu groß? Wars schon zuviel? Da erkannte die arme Seele, daß sie all die Zeit noch ein andres Leben mit sich getragen hatte, geheim, von dem niemand wissen durfte, aber Er, Er mußte es wissen, er würde nicht richten, sie dachte: du bist rein, alles ist rein vor dir, auch dies Leben. Er war rein, aber er war zart. Er ertrug nicht den Anblick, er ging fort. Keiner erfuhr, wohin. Als Jahre dahin waren, konnte die arme Seele in einem Zeitungsblatt lesen, daß im Walde eine Leiche gefunden war.

So furchtbar war ihr andres Leben … Ich zeige es auch Dir.

Erlosch die Sonne? Das Stück ward nicht gespielt, die arme Seele brach durch.

Nein, es kam ja das Glück. Wie hatte der große Mann von ihr gehört, in der königlichen Stadt, vor dem die Könige spielten und in Gold und Seide gingen? Wie konnte denn das Firmament sich neigen wollen? Die arme Seele sollte dort hinauf, die Sonne sollte vor Allen brennen, der große Mann wollte es. Die Seele war nicht gebrochen.

Die Sonne brannte, es war ein alter Vertrag, in dem stand: noch ein halbes Jahr, die arme Seele wollte ihn halten. Weshalb? Sie hatte zuviel Geduld gehabt. Der große Mann würde warten, noch ein halbes Jahr, die Sonne brannte, der große Mann wartete nicht.

Aus wars mit der armen Seele. Abend und Nacht und Morgen, die Sonne war aus, aus war das Leben.

Nun, wie war es denn? Warum saß die arme Seele im Theater wieder wie jeden Abend? Freilich, sie war nun zufrieden mit allem, sie wußte, lange dauerte es nicht, die Menschen waren ganz fern, der armen Seele war leicht, die Menschen hatten sie glücklich gequält.

Sie hatten mich glücklich gequält, Georg, und an diesem Abend kamst Du.

Deine Augen sagten: bist du's? Deine Augen sagten: steh auf! Deine Augen sagten: geh voran, ich komme.

Eine Brücke. Wo warst Du, Georg? Glück und Segen, dachte die arme Seele, er kommt, etwas soll noch sein. Und kommt er nicht, so ist hier die Brücke, das Wasser ist unten, es geht ja schnell.

Glück und Segen, geliebter Herr, und höre nun von dem anderen Leben!«

 

Georg – sein ganzes Blut lag ihm im Innern, zu einem glühend kochenden Klumpen geballt – sah sich jetzt aufstehn, zur Wand gehn, die Arme dagegen legen und den Kopf auf die Arme und – – nein. Nahe vor ihm lag ein schlafendes Gesicht, die Augen fest geschlossen, aber der Mund lächelte vor sich hin, hatte nicht aufgehört zu lächeln, schwelgte im Lächeln und wußte, wußte …

Er sah auf das Blatt. Da war wieder der siedende Katarakt, an dem er eben gestanden hatte, war diese Feuersbrunst von Leiden, die in seinen Ohren leiblich getost hatte, dies Gigantengehämmer der Qual. All dies in Cordelias Brust, seiner Cordelia, der immer heitern, immer kindlichen, seligen, immer – nein, einmal war der Schmerz ausgebrochen, das Untier, aufbrüllend, alles zerfetzend mit dem Hieb seiner Pranken, einmal … Einmal ist nichts, und hier war das Lächeln.

Georg nahm die Blätter wieder vor und las weiter.

»Du hast gesehen, Georg, daß die arme Seele eine Schwester hatte, und hast sie wohl abstoßend gefunden. Da die arme Seele selber sie kannte vom ersten Blick des Lebens, war sie die Häßliche immer gewohnt. Und diese Häßliche hatte ja auch das ›Schönste‹. Das ›Schönste‹ war vom ersten Bewußtsein des Lebens an, später erst lernte sie, daß die Schwester es hatte, daß es sich von ihr immer bekommen ließ, und noch später, daß es sich nur von ihr bekommen ließ, und daß niemand sonst davon wissen durfte; und noch viel später endlich, daß es kein ›Schönstes‹ war, sondern …

Wenn die arme Seele kaum in ihrem Bett lag am Abend, das Licht gelöscht war und Alle gegangen, die beim Auskleiden und Waschen geholfen, gescherzt und gelacht hatten, dann ging leise die Tür, die viel ältere Schwester kam herein und stieg zu ihr ins Gitterbett, und dann …

Laß, Georg, laß! laß doch los, Georg, ich kann ja nicht!

*

Seltsam! Als ich die letzten Worte schrieb, wars Nacht, es ging schon auf Morgen, ich legte mich und schlief bald. Nun ist auch Morgen und Mittag gewesen, ich habe wieder eine Stunde geschlafen, und plötzlich ist alles verwandelt. Ich weiß so viel, alles glaube ich zu wissen, ich glaube, ich darf …

Es ist fast, als hätte ich Dirs gesagt. Du hast ja verstanden, Georg, Du bist ein Mann – Männer verstehen ja solche Dinge, auch wenn man sie gar nicht meinte, also hast Du verstanden.«

Georg sah die Tote an. Ja, sagte er, ich habe verstanden. Aber –, – er wußte nicht weiter. Er las.

»Nein, nichts habe ich Dir gesagt, ich weiß es, und doch – ich glaube, ich darf. Auf einmal ist auch das Gewebe fertig, an dem ich so lange gesponnen habe, ohne es zusammen zu bringen, das ich meiner Schwester überwerfen kann, damit sie mir ein halbes Jahr läßt. Ein halbes Jahr, das genügt, und mehr ist unmöglich.

Ein halbes Jahr Glück. Mir ist eingefallen, daß ich ja die Sonne habe. Zwar ist sie eigentlich so beschaffen, daß sie nur vor Vielen brennt, aber ich denke, sie wird sich nicht versagen.

Ich will kommen und will spielen, Georg. Wundersam, nicht? daß man sagt: spielen. Ein halbes Jahr, ich bin glücklich, bins schon, ich brauche nichts zu erfinden, nur die Lüge muß ich verbergen, nur dazu ein wenig Spiel; und ein wenig, wenn es – wenn es einmal schwer ist, zu spielen. Oh ja, nun werde ich spielen!«

Georg fühlte die Glut auf der eigenen Stirn. – Also das wars? Sie hat gespielt und gelogen, und ich habe gelogen, wir Beide. Oh Gott sei gelobt, daß ichs getan habe! durchfuhrs ihn, ich hätte ihr am Ende noch das Letzte zerstört.

Er suchte die Zeile, wo er aufgehört hatte, wieder und las:

»Ein halbes Jahr – und dann der Tod. Ein halbes Jahr lügen und dann die Wahrheit. Ich sehe das halbe Jahr, es glänzt; und ich sehe die Stunde, wo Du dies liest. Weißt Du nun alles, Georg? Richtest Du, wie der Arme, Zarte nicht richten konnte und doch zerbrach und hinging; tragen wollte und doch nicht konnte und vielleicht anfing, die Sterne abzuzählen auf das Rechte, und steht noch heute und findet es nicht heraus … Weißt Du noch den Anfang, vor einem Monat, weißt Du nun, warum Du mich gar nicht verstehen konntest? Weißt Du, wie ich in Deine Tür kam und vor Staunen verging?«

Georg sah und wußte alles. Ihre Andacht, ihre grenzenlose Beklommenheit, und wie sie am Boden kniete und sagte: »Ich bin dein eigen« … Und dann, in der Finsternis, am Wasser, wie sie heraufgestiegen war, auf den Knien lag und aufseufzte den einen tiefen Seufzer, und dann lag und weinte und aufstand, fortging und nicht mehr kam … Dann hatte sie einen Monat gerungen, dann kam das halbe Jahr, – und er hatte nichts gewußt. Sie hatte die Hölle unter ihre Füße gestampft und stieg herauf, wie ein Engel rein, sie … Georg faßte behutsam den Mantel und zog ihn über ihren Gliedern fort, bis zu den Knien, sah leise schaudernd die weiße, im Kerzenschein nicht abgestorbene Haut ohne Makel, wie er sie gekannt, legte den Mantel wieder darüber, das Lächeln ihres Mundes scheuchte ihn ganz zurück, er gewahrte die Blätter in seiner Hand und las, entschlossen, zu Ende zu kommen.

»Genug, Georg, genug. Ich weiß nicht, was Du denkst. Vielleicht denkst Du jetzt, ich hätte sprechen sollen. Vielleicht verstehst Du es gar nicht, denkst, ich hätte es versuchen sollen, hätte den Tag herankommen lassen sollen, wo mein Vampir vor Dich hingetreten wäre und ausgeschrien hätte, was … Vielleicht verstehst Du auch mich nicht, daß ich dem Vampir so habe erliegen können, so in seiner Gewalt blieb … Ach, fünfzehn Jahre unwissender, solcher Gewohnheit – und nichts ist mehr zu retten. Tausend Versuche, und kein Erfolg; aus seinen Krallen gab es … wozu? Töten – nicht wahr, Georg? das denkt sich so einfach und nah für den Fernen, aber ich weiß, daß man dazu geboren wird oder anders nicht dazu kommt – vor dem eigenen Tod.

Ich komme, Georg.

So war das Ende der armen Seele doch beschlossen auf der Brücke, als sie auf Dich wartete und dachte: entweder – oder. Nur ein wenig hinausgerückt wars, weit genug, um es ganz vergessen zu können für ein halbes Jahr.

Ach, und eine kleine Hoffnung ist noch. Soll ichs noch sagen, Georg?

Ein Kind, Georg, ein Kind. Dann, oh dann, weiß ich, ist alles gut, ist alles andre wie abgerissen, dann ist nur das eine, nur es, das Kind, Tod und Leben ganz gleich, nur nötig das Leben, weil es lebt. –

Ich bin müde, die Welt wird dunkel, ich werde wieder schlafen. Diese Blätter hebe ich auf bis zu dem Tag, wo Du alles wissen mußt. Ich sehe die Zukunft nicht, alles was ich sehe, ist die Sonne in meiner Brust, und daß sie brennt, alles was ich will. Gute Nacht! Ich komme.

*

Heut war der Abend, an dem ich vor Dir Theodosis spielte, zum erstenmal ganz: spielte. Das Halbjahr ist um, das Zeichen war da, es soll nicht mehr sein. Wie es kommen wird, mag sich zeigen, von heute an ist Abschied.

Glück und Segen, geliebtes Haupt, es war wunderbar! Glück und Segen, die arme Seele ist nicht sehr betrübt, obgleich es schwer ist, von Dir zu gehn. Das Ziel ist erreicht, mir ist nicht bange, ich werde gar nicht mehr spielen brauchen die letzte Zeit. Alles hat sich so geglättet, all das viele Leid …

Es ist doch alles nur Liebe gewesen. –

Und vielleicht – auch wenn ich aus dem roten Becher getrunken habe – nimmt es noch kein Ende mit ihr.

Dann werd ichs wissen.

Erhalte mir Dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben!

bittet
die arme Seele
Cordelia.«

 

Georg legte die Blätter leise zusammen und erhob sich. Es war still. Er suchte in sich, die tiefgebrannten Flammen der Kerzen im Blick. Er versuchte, zu begreifen, daß hier Tod war, und was das war: Tod? Aber er fand nur eine unerkennbare Fremdheit. Nicht Angst, nicht Grausen, nicht Schmerz, – nur eine feierliche Schwere, die nicht drückte. Er heftete noch einmal die Augen auf das Lächeln der Toten, zog schnell den Mantel darüber hoch, nahm das rote Glas an sich, löschte dann eine nach der andern die Flammen und ging leise durch den Raum auf den Lichtspalt der Türe zu, jetzt merkend, daß von dorther der Geruch des brennenden Tabaks kam, den er schon längere Zeit unbewußt wahrgenommen hatte.

Josef Montfort wandte sich im Stuhl um, in dem er, den Rücken der Tür zugewandt, in der Nähe eines Sofas saß, das an der Wand stand. Er rauchte, an der Erde stand eine Kerze im Blechleuchter, ein Wasserglas mit rötlichem Bodensatz und eine Flasche Wein. Es hätte behaglich ausgesehn, wenn nicht auf dem Sofa der weibliche Körper gelegen hätte; allein als Georg, Ekel und Schauder, die heftig in ihm aufstiegen, überwindend, hinzutrat, war auch hier nichts Abscheuliches mehr. Montfort hatte der Toten die Hände zusammengelegt, sie lag grade, die Augenlider waren geschlossen, die Zungenspitze verschwunden, der Mund geschlossen, sie sah müde, friedfertig und gut aus. Montfort zeigte ihm alles deutlich, indem er die Kerze hochhielt und leuchtete. Dann gab er ihm auch den Zettel in die Hand, den die Tote gehalten hatte, und Georg steckte ihn in die Tasche zu dem übrigen. –

Leben wir, so leben wir dem Herrn … Dem Herrn? dem Herrn? Nun gleich, das Wort enthielt ja wohl alles, und wenn Cordelia es für die Schwester geschrieben hatte, so war auch hier alles geschehn.

»Wollen wir gehn?« fragte er Montfort. Der nickte, ließ ihn voran bis zur Tür und löschte das Licht.

Die Taschenlaterne leuchtete ihnen nach unten. Im Hof fiel es Georg ein, daß sie kaum würden aus dem Hause kommen können, doch zeigte Montfort, ehe er etwas sagen konnte, einen Schlüssel, lächelte ein wenig mit einem Auge und sagte: »Ich sorge für alles.«

Auf der Straße, überm Fluß brauten Nebel und nächtliche Dämmerung. Die Laternen waren erloschen. Montfort warf das Ende seiner Zigarre über das Geländer, die rote Flugbahn erlosch, er sagte, Georg unter den Arm nehmend:

»Ich muß Sie um einiges bitten, lieber Freund. Erstlich, zu vergessen, daß Sie mich hier sahn, jedenfalls vor jedem, der mich kennt. Ich weile unbekannt hier. Zweitens sich nicht weiter zu wundern, daß Sie mich trafen. Es dürfte Ihnen ja kaum unangenehm gewesen sein. Mich selbst wundert es durchaus nicht, da ich seit Kindesbeinen, möchte ich sagen, die Gewohnheit habe, an Stellen aufzutauchen, wo sich das Fürchten lernen läßt. Gelernt habe ich es leider nie. Das Unglück meines Lebens. Nun – ich hoffe, wir plaudern ein ander Mal darüber. Sehen Sie, da sind wir über die Brücke. Übrigens – mit Ihrer Erlaubnis würde ich nichts dagegen einzuwenden haben, wenn Sie mir ein Bett anböten für die Nacht; bis zu dem meinem wäre es verteufelt weit in Anbetracht der Stunde. – Ja, noch etwas: mein Gesicht. Sie haben vermutlich bemerkt, daß etwas damit nicht in Ordnung ist. Nun – auch darüber werden wir plaudern, wenn uns das Leben wieder zusammenführen sollte, was, wie ich hoffe, in für Sie weniger schwerer Stunde der Fall sein wird.«

Georg, willenlos übergossen von der plätschernden Suada, blieb nun stehn, da sie bei der ersten Laterne angelangt waren, blickte Montfort an, blickte zu dem Glaskäfig auf, in dem der Glühstrumpf atmete, und dachte: Habe ich denn nun alldas geträumt? Wann stand ich denn schon einmal neben einer solchen Laterne? War das nicht – als ich Renate zum ersten Mal sah? – Er zuckte zusammen. Seine linke Hand fühlte die Papiere in der Tasche, seine rechte das warme Glas. Kein Traum. Cordelia war tot. Aber auch kein Schmerz kam hoch in seiner Brust; im Dunkel wehte es auf, lächelte tief, und entschwand. Georg ging weiter.

Allein! sagte jemand tonlos in seiner Nähe; allein, allein, allein.

*

Hier enden des fünften Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.


 << zurück weiter >>