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Viertes Kapitel

Nachtstraßen

Am Tische sprach der Staatsanwalt, einen Ellbogen auf der Schulter seines Bruders, eindringlich in ihn hinein. Cora schien Josef Montfort völlig mit Beschlag belegt zu haben. Dessen Freundin saß einsam auf dem Sofa, aufrecht, und machte muntre Augen, um ihre Teilnahme zu bezeigen.

»Georg, ich bin ganz hin!« erklärte Cora, als er sich niederließ. Zum Umfallen müde wäre sie, sagte sie. Georg sah Josef mit seiner Freundin einen Blick des Einverständnisses tauschen, die Brüder lösten sich voneinander, und alle brachen auf. Cora, die schon fertig angezogen war, ging allein voraus, aber Georg half erst der Cornelia in den Mantel und beeilte sich weiter nicht mit seinem eigenen Mantel und Handschuhn; auch als sie später draußen zusammen standen, hielt er sich abseits. Die Nachtluft war kalt und feucht; Platz und Straßen waren noch immer oder schon wieder schwarz vor Nässe. Georg sah nach den Sternen, aber der Himmel war unsichtbar über den leise schwankenden Bogenlampen. Nach der Bahnfahrt, der Wandrung mit Bogner, nach Josef Montforts ungeheurer Beredsamkeit fühlte er sich nun schwer müde und gähnte heftig.

Mit einem leisen Widerwillen sah Georg jetzt Cora neben Josef Montfort, fegend mit ihren Röcken, über den Platz gehn. Josef, im kurzen, hellen Mäntelchen, hatte den steifen Hut so nach vorn gerückt, daß der Hinterkopf hervortrat; dazu stieß er hinter sich den Stock mit hoch gegen die Hüfte gezogenem Ellenbogen auf, – eine absichtliche, schofle Lebemannshaltung, wie es schien. – Das große, hell erleuchtete Zifferblatt der Normaluhr zeigte halb ein Uhr. Abseits von den Brüdern stand die Cornelia Ring, in ihren Scharlachmantel geschlagen, den großen Kragen schön hinterm Kopf, Josef nachblickend. Bei ihrem Anblick erschien Georg Renate; es stach in seiner Brust; dann merkte er, daß der Satz: Auch der Toilettenmensch hat Weib und Kinder ... ihm unablässig wie ein Vers von Morgenstern durch den Kopf zog.

Montfort kam plötzlich eilfertig zurück, rief: »Die gnädige Frau will zu Fuß gehn! Frau Ring, wir bringen Sie alle nach Hause!« drehte wieder um und gesellte sich zu Cora.

Die Brüder folgten, leise sprechend, und Georg schloß sich mit Cornelia hinter ihnen zusammen. Sie gingen eine Weile schweigsam; Georg mußte heftig und heftiger gähnen, während das Mädchen leichten Ganges neben ihm schritt, den Kopf grade und frei auf dem festen Halse. Er lugte von der Seite schläfrig nach ihrem Profil, sah die runde Stirn, das straff zurückgestrichene Haar, die vorgewölbte Oberlippe, den dunklen Blick des Auges und erinnerte sich, auf der Suche nach einem Gesprächsstoff, daß sie die wenigen Worte, die er sie sprechen gehört, mit undeutschem Akzent – zumal den R-Laut – betont hatte. Zum Sprechen ansetzend, mußte er wieder gähnen, sie sahs und lächelte, und er sagte, mitlächelnd, hastig:

»Entschuldigen Sie nur, – ich habe die Bahnfahrt noch in den Gliedern, und dann – dieser Montfort betäubt einen ja wie – ich weiß nicht was, – aber bitte, – wenn ich fragen darf ... Sie sind keine Deutsche oder –?«

Sie schüttelte den Kopf und lächelte wieder.

»Nur so halb und halb,« meinte sie.

»Polin vielleicht?« schlug Georg vor.

Sie lächelte. »Nein, das ist nun grade falsch, obgleich ich sonst alles Erdenkliche bin. Mein Vater war Deutscher, aber aus Ungarn, und seine Mutter war Ungarin. Meine Mutter aber ist Spanierin; sie lebt noch da, und ich bin dort aufgewachsen. Da lernte ich Deutsch und Spanisch zugleich, aber – meine Großmutter war wieder Holländerin ...«

»Ei, dann sind Sie ja ganz international!«

»Ja, leider ...«

»Leider?«

»Ja, man fühlt sich doch so heimatlos. Spanien kenne ich kaum, mit vier Jahren kam ich von dort weg. Nun, am meisten gehöre ich wohl doch zu Deutschland ...«

Um ihr gefällig zu sein, murmelte Georg, Herr von Montfort komme einem ja auch so international vor.

»Wieso?« fragte sie halblaut, das Gesicht zu ihm drehend.

»Nun – ich meine, nicht wahr? – finden Sie nicht auch: wenn man ihm zuerst in Italien begegnete oder sonstwo – würde man ihn nicht für einen Italiener halten – oder Spanier oder – –?«

Sie sah wieder gradeaus, wo zehn Schritte vor ihnen Bogner und sein Bruder gingen. Er habe wohl recht, meinte sie leise. Nach einer Weile setzte sie verloren hinzu: »Er will ja nun auch fort ...«

Da schien Georg, indem sie eben unter einer Laterne einhergingen, im hellen Licht ihr Auge merkwürdig heiß und glitzernd. Sie zog die Oberlippe in den Mund. – Was hat sie nur? dachte Georg, während ihr Anblick von vorhin, wie sie auf dem Sofa saß und weinte, ihm wieder gegenwärtig wurde, – will er ohne sie gehn? – Die Straße mit fernen Laternen lag wieder dunkel vor ihnen, dahinter der Thielplatz, rötlich leuchtend von Bogenlampen; an der gegenüberliegenden Straßenseite klappten eilige Schritte. Nun ging auch das Mädchen neben ihm schneller, auf einmal in hastiger Rede.

»Oh denken Sie nicht, daß ich das nicht verstehe,« sagte sie, »ich kenne ihn ja! Wer kennt ihn denn sonst? Was soll er auch hier? Sie wissen vielleicht: die Fabrik geht nicht gut ... ach, das durft ich wohl nicht sagen, aber es weiß ja schließlich jeder.«

Also das war da nicht in Ordnung im Garten, dachte Georg, Bogner hat doch recht gesehn. Das Mädchen fuhr fort:

»Nein, können Sie sich vorstellen, wie er im Kontor sitzt und Zahlen schreibt?« Sie neigte lachend den Kopf. »Oh er ist ein glänzender Kaufmann, wenn er will, er kann ja jeden um den Finger wickeln. Er hat auch viel mehr Kenntnisse, als Sie vielleicht denken, er spricht eine Unzahl Sprachen, wir waren einmal in Ägypten, und er sprach mit den Suahelis oder wie sie heißen ... ja, was wollt ich sagen? so – und alle Instrumente spielt er, und Theater, ja, was wäre der für ein Schauspieler! Er malt auch sehr schön, er hats nun freilich lange schon gelassen, er hälts ja nirgends aus ...«

Da sie schwieg, fragte Georg nach einer Weile behutsam, wohin er denn nun wolle ...

»Ach, wohin?« murmelte sie tonlos. »Nach Sibirien oder Mexiko, was weiß ich?«

Also wollte er sie scheinbar nicht mitnehmen. Ach, dachte Georg erschreckt und mitleidig, da haben wir nun alle gesessen und geredet, und sie hat das Herz voll Gram bis zum Rand. Und ich gehe neben ihr und gähne. Die Menschen sind alle Bestien! –

Cornelia verlangsamte ihre Schritte wieder, da sie den Männern vor ihnen nahe gekommen waren. Ein Automobil kreuzte ihren Weg, innen vollgepfropft mit schreienden Kerlen, und verrauschte brüllend. Sie gingen über den Platz und auf den dunklen Tunnel der Eisenbahnüberführung zu, wo schon Josefs und Coras Schritte schallten.

Sie sprach, als spräche sie mit sich selber:

»Halten kann man ihn ja nicht, er ist das freiwilligste Wesen, – ich weiß bloß nicht ...« Sie verstummte.

»Was wissen Sie nicht?« fragte Georg behutsam.

Sie weinte. Sie schlug den Mantel auseinander, nahm ihre Handtasche vor, holte ein kleines Taschentuch heraus und trocknete sich hastig die Augen. Danach brachte sie alles wieder in Ordnung, richtete den Kopf auf und schritt aus.

»Ich wollte sagen,« begann sie wieder, »ich weiß nicht, was aus mir werden soll. Wenn man sein Leben so ganz auf einen Menschen eingerichtet hat ... Oh es geht mir gut, ich hatte immer, was ich mir wünschte, ich kann ja auch überall hin ... Nur ist man heimatlos,« schloß sie leise.

Georg zermarterte sich den Kopf umsonst nach einem Wort. Ein Mensch wie Montfort paßte freilich schlecht in diese windstille Stadt. Lenau fiel ihm ein, der nach Amerika ging, Kürnbergers Amerikamüder, – aber paßte er nach Amerika?

»Will er nach Amerika vielleicht?« fragte er schließlich.

»Auch – vielleicht,« sagte sie. »Er haßt Amerika. Was er am meisten haßt, ist Geld.« Sie blieb wieder stehn, wandte sich zu Georg und sah ihn mit offenbarem Flehen an.

»Ach, mir ist etwas eingefallen!« sagte sie, »ich weiß nur nicht ... Es ist vielleicht ganz töricht und – und unbescheiden, ich dachte nur ... ich weiß von Ihrem Vater, dem Herzog, Josef gab mir immer seine Jahresberichte, die er doch selbst schreibt, nicht wahr, und nun dachte ich –« Innehaltend, blickte sie jämmerlich zu Georg auf.

»Aber gewiß, gewiß, natürlich!« versicherte er froh und überrascht, »das ist ja ein glänzender Gedanke! Mein Vater –«

»Wir müssen weitergehn,« mahnte sie, selber wieder munter ausschreitend, »da kommt schon die Eichstraße, dort wohne ich.«

Georg fuhr fort zu erklären, daß sein Vater immer auf der Suche sei nach tüchtigen und – gewissermaßen originellen Leuten, die andernorts schwer zu brauchen seien. »Mama sagte einmal, er sei magisch oder magnetisch für solche Menschen, – nun sehen Sie wohl, sein Magnetismus hat sich sogar durch uns erstreckt! Ich schreibe gleich morgen an ihn, nicht wahr? Er weiß sicher etwas.«

»Ach, ich wäre Ihnen ja so dankbar!« versetzte sie aufatmend. »Wenn er nur hier irgendwo im Lande bleiben kann ... Sie sehen ja, wie er ist, für solche wie ihn giebt es keine Gesetze, nein, sie geben welche, und es ist ja so schön, daß es Menschen giebt wie ihn, wie wäre es sonst langweilig!«

Nun lachte sie wieder, sagte: »Jetzt aber still!« und: »Ich danke Ihnen ein andermal! Da ist mein Haus!«

Georg sah nicht weit von ihnen die Vier beisammenstehn. Im nächsten Augenblick waren sie bei ihnen, Cornelia holte ihr Handtäschchen und den Schlüssel daraus hervor, den Montfort ihr fortnahm, um aufzuschließen. Unterdes gaben Bogner und der Anwalt ihr die Hand, Cora nickte fürstlich; sie sagte, Georg fest die Hand drückend, laut und ruhig:

»Wenn Sie mir schreiben, Durchlaucht: Eichstraße 17 und Fräulein Cornelia Ring. Gute Nacht.«

Josef gab ihr den Schlüssel zurück, sie nickte ihm zu und verschwand, nickte dann noch einmal bittend und lächelnd zu Georg durch die dunkle Scheibe der Haustür, während sie drinnen zuschloß.

»Wir wohnen drei Häuser weiter,« hörte Georg den Anwalt sagen und war sehr damit zufrieden. Auf dem Wege dahin sprach niemand mehr; angelangt, bat der Staatsanwalt seinen Bruder zum Essen für den andern Tag, aber Cora fiel mit müder Stimme ein:

»Gott, Herbert! Morgen ist doch die Herzbruchsche Hochzeit! Dann kommen Sie also – ja, wir sagen wohl du zueinander, nun, das machen wir alles morgen – also dann kommst du morgen vormittag zu mir, – ja, Durchlaucht, dann müssen Sie auch vormittags kommen, Herbert, du kannst dich vielleicht früher freimachen. Nein, kommen Sie nur!« wiederholte sie hartnäckig, da Georg abwehren wollte. »Du entschuldigst, Ben – was für ein herrlicher Name! –, daß ich den Prinzen schon vor dir eingeladen habe, aber ich kannte ihn ja schon länger als dich –« sie lachte. »Merkwürdig, nicht, wo du doch mein Schwager bist! Aber ich schwärme für Männer und kann nie genug haben, – das heißt, wenn ich Herbert nicht haben kann, und der hat ja nie Zeit, – du Armer! Also kommt ihr Beide,« schloß sie achtlos, scheinbar aus Schläfrigkeit die summarische Anrede gebrauchend.

Georg bekam eine lange, schlaffe Hand und keinen Blick. Das Ehepaar entschwand.

 

Fahrt

Schweigsam schlenderten sie die Straße zurück. Es begann zu regnen. Georg, am Gossenrande, die Hände tief in den Manteltaschen, fühlte die Schläfrigkeit aus seinem Hirn in die Füße und Schultern gewichen, die leise brannten, auch waren ihm am einen Arm der hängende Schirm, unterm andern das dicke Buch lästig, das ständig aus der Achselhöhle nach unten rutschte. – Das arme Mädchen! dachte er trübe und vergnügt, ihr helfen zu können. Was mochte sie nun eigentlich für ein Wesen sein, daß Montfort mit ihr zusammen lebte, er hier, der, die Hände mit dem Stock auf dem Rücken, sehr groß und aufrecht, den Hut im Genick, neben ihm schritt. Bogner, an der Wand der häßlichen, roten und gelben Häuser hinstreifend, hielt seinen Mantel in den Armen an den Leib gepreßt, blieb aber nun stehn und zog ihn an, während Josef sich umdrehte. Eine Droschke rasselte hinter ihnen heran, und Josef sagte: »Ein Vehikel. Nun wollen wir ins Mulläng rusch fahren.«

Der Maler antwortete nichts hierauf; Georg war unschlüssig. Am Ende konnte er gleich noch ein Wort mit Montfort reden, auch schien seine Gesellschaft ihm gar zu anziehend. Schlafen konnte er ja morgen, so lange er wollte.

Die Droschke kam herangerasselt, der Kutscher zog auf Montforts Wink die Zügel hoch, das Pferd stand schlitternd still. »Mulläng rusch!« sagte Josef, und der Kutscher, den Hut lüftend: »Jawoll, Herr Baron!« Der schien ihn zu kennen.

So stieg Georg denn ein und setzte sich links in den Rücksitz; der Maler kam neben ihn. Montfort, auf dem kleinen Vordersitz zusammengezogen, machte die Augen zu. Die Räder lärmten. Bogner öffnete das Fenster neben sich und beugte sich in die Öffnung. Nun verspürte Georg die sonderbare Engigkeit, in der sie sich zusammengepfercht hatten, den Geruch von Pferd, Leder, Wachstuch und alten Polstern und hatte das Gefühl, als sei etwas atemlos und ohne Ende mit ihm im Gange. Auf einmal glühte sein Gesicht, er fühlte sich an Seele und Gliedern abscheulich behindert, streckte die Füße, fühlte keinen Platz, zog sie wieder an sich und arbeitete mit den Augen an dem großen und dunkelhäutigen, verschlossenen Gesicht mit der fremden Bartfliege ihm gegenüber. Keine Gesetze kennen! dachte er höhnisch, was das schon heißen soll! Armes Kind, was kannst du ihm wohl sein? Wie still und in Bereitschaft sie immer dagesessen hatte. Ihre Augen waren klug, und sie las die Jahresberichte ... Was sage ich ihm nur? – Da fiel ihm ein, was sie vom schlechten Stande der Fabrik gesagt hatte, da erschien ihm Renate im dunklen Vorgarten, im Laternenlicht, wie sie ihm entgegenkam, und gereizter spürte er die Behinderung, hier fahren zu müssen, anstatt – was? ja was?

»Warum fahren wir hier?« fragte er jählings. Keiner antwortete; keiner der Andern bewegte sich. Der Wagen rasselte und schwankte über das Pflaster, auf einmal war er auf Asphalt und rollte glatter und leiser dahin, während das einförmige Trotten des Pferdes hörbar wurde. Georg sah Bogners schwarzes Profil im einfallenden Licht, sah das Gleiten der Häuserwände, einen Mann, der wartend an der Ecke stand, um die sie nun schwenkten, eine Laterne, Rolljalousien und Reklameschilder, alles sehr traurig, beschmutzt und als ob es sein eigenes Nichtvorhandensein beklagte. Plötzlich merkte er Montforts Augen, die ihn unbestimmt anblickten, dann abglitten, und er hörte ihn langsam sagen:

»Immer wieder kehrst du, Melancholie,
O Sanftmut der einsamen Seele ...«

Es schienen Verse; er sprach langsam weiter:

»Zu Ende geht ein goldener Tag.
Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige,

Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn.
Siehe, es dämmert schon ...

Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches,
Und es leidet ein anderes mit.

Schaudernd unter herbstlichen Sternen
Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.«

Wieder war alles still bis auf das Trotten der Hufe, aber in dem Augenblick, wo Georg, von den Versen seltsam erschüttert, fragte: »Von wem ist das?« waren sie wieder auf Pflaster geraten, und Montfort schien nichts gehört zu haben.

Wieder kehrt die Nacht! fühlte Georg traurig, und leidet ein Sterbliches. Und es leidet ein anderes mit. Wie du mich dauerst, armes Kind! Und dann schrie er, um verstanden zu werden: »Warum fahren wir hier?«

Montfort wandte ihm mit gelindem Spott seine Augen zu.

»Wir?« sagte er. »Warum sagen Sie wir? Gehören wir zusammen? Fährt nicht jeder ganz allein?«

Georg wollte, aber konnte nicht sagen, daß er ihn ja in dies schandbare Vehikel hineingesperrt habe, denn freilich – warum hatte er sich sperren lassen?

»Teuerster,« fuhr Montfort fort, »ich weiß, was Sie denken. Sie sind auch so ein Mensch, der auf einmal von Versen ergriffen wird. Alles muß Ihnen mundgerecht gemacht werden, dann geht Ihnen das große Begreifen auf, und Sie bemerken Ihre Seele. Freuen Sie sich übrigens Ihrer Jugend.«

Bogner, während Georg sich, die Lippen zusammenkneifend, in seine Ecke zurücksetzte und den Dostojewskiband neben sich in den Sitz stieß, legte eine Hand auf seinen Arm und sagte, das Gesicht zu ihm wendend:

»Deswegen keine Sorge! Man gerät immer um so weiter auseinander, je enger man beisammenhockt. Erinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen von Judith Österreicher erzählte? Da saßen wir schön geräumig und konnten untereinander kommen und gehen, wie es uns beliebte.«

Anna! dachte Georg erschreckt. Oh, litt sie nicht auch, er aber litt nicht mit ihr! – Eine Weile später konnte er es nicht lassen, gereizt und unwirsch hervorzustoßen: »Warum fahren wir dann hier?«

Bogner schien zu lächeln und wandte sich ab; Montfort hatte die Augen wieder geschlossen; so fuhren sie schweigend, räderumrasselt, wieder über Asphalt, über Geleise, umschwenkend, plötzlich aus einem Geleis, in dem sie dahinrollten, herausgerissen, gegeneinander geschüttelt, umrasselt unaufhörlich. Georg hatte das Gefühl, als würde diese Nachtfahrt ihm ewig unvergeßlich bleiben. Dann dachte er, es müßte über ihnen ein Stern stehn, der Renates Züge trug, aber nun ließ das Wagenverdeck sich ja wieder nicht aufschlagen! – Er stöhnte, es war nicht auszuhalten.

Da hielt die Droschke mit einem Ruck. Georg riß die Tür auf und stolperte ins Freie vor ein Portal mit bunten Lampen, aus dem ein großer Türsteher mit Schnüren und hellblauem Mantel, einen langen Tambourstab in der Hand, hergeschritten kam. Im Augenblick gewillt, davon, in die Nacht, in einen Wald hineinzulaufen, fühlte Georg sich leicht am Arm ergriffen und vom lächelnden Josef Montfort in den gläsernen Tunnel hineingeschoben.

Sie legten die Mäntel ab und gelangten über eine Treppe in den Tanzsaal.

 

Ballhaus / Bar

Es waren Galerien da auf drei Seiten, darunter standen die Tische, in der leeren Parkettmitte drehten sich zwei Mädchen in blauweißgestreiften Matrosenanzügen mit roten Kragen und in Kniehosen, rote Zipfelmützen auf dem Kopf, in träger Vergeßlichkeit hin und her. An wenigen Tischen saßen Männer beim Wein und rauchten, im Winkel beim Tresen war ein ganzer Haufen buntgekleideter Frauen mit sinnlosen Hüten. Bald saßen sie in einer Ecke und hatten Gläser mit golden aussehendem Haute Sauternes vor sich stehn. Bogner rauchte seine Pfeife und sah sich alles mit Gleichmut an, Josef gähnte unaufhörlich, Georg trank hastig drei Gläser Wein aus, ohne es recht zu bemerken. Im Saal schoben sich einige Paare hin und her, Damen tanzten miteinander, die Leiber ineinander verrenkt, abstoßend anzusehen, und Georg fing an, innerlich Wut zu schnauben, daß er hier war. Plötzlich stand ein schwarzgekleidetes, bleiches Wesen neben Josef, das nicht wie die Andern war, sondern hoffärtig und einsam aussah.

»Du warst lange fort,« sagte sie traurig zu Montfort, der sofort aufstand und einen Stuhl holte. Sie glitt auf den seinen, füllte sich ein leeres Glas und trank lange in kleinen Schlucken, wobei sie Josef in die Augen sah.

»Wozu?« sagte sie plötzlich, das Glas hinsetzend, stand auf und war gleich darauf mit einem breiten Herrn zwischen den Tanzenden.

Georg dachte, es fange nun wirklich an, sinnlos zu werden, aber als er nach einer Weile Umherschauens zu Montfort sagen wollte, daß sie gehen wollten, war der verschwunden. Bogner hatte sein Skizzenbuch unter dem Tisch auf den Knien und zeichnete etwas Unsichtbares, ohne auf das Papier zu sehn. Ein Kellner kam, nahm stillschweigend die leere Flasche fort und brachte bald darauf eine neue. Da ein rosenrotes Mädchen sich an Georgs Stuhl vorbeischob, das herausfordernde Augen machte, so tanzte er mit ihm, tanzte mit dieser und jener, zuerst unbehülflich, da er in seine Tanzstundenhaltung zurückfiel, dann sachgemäß, seiner Tänzerin das rechte Bein zwischen die Schenkel drückend, so daß er die ganze Gestalt an sich preßte, und dazwischen trank er, sah auch Montfort tanzen, langsam wurden die Dinge dunstig und zerstückt, sein Gesichtskreis verengte sich, er sah nur noch Allernächstes, er wußte nicht mehr, was er tat. Plötzlich klopfte jemand ihn auf die Schulter, Montfort, der leise sagte: »Nun muß ich in die Unionbar, gehen wir.«

Er folgte willenlos, fand sich gleich darauf an Montforts Arm in der Nachtkälte, merkte, daß er zusammenfiel, raffte sich auf und ging aufrecht seines Weges zwischen Bogner und dem Andern, wobei er unausgesetzt schwatzte, ohne zu wissen was; nur daß er im Gehen doch hin und wieder dem einen oder dem andern seiner Begleiter näher kam, merkte er. Da blieb er stehn und sagte mit großem Ernst zu Josef – während ihm gleichzeitig einfiel, daß er Dostojewskis ›Jüngling‹ nicht mehr bei sich hatte –: »Fräulein Ring sprach mit mir von Ihnen.«

»Kommen Sie nur, das weiß ich ja alles!« meinte Montfort begütigend, indem er ihn weiterzog. Jetzt nur nicht wütend werden! ermahnte sich Georg, das wäre ein Beweis deiner Betrunkenheit. – –

Aber von nun ab war ihm nichts mehr bewußt, als daß er nach einer langen Zeit Küsse fühlte, lange Küsse und von einer so alles durchschmelzenden, verzehrenden Süße, daß er dachte, er träume. Die Augen aufreißend, sah er ein weibliches Gesicht nahe vor dem seinen, das ihm wiederum so zauberhaft schön, so über alle Begriffe wunderbar erschien, daß er überzeugt war, er träume, doch spürte er nun deutlich ihren Mund, der sich in den seinen einwühlte, die Zähne, ihren Atem; er schmolz in Zärtlichkeit, er weinte fast und murmelte dumpf: »Liebst du mich denn so?« Er hörte eine verdunkelte, vor Zärtlichkeit erstickende Stimme antworten: »Ja! Ja!« und: »Hast du es nicht gleich gemerkt, wie wir uns ansahn, als du hereinkamst?«

Jetzt wurden die Dinge umher klarer. Das Mädchen saß auf seinem Schoß, hinter ihr war ein winziger Raum, eine Koje, in der eine dunkelrote Schleierlampe hing; darunter war ein Wirrwarr von Sektflaschen; Gläsern, Strohhalmen und plötzlich das Gesicht Maler Bogners wie aus Erz, so völlig unverändert, und nun merkte er den Lärm, merkte, daß hinter seinem Rücken ein ungeheures Geschrei und Getümmel war, Frauenstimmen kreischten, Kerle brüllten, und hinter dieser Wand von Tumult dröhnte ein Klavier. Das Mädchen, das er im Arm hielt, jetzt nicht mehr so schön, aber großäugig, ein schwarzes Samtband um die Stirn, sprang von seinen Knien, ergriff seine rechte Hand, zog ihn in die Höhe und sagte heiß: »Komm, tanzen!« Er gehorchte, drehte sich irgendwo in einem dichten Gedränge heißer Körper und Gesichter, und saß gleich darauf in der wärmsten Enge hinter jenem Tisch auf einem Sofa, Bogner gegenüber, neben dem ein unbekanntes Gesicht war, und neben ihm selber – ja, das war Montfort. Das Mädchen drängte sich an seiner andern Seite unter seine Achsel, und er hörte es flüstern, daß sie gleich fort müßte, zu andern Gästen, ob er sie morgen treffen wollte, und er sagte zu allem Ja. – Also am Gänseliesel, sie wohne dort ganz in der Nähe, und um ein Uhr. Ob er auch sicher käme, und sie würde ihm schreiben, wenn sie nicht könne.

»Ja, weißt du denn, wer ich bin?« fragte er, etwas erschreckt.

Sie wußte es nicht, da verschwieg er seinen Namen und sagte, sie solle ihm unter G. T. 17 schreiben, Hauptpostamt, und es nicht vergessen. Er sah, daß sie einen Kellner anhielt, von ihm Papier und Bleistift bekam und sorgfältig aufmalte: G. T. 17 auf zwei Stückchen Papier, von denen er eins in seine Brieftasche steckte.

»Schenk mir was!« bettelte sie plötzlich, »ich hab heut abend noch nichts verdient.«

Er zog Goldstücke hervor, sie ergriff seine Hand, streifte ihren Rock in die Höhe und führte seine Hand mit dem Geld darin zu der Öffnung ihres Strumpfes am Oberschenkel, indem sie ihn zugleich mit dem linken Arm umhalste, brennend anlächelte und küßte. Als er die warme und nackte Haut ihres Beines fühlte, brach er fast zusammen, wurde aber im selben Augenblick zurückgestoßen; sie sprang auf, schüttelte ihren Rock, warf ihm eine Kußhand zu und verschwand im Getümmel.

Nun muß ich mich übergeben, dachte Georg, stand eilig auf, gelangte durch das Tohuwabohu hinaus, tat, was er eben gedacht hatte, war, als er zurückkehrte, wenigstens wieder im Besitz seiner Augen, obwohl sie auch jetzt nur für das Nächstliegende reichten, aber er sah doch beim Hinsetzen, daß die Augen des Fremden sich auf ihn richteten, so daß er sich verbeugte und seinen Namen murmelte, worauf jener – dunkle, ruhige Augen unter einer zarten Stirn – ihm leicht erstaunt die Hand reichte, indem er sagte: »Wir kennen uns ja schon.« Georg, verlegen, setzte sich still nieder, da er zudem bemerkt hatte, daß er wohl denken, aber noch nicht sprechen konnte. Nun, da saß also Bogner und zeichnete hinter der Flaschenbarrikade auf das Tischtuch. In seinen rechten Arm hatte sich ein blondes Mädchen gehakt, das neben ihm saß und seiner Beschäftigung so andächtig zuschaute, daß ihr hin und wieder die Augen zusanken und ihr Kopf langsam vornüber fiel. Der Maler sah dann nachsichtig auf sie hinunter, und sie warf den Kopf mit einem Ruck empor, riß die Augen auf, lachte schläfrig, ergriff ein Glas und sagte: »Mönchmeyer!« und dann: »Prosit« und trank.

Georg begann das Gespräch Montforts und des Fremden zu hören, deren Köpfe sich hinter der roten Schleierlampe dicht zueinander gebeugt hatten, denn sie stritten sich heftig, und Georg hörte die Namen Poës, Hoffmanns und Kubins. Eine Weile war das alles noch dumpf und weit entfernt, es kam aber durch Augenblicke näher, endlich und ganz deutlich hörte er Montfort sagen:

»Angenommen also, es sei möglich, die gesamten seelischen und geistigen Eigenschaften zweier Menschen – meinetwegen in der Form der Auswechselung ihrer Gehirne – miteinander zu vertauschen, was ist diejenige Folge, die sich für früher oder später mit Notwendigkeit ergeben muß?«

Jucken, dachte Georg, infolge der fremden Körperlichkeit, während der Fremde sagte:

»Zusatz: Jeder von beiden hat, ausgestattet mit den alten Gewohnheiten des Gefühls, der Denkungsart, der Neigungen und ihrer Gegenteile und so weiter und so weiter, diese in einer andern Gestalt, andrer Umgebung – es ist zu denken an Verwandte, Eltern und Freunde, Gleichstehende nah und fern – zu verwenden.«

»Die Folge ist – ich will nicht geradezu sagen: Verbrechen, da die wenigsten Menschen tätlich veranlagt sind, – aber sie ist: Unheil, sie ist tragisch. Die nächste, die sofortige Folge nämlich, ist: ein Liebesgefühl für die neue Mutter oder Schwester, jedenfalls Fehlen des Verwandtschaftsgefühls, fehlende Zuneigung zu Eltern und Geschwistern.«

Dies heiße die Angelegenheit zu enge begrenzen, meinte der Andre. Er wolle in allgemeinerem Sinne eine günstige Wirkung der Verwandlung beweisen, gesetzt, die Erinnerung an das alte Dasein sei geblieben, nämlich: Befreiung. Befreiung von allem Gewohnten, ein neuer Ausblick in die Umgebung bis zu den Sternen hinauf, daher ein Auftrieb aller Kräfte, eine weisere Benutzung, eine deutlichere Erkenntnis des Seienden, genau so wie jemand, der ein jahrelang von Andern bewohntes Zimmer betrete, die Leute darin auf unzählbare, von ihnen nie bemerkte Dinge aufmerksam machen könne. Hinzu komme ferner das besonders Wichtige: der Einfluß des neuen äußeren Menschen.

»Als Beispiel«, sagte er, »möchte ich folgendes eigene Erlebnis erwähnen: Ich habe in früheren Jahren als Schüler bei Festlichkeiten Theater gespielt, hatte mir, was zu mimen war, ungefähr zurechtgelegt, übrigens auf den Proben keinerlei Befähigung zum Schauspieler gezeigt, und hatte heftiges Lampenfieber. Nun hatte ich einen komischen alten Diener zu geben. Kaum hatte ich nach Herstellung meiner Maske einen Blick in den Spiegel getan und von mir selber, hinter der kahlköpfigen Perücke, den weißen Bartkoteletten, den Runzeln samt der Livree nichts wahrgenommen als die alten Augen, da war jede Spur von Aufregung verschwunden, und ich muß in meine Figur, in meine Rolle dermaßen hineingewachsen sein, daß die ältesten Leute bei meiner Komik, bei der ich nur gar nichts dachte, Tränen gelacht haben sollen, und während –«

»Das beweist gar nichts,« sagte Josef. »Sie wollen mit Ihrem Gleichnis den Verlust der, den Menschen zumeist anhaftenden Scheu und Unsicherheit aufdecken, aber das ist alles Unsinn. Ihre schauspielerischen Erfahrungen stehen in konträrem Gegensatz zu denen aller richtigen Mimen, oder haben Sie schon von einem gehört, dessen Lampenfieber in Lampengenesung umgeschlagen wäre? Und außerdem bestreite ich für mich persönlich jedenfalls energisch das Vorhandensein Ihrer Scheu und Unsicherheit.«

Da es sich nicht um Josef Montfort handle, sagte der Fremde, so fahre er unbeirrt fort: In der neuen Maske oder Gestalt lasse sich alles verstecken, jeder Gedanke, jeder Plan, jede Beklommenheit und jeder Schreck, »deshalb nämlich,« sagte er, »weil ich mir nur einzuprägen brauche, daß der Ausdruck, den meine Umgebung an mir wahrzunehmen glaubt, nicht mir gehört, sondern dem – Andern, der Maske, und daß niemand den wahren, inneren Vorgang wahrnehmen kann.«

Hiergegen sei eine Menge einzuwenden, erklärte Montfort. »Erstlich Ihr: ›Ich brauche mir nur einzuprägen‹. – Gesetzt, Sie könnten das, wozu brauchen Sie denn da die Verwandlung? Dann können Sie es doch auch so wie Sie sind jeden Augenblick fertigbringen. Zweitens –«

Da, sagte der Andre, läge seine ganze Torheit in ihrer beschämenden Nacktheit vor aller Augen. »Sie hätten mir einen Fehler nachweisen können, weil es nämlich Schauspieler giebt, die ohne Maske einen völlig andern Menschen als sie selber darzustellen vermögen –«

»Welch ein unseliger Nonsens!« lamentierte Josef. »Ist denn hier vom Schauspielertalent die Rede?«

»Seit langem,« war die ruhige Antwort, »schon immerzu, Sie haben bloß nicht bemerkt, daß ich Ihnen zeigen wollte, daß eben mit der Maske auch der Schauspieler, auch das ›Sicheinprägenkönnen‹ möglich wird und sich entwickelt. So wie ich bin, verstelle ich mich natürlich auch bis zu einem gewissen Grade, aber –«

»Und nun,« Josef lächelte hinreißend, »nun wollen Sie mir noch nicht zugeben, daß Sie matt sind?«

Der Andre stutzte, überlegte und fragte: »Wieso?«

»Sie sind ein zu guter Mensch, Saint-Georges,« sagte Josef, »ein zu anständiger Mensch. Sie folgern nur auf zunehmende Sicherheit und daraus womöglich auf Kraft, Güte und wer weiß was noch. Sollten Sie nie bedacht haben, daß die Menschheit eine Versammlung von Bestien ist? Natürlich, der einzelne Mensch ist gut, denn Vereinzelung ist Hülflosigkeit und Hülflosigkeit Schwäche und Furcht. Furcht aber ist zu allen Zugeständnissen bereit, zum Verzeihen, zum Zurücknehmen, zum Helfen, zu jeder Art von Güte, die Sie wollen. Hörten Sie nie von der unendlichen Güte sterbender Menschen? Mehrzahl aber macht stark, und Stärke ist geneigt zu Forderungen, zur Unduldsamkeit; weil jeder sich von zehn Andern gedeckt weiß, zur Durchsetzung jeder Neigung wie zum Geschrei. Können Sie leise reden, wenn zehntausend herum sind? Und wie können Sie doch nicht linde genug flüstern, wenn Sie bei Ihrer Geliebten liegen. Sicherheit auf Kosten des moralischen Menschen, da haben wirs. Nicht zum Schauspieler werde ich, sondern zum Heuchler, zum Scharlatan, und ich entwickele die niedrigsten Instinkte, die ich auftreiben kann, denn die guten, ob mit, ob ohne Maske, brauche ich nie zu verheimlichen. Sie sprachen, lassen Sie mich nur weiterreden, Sie sprachen von Freiheit; gewiß, Befreitheit vom Zwang, vom Sichbeobachtet-, Sicherspäht-, Sichertapptfühlen, Befreiung vom Erröten und Erbleichen, von Beschämung und all dem Höflichen, das uns hier den Verkehr miteinander möglich macht. Befreiung aller Triebe, Verlust des Schamgefühls, ha! Warum kann eine Schauspielerin denn eine Dirne mimen, warum gelingt den Schauspielern die Darstellung Jagos, Franz Moors und des andern Mohren so viel besser als die Max Piccolominis? Weil das in der Maske schwindende Schamgefühl – ja, dazu dient die Maske allerdings – die, in jedem Menschen wohnenden Gelüste zum Bösen, zum Verneinen, zum Verbrechen begünstigt. Sie, obgleich ein so guter, anständiger Mensch, hat Sie es nie beim Anblick eines Haufens Banknoten durchzuckt: In die Tasche damit und verschwinden! – nie beim Anblick eines berauschenden Weibes, ha!: Ersticken mit Küssen und – weg wie der Satan! Hinterdrein dann das kühle Selbstgeständnis: Ich bins nicht gewesen, der diese satanische Eingebung gehabt hat, o weh! Nun aber nehmen Sie die Maske vor, nun ...«

Er atmete auf und legte sich zurück, Georg sah ihn heftig erregt, blitzender Augen und geblähter Nasenflügel, wie er mit der Hand gegen seine Brust pochte, dann eine seiner großen Zigarren aus der Weste zog, die Spitze abbiß und sie entzündete. Saint-Georges machte den Versuch eines letzten Vorstoßes, indem er vorschlug, es doch wirklich, wie Montfort mehrfach betont habe, mit gewissermaßen anständigen Menschen zu tun zu haben. Josef, stracks wieder schwellend von Beredsamkeit, sagte:

»Zum Beispiel Sie und ich, anständige und deshalb, für den Augenblick wenigstens ehrliche Menschen. Bekennen wir demnach: Würden wir – maskiert – nicht manches tun und versuchen, zu dem wir es jetzt nicht kommen lassen?«

Hier sah Georg sein Gesicht sich verzerren, als ob er aufschriee wie ein Gekniffener, während er zugleich mit leisestem Geflüster zischte: »Ist es denn nicht das? Wir lassen es ja zu nichts kommen, wir lassen uns ja immer hindern und werden doch nicht besser, sondern nur böser dadurch.«

Georg erschrak in seiner Dumpfheit, das Wort bedenkend, Bogners erschreckendes Wort: Alle sind gut; nur will sich niemand hindern lassen. Also nicht nur jene, die Behinderung abzustreifen wissen, sondern der Behinderte an sich schon wird böse, weil er sich hindern läßt? – Er hörte wieder Montfort: »Meinen Sie tatsächlich, wir würden besser werden? Wollen Sie wirklich vergessen, welchen Verbrauch von Halb- und Zehntelslügen sogar der Anständigste am Tage hat, vor den Andern, vor sich selbst? Würden wir uns nicht noch leichter über dies und das beruhigen, über jenes hinwegtäuschen, dieses uns vorspiegeln, das ausreden, dort klein beigeben und hier übertreiben? Unser Gutes übertrieben, unser Schlechtes belanglos, das Ferne nah und das Nahe entfernt sehn? Wünsche statt Ausführung, Aussichten für Wege, Träume statt Handlungen und Nichtswürdigkeiten für Taten nehmen? Würden wir uns nicht noch mehr belügen? Nicht, anstatt herauszukommen, noch tiefer in Bequemlichkeit, Lauheit und Gewohnheit versinken, bis wir gänzlich der seelischen Verfettung anheimgefallen sind? Sehen Sie denn nicht, Mensch, im Hintergrunde Ihrer ganzen Spekulation die Unentrinnbarkeit eines teuflischen Quietismus, der sagt: Wozu überhaupt etwas? Ich bins ja doch nicht, der handelt! Und niemals, niemals, Sie Glücklicher, haben Sie sich das selber auch so gesagt, ohne Maske? wie Sie da sitzen, alles einem Gott oder Dämon in die Schuhe geschoben und geklagt: Einer sitzt in mir, der will immer anders!«

Josef Montfort schwieg erschöpft und schaute mit tiefem Trübsinn in sein Whiskyglas. Georg indes hatte sich so weit gesammelt, daß er, wie er glaubte, ziemlich deutlich hervorbrachte:

»Und also würde alles beim alten bleiben, nicht wahr. In Ihrer Maske würde kein Herz Platz haben – Sie ermahnten mich doch, es mir zu erhalten –, denn wir würden nicht mehr erraten können, nicht wahr, wen von uns unser Freund, unsre Geliebte meint: den, der wir sind, oder den, der wir scheinen. Das aber, nicht wahr,« Georgs Stimme ging unter in Traurigkeit, »wissen wir auch jetzt nicht, und – nicht wahr – wir können froh sein, wenn eine gute Geliebte aus unserm Schein und unsrer Wahrheit sich eine Mitte verfertigt, die –«

»Froh?« Josef lächelte dekorativ. »Lieber Freund, das glaube ich Ihnen nicht. Froh sind Sie, in der Sie Liebenden ein Wunderbildnis von Ihnen erzeugen zu können, das Sie auf Knieen verehrt, froh, obgleich Sie sich dem hundertmal widersetzen zu müssen glauben, bis Sie einsehn, Sie können es nicht verhindern, weil die süße Frau es nicht will, und Sie selber wollen es nicht und tun ihr das gleiche an. Ist Liebe etwa Lernen und Erkennen? Um Gottes willen! Liebe ist der wunderbare Irrtum des menschlichen Daseins, weshalb er meinetwegen im Leben der Vernünftigen keinen zu großen und nur einen sporadischen Raum einnehmen möge, wogegen ich selbst aber mich wieder und wieder in diesen Irrtum, diese grandioseste aller Stromschnellen hineinstürzen –« Er hatte schon während der letzten Worte, aus seiner Ekstase nachdenklich werdend, zu jemand emporgesehn, der an den Tisch getreten sein mußte, und während Georg, sich nach ihm umwendend, jenes Mädchen gewahrte, das er vorhin geküßt hatte, hörte er Montfort langsam und durchdringend zu ihr sagen: »Sie sind doch – Lenusch.«

Das Mädchen, erhitzt, das Haar zerzaust, das blasse Gesicht über und über mit roten Flecken bedeckt, schwankte vor Trunkenheit vor und zurück, kniff die Augen zusammen, um Montfort zu erkennen, und da erkannte sie ihn. Im Augenblick – während sie die Hände gleich Krallen gegen die Schultern hochhob, – ballte das ganze, vorher so schöne Antlitz sich zu einer Maske von ungeheurem Haß zusammen, zu einer todbleichen Fläche, besät mit diesen roten Flecken, mit breit und flach gewordener Nase, mit rasend zurückgezogenen Mundwinkeln, und Gift spritzte aus ihren Augen, und die Vorderzähne unten schoben sich vor die Oberzähne. Es kamen aber keine Worte, sondern etwas Bräunliches, Breiiges trat zwischen ihren Lippen hervor. Sie erbrach sich. Es floß einfach aus ihrem Munde, während im zusammenfallenden Gesicht die Augen, wie brechende Augen, nach oben gerichtet, stillstanden.

Georg glaubte bei diesem Anblick zu sehn, wie seine Seele sich schaudernd aus ihm entfernte, ein Schatten, der abgewandt entfloh, und er war von nun an nur noch Äußeres: Gesicht, Gehör, Geruch; sah das Mädchen davongeführt werden, zwei Herren, die an der Bar saßen, sich neugierig umwenden, sah, daß es leer im Raume war, der voll von Dunst und Gerüchen stand, aber dann verließen ihn auch die Sinne, und er fand sich auf einmal in einer unbegreiflichen Tageshelle.

Eine Straße war da, die lag im Schatten, sehr säuberlich, friedlich und abgeschieden; Morgenhelle wars, in der er schaudernd und fröstelnd stand. Unter seinem linken Arm steckte ein andrer Arm, von dem er fortgeführt wurde, und eine nahe Stimme redete Worte in sein Ohr, eine Stimme, die ihm die Jason al Manachs zu sein schien, doch begriff er bald, es war Josef Montfort, und er sprach augenscheinlich gute und begütigende Dinge. Bald hörte er auch die Worte richtig, blieb aber sonst, obwohl er ging, sah und hörte, wie gelähmt. Montfort aber sagte:

»Nur ruhig, nur ruhig! Ich habe eine Ermordete sterben sehn, aber dies war grausamer, hören Sie, Sie müssen an andre Dinge denken. Sie sind zu jung für so etwas, hören Sie einmal zu, ich will Ihnen von Lenusch erzählen. Ich hatte zwei Freunde, die studierten vor ein paar Jahren beide in Königsberg, ohne sich gegenseitig zu kennen, und Beide schrieben mir, – ich kanns Ihnen ja sagen, sie studierten auf meine, beziehungsweise meines Vaters Kosten. Da schrieb nun der Eine, er habe ein himmlisches Wesen kennen gelernt, ja, eine Wirtstochter, aber ein Engel sei sie und liebe ihn, wie er sie, und sie werde trotz ihrer Engelhaftigkeit von ihren Eltern geplagt und mißbraucht, – so schrieb er. Und dann schrieb auch der Andere ganz etwas Ähnliches, ja, mit andern Ausdrücken genau dasselbe, und auch dies Mädchen wurde von ihren Eltern geplagt, nun, was ist da weiter, – ich kam dahinter, daß es dasselbe Mädchen war, sogar Momentaufnahmen bekam ich von beiden Freunden, und es war so, daß sie zum Einen sagte, nun müßte sie wieder ans Waschfaß – dann saß der Andre im Hinterstübchen; und zu dem sagte sie, nun müßte sie wieder Kartoffel schälen, dann traf sie den Andern auf dem Wall. Nun, was sollte ich tun? Ich schrieb das Ganze dem einen Freund, aber der verfluchte mich, und es sei alles gelogen. Da ich nun Gelegenheit hatte, nach Königsberg zu reisen, besuchte ich ihn, ließ sie auf sein Zimmer kommen und zeigte ihr in seinem Beisein die Photographien, die der Andre gemacht hatte, und sagte ihr die ganze Wahrheit, worauf ich das Zimmer verließ. Drinnen blieb eine Weile alles still, dann hörte ich reden, dann schluchzen, dann heftiger reden, ihn und sie, und nun – nach einer Weile rief er mich wieder herein, sagte, sie sei fort, und es sei alles in Ordnung. Sie habe ihm alles eingestanden, aber ihn, habe sie gesagt, liebe sie doch allein, und bei dem Andern habe sie nur nicht widerstehen können, und: Spielerei, und so weiter. O sie hatte unerhörte Begabungen. Ja, das war Lenusch in ihrer Glanzzeit. Später war ich noch einmal in Königsberg, und da erkaltete denn doch ihre Liebe zu meinem Freund – er war Theologe, der gute, und dann verlobte sie sich mit einem Referendar, aber das Verhängnis fuhr ihr dazwischen, und sie bekam ein Kind. Ich weiß nicht, von wem, möglicherweise von jenem Korpschargierten, der eines Tages eine Wette abgeschlossen hatte, daß er, wenn er nur wolle, Lenusch bekommen könne. Nun denken Sie, Prinz, diese Wette hat er gewonnen und doch verloren! Begreifen Sie? Er hat sie wirklich bekommen, diese Lenusch, unter der Bedingung freilich, daß er die Wette verlöre, – o sie war unerhört! Möglicherweise ist es auch von mir gewesen, dies Kind, und trägt meine Züge. Dennoch kann ich eigentlich nicht ganz begreifen, warum sie diesen außerordentlichen und erschreckenden Haß auf mich gefaßt hat. Freilich hatte sie unerhörte Möglichkeiten, und ich habe sie ihr verkümmert, aber verdammt noch mal, hier krepiert ein jeder an verkümmerten Möglichkeiten! und hier ist Ihr Hotel.«

Georg sah ihn vor sich stehn, sein Mäntelchen überm Arm, nur wenig abgefallen im Gesicht, breitschultrig und groß, die Züge merkwürdig entstellt durch die abscheuliche Art, den steifen Hut in die Stirn zu rücken, und Georg mußte heftig in Gelächter ausbrechen. Indem kamen Bogner und Saint-Georges im Gespräch heran, Montfort trat zu diesem, ergriff ihn am Arm und sagte, mit seinem Stock auf die kaum ergrünten Sträucher der Anlagen hinter dem Theater deutend, die sich in der schönen Morgenluft atmend still verhielten, dann auf die kleinen, leichten Wolkenballen, die über dem grünen hochliegenden Kupferdach des Bühnenhauses in der leichten Bläue dahinreisten:

»Frühling, Saint-Georges, unser alter Geliebter, da ist er ja wieder! Sprachen wir nicht von berauschenden Irrtümern, sprachen wir nicht von der Liebe? Frühling ist der schöne Irrtum des Sommers. Schließen wir ab. Der alte Adam in unsrer Hypothese wird sich einfach die neue Figur, in der er steckt, für seinen Gebrauch zurechtmachen, es wird nicht anders sein, als ein neues Bett.«

Saint-Georges nickte und bekräftigte nachdenklich:

»So ists, wir kommen nie und auf keine Weise aus unsrer Haut.«

Josef, sich zurückbiegend, betrachtete ihn prüfend, dann auch Bogner, sagte dann, leise und eindringlich:

»Liebe Freunde, ist das auch sicher? Wir müßten, vom Anfang bis an das Ende, bleiben, wo, wie und was wir sind?«

Maler Bogner hatte die Hände in den Manteltaschen, sah droben übers Dach hin, sog mit den Nüstern und meinte schließlich:

»Müssen, sagen Sie, müssen? Freilich ist alles festgelegt. Was aber, wenn Sie auch müssen, was hindert Sie, zu versuchen, was Sie nur wollen? Sie wissen ja nichts zuvor.«

»Sie wollen sagen,« fragte Saint-Georges, »daß Sie ein Maler geworden wären, auch wenn Sie sich damals geduckt und nicht losgerissen hätten?«

»Im Gegenteil, gar nichts wäre ich geworden. Sondern es lag fest, daß ich es auf diese Weise werden sollte, und also wollte ich es.«

Georg fühlte sich zum Umsinken müde und reichte allen Herren die Hand, womit sein Wahrnehmungsvermögen für diese Nacht ein Ende nahm.


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