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Der Maler ging in seiner leichtlichen Rüstigkeit voran. Georg, in einem sonderlichen Gefühl von Heimkehr, mit der Ungewißheit der Erwartung, ob noch alles wie damals sei und was sich diesmal dahier mit ihm zutragen werde, folgte treppab, durch Menschengedränge, durch den Tunnel, stand eine Weile geduldig mit am Gepäcklager, wo der Maler seinen Zettel abgab, um sich den Koffer schicken zu lassen, und dann standen sie unter dem Überdach vor den Ausgängen. Georg sah das schwarze Reiterdenkmal wieder über Treppen und Blumenbeeten auf dem nassen, schwarzen Platz, hörte die elektrischen Bahnen in den Kurven kreischen, sah sie um die springenden Brunnen biegen, sah die breiten Straßen in der rötlichen Helle der Bogenlampen, hastig durchwimmelt von beschäftigten Menschen, die großen Hotelbauten im Umkreis und die Fluten verschiedenen Lichts aus den Spiegelscheiben der Auslagen im breiten Strom der Bahnhofstraße, alles so unendlich wohlbekannt, für den Hauch eines Augenblickes entfremdet, nun alles schon wieder wie vor einem Jahr, und er dachte dabei: Da bin ich nun in derselben Stadt wie Anna. Wenn sie mir doch gleich entgegenkommen wollte! Die Überraschung würde mich maskieren. Ob ich nicht vielleicht doch, wenn ich sie wiedersehe, mein verlorenes Gefühl wieder finde? Oh Gott, nein, betrügen kann ich sie nicht, und was sollte auch daraus werden?
»Ich möchte zu Fuß gehn,« hörte er Bogner sagen, »meine Eltern wohnen in Waldhausen.«
Georg, unschlüssig was tun, da er ins Hotel immer noch früh genug kam, fragte, ob er durch die Wiesen gehn wolle, und da der Maler nickte, ob er ihn begleiten dürfte, – die Abendluft ...
Also sagte er dem blassen Egon Bescheid wegen des Hotels und der Koffer, und sie gingen schweigsam über den Platz, die Bahnhofstraße hinunter und weiter durch die Altstadt, wo Georg plötzlich in einer dunklen Seitenstraße den leuchtend grünen, jetzt schon in triefendes, tiefes Blau vergehenden Himmel wieder sah, in den der riesenhafte, breitschultrige Turm der Marktkirche hineinragte, schwarz wie aus Samt geschnitten.
Als sie auf die Allee des alten Friedrichswalls hinaustraten, blieb der Maler stehn. Rechts rauschten die vielen Wasserstrahlen des Zierbrunnens mit Krokodilen und Wassermännern in der Abendstille. Der Maler schüttelte den Kopf über ihn, blickte nach links gewandt die kleine Akazienallee hinunter, neben der auf dem glänzend nassen Fahrdamm die Straßenbahngeleise schimmerten, und schien der lang und dunkel hingestreckten Front des alten Rathauses mit dorischen Säulen und mächtigen Dreieckgiebeln zuzunicken. – Wie mag ihm zumute sein, dachte Georg teilnehmend, da er Alles wiedersieht nach so langer Zeit? – Indem sagte Bogner, in die dunklen Wiesenanlagen jenseits der Allee hinüberdeutend:
»Früher – ja, da reichten die Marschweiden bis hierher, und gleich da drüben stand der kleine Bretterkiosk, wo die Billette zur Schlittschuhbahn verkauft wurden, wenn im Winter die Wiesen unter Wasser standen. Für Jungens kostete es zwei Pfennig, es gab rote Zettel, und dann konnten wir uns gegen den Wind bis hinten zum Bahndamm hinausarbeiten. Auf dem Eis stand eine Bretterbude über Pfählen, wo es glühend roten ›Kinderpunsch‹ gab für fünf Pfennige. Ja, zur Tür dieses Schuppens führte ein schräges Brückenbrett mit quergenagelten Leisten. Man sollte nicht glauben, daß man im Leben nicht so etwas vergißt wie diese mit Schnee und Schlamm bekrusteten Leisten, mit den Spuren der Schlittschuh, oder diese Mühsal, auf Schlittschuhen hinaufzukraxeln, immerfort angeklammert an die Andern, denn dort herrschte stets ein mächtiger Andrang. Drinnen dampfte alles, ein Kanonenofen war da ...«
Sie gingen wieder; überkreuzten die Allee, umwanderten den neuen kleinen Teich mit seinen Wiesenbuchten und Grotten von Bimsstein und Baumgruppen, gelangten an die Holzbrücke, die zu den großen Wipfelmassen von Bellavista hinüber führte, und wieder blieb der Maler stehn und erklärte, daß hier eine andre Brücke gewesen sei, damals, aus Eisen, mit so hohen Brüstungen, daß man als Junge sich auf die Zehen stellen mußte, um das Wasser sehen zu können und die Ruderboote im Fluß. Die Bootstation drüben war Georg wohlbekannt, aber ehe er etwas sagen konnte, sprang der Maler die Böschung hinunter in die weithin dunkel ausgebreitete Wiesenfläche, zur Linken von dem neuen, mächtig herumgeschwungenen Promenadendamm umarmt, wo Laternen brannten und erleuchtete Fenster in den Hinterhäusern der Stadt erglommen.
Sie folgten dem Wiesenpfad am Fluß hinunter, der braun und eilfertig, hier und da glucksend in der Hast, dahinzog. Mit dem Schweigsamen wanderten am andern Ufer die schweigenden Krüppelweiden, fabelhafte schwarze und verkrümmte Stammkörper mit einem mächtig gesträubten Haarwuchs dünner Ruten, durch die der trübrote Nachthimmel über der Fabrikstadt glühte. Sie gelangten an die Bismarcksäule, die mit einmal, ein dunkler Schatten, sich linker Hand aufrichtete, überstiegen die Anhöhe, die sie trug; Georg, in der Dunkelheit unsicher, zögerte, aber der Maler sprang schon wieder in die Wiesen hinunter, und nun gewahrte Georg fern drüben zur Linken die dunklen Festungsumrisse der Brauerei und weiter rechts in der Ferne die Zypressen und Mauern des Friedhofs, wo die dunklen Wiesenflächen uferten. Er erinnerte sich, daß der Bahndamm verlegt war, wandte sich und sah jenseits der ruhigen Flußbiegung ein stilles Volk von Fabrikschloten im Qualm des roten Städtehimmels stehn, daneben die Türme der Garnisonkirche und Gewipfel. Er hörte das Rauschen des unsichtbaren Wehrs zur Rechten, wo der Fluß sich teilte, und als jetzt die Nachtluft, lau, mit weichen, ungeschickten Stößen wie kindliche Küsse auf ihn eindrang, zitterte sein Herz in der wundervollen Bangnis des Frühlings.
Unten im Dunkel, ganz still, erhob sich der Schatten des Malers in seinem grauen Mantel; auch er bewegte sich nicht. Alles schien sich still zu verhalten auf einmal und zu warten. Wie feucht die Luft war, wie kühl nun wieder! Die Fläche des Flusses glänzte zwischen den Böschungen, sich verbreiternd, bevor er sich in die beiden Arme teilte; ununterbrochen rauschte das Wehr, heller als Meeresbrandung, doch zogen undeutliche Gedanken von See und Ebene durch Georgs Herz. Dann folgte er Bogner.
Der Weg über die Wiesen war nicht leicht, der nasse Grasboden höckerig und zerlöchert, zuweilen gelangten sie an sumpfige Stellen, die der Maler jedoch umkreiste, ohne sich zu besinnen; hier schien er jeden Fußbreit zu kennen. Nach einer Viertelstunde waren sie an einem Strebepfeiler der Friedhofsmauer angelangt und gingen unter den haushohen Bastionen und Türmchen einher, kamen an einen Zaun, einen Bach, einen Brückensteg, über den ein schiefes, halb offenes Stacketengitter gespannt war, gingen hindurch über eine kleine ansteigende Wiese neben einem schwarzen Graben, und – »Hier,« sagte Bogner, »fingen wir Jungens Blutegel und Molche und Sticherlinge, oder wir stellten dahinten in den Kegelbahnen – das da ist der Biergarten vom Döhrener Turm! – Kegel auf für die hemdärmeligen Pfahlbürger. Da müssen wir hindurch. Übrigens – die erleuchteten Fenster da rechts unter den Bäumen gehören meines Wissens zur Güntherstraße.«
»Wo die Montforts wohnen?« Georg erschrak. Im dunklen Gefühl, daß er mit der nächsten Minute Anna sehn werde, ging er hinter dem Maler her, der – suchend, wie es schien – sich in der Finsternis der Bäume verlor. Georg stolperte über Wurzeln; etwas, das wie ein Galgen aussah, stand plötzlich vor ihm; er erkannte das Balkengerüst einer an eisernen Stangen hängenden Schaukel, so groß, daß ein Dutzend Menschen darauf stehn konnte; er sah erleuchtete bunte Treppenhausfenster plötzlich ganz groß in der Dunkelheit schweben, und auf einmal kam ein gedämpftes, melodisches Brausen durch die Nacht geschwebt. Orgel ... Renates Orgel ... dachte Georg. Wo war denn Bogner? Er lauschte sekundenlang auf das schöne Rauschen und Quellen, das die Bäume friedlich überstieg; hellere Stimmen lösten sich freudig, stiegen, entwandelten feierlich. Es roch stark nach Erde, nasser Baumrinde, nach Knospen.
Aber wo war denn der Maler? Georg tat ein paar Schritte im Finstern und erblickte plötzlich sehr betroffen drei hohe und schmale, gotische Fenster, die sich in der Nacht aufgestellt hatten, erleuchtet, von einem sehr milden, bernsteinfarbenen Licht. Darüber erschienen alsbald die Schattenumrisse von Dach und Türmchen einer kleinen Kapelle.
So also sah dies alles aus? Und sieh, da stand der Maler; auf einmal sah er sein Profil, nach oben gerichtet, und da war auch ein Zaun und Buschwerk dahinter. Ängstlich und beklommen zu Bogner tretend, sah Georg hoch oben links ein helles Fenster weit offen, ein Stück weißer Zimmerdecke und ein Dienstmädchen mit weißer Tolle, das eine Steppdecke hochnahm und davontrug. Unten wurden Wege weißlich sichtbar, sodann ein roter Punkt, der sich bewegte, ein Raucher – die Orgel rauschte tief – daneben etwas Weißes, ein Kleid, und der rote Punkt glühte auf, und Georg erblickte deutlich und fast entsetzt in dem kleinen Lichtkreis Annas Gesicht und eine Hand, die am Halsausschnitt der dunklen Jacke lag. In diesem Augenblick, zurückfahrend, ließ er seinen Schirm fallen, der gegen den Zaun schlug, und aus dem Garten rief nach Sekunden eine männliche Stimme halblaut: »Ist da wer?«
Georg bückte sich nach seinem Schirm, fand ihn, da war alles still. Plötzlich erloschen die Fenster, gleich darauf knarrte eine Tür, er sah das dunkle Rechteck einen Fuß hoch über dem Erdboden, ein Schatten war darin, ein helles Gesicht; eine Gestalt, weiblich, die etwas Weißes in der Hand hatte, erschien auf einem Wege, der am Zaun vorüberführte, unverborgen durch das noch durchsichtige Strauchwerk, und Georg hörte die Männerstimme wieder, fragend: »Renate?«
Es war still. Der Name, durch die schweigende Nachtdämmerung gerufen, hallte ihm sonderbar durch das Herz. Er zauderte noch, dachte: Jetzt ists am besten! ermannte sich und sagte laut:
»Ich bin hier, Anna, Georg!«
Nun denkt sie freilich, ich habe sie überraschen wollen, dachte er zuckend. Das Buschwerk rauschte auf, teilte sich, Annas Gesicht erschien, er sah ihre Augen, ein wenig zusammengezogen aus Kurzsichtigkeit, er hörte sie atmen, sie schrie leise auf: »Wahrhaftig, Georg!« und streckte die Hände aus. Rasch wieder loslassend, tastete sie am Zaun, eine Tür ging auf, sie stand atmend vor ihm, er sah ihre lieben, zarten Züge, die Augen, dunkel und groß offen, fühlte die Wärme ihrer Hände, war ganz glücklich. Er schloß aus einer Bewegung ihres Arms, daß sie ihn küssen wollte, und sagte hastig: »Hier ist noch jemand, Anna, erkennst du ihn?«
Da stand Maler Bogner. Sie jauchzte, lief auf ihn zu, packte ihn an den Schultern, wirbelte wieder herum, lief durchs Pförtchen, sich duckend unterm Gezweige, in den Garten, rief: »Renate! Renate! komm mal schnell her! hier ist wer!« als könnte der Maler gleich wegrennen.
Sekunden später sah Georg sie wieder sich unter dem Strauchwerk bücken, eine weibliche Gestalt an der Hand mit sich ziehend, die sie nun losließ. Ein Frauenarm hob mit schöner Gebärde Zweigbogen empor, ein weißer Schal sank ihr vom Kopf auf die Schultern zurück, ein weißes, schmales Antlitz erschien mit gesenkten Lidern, die Lider hoben sich, und durch Georg, den zwei nächtige Augen anblickten, zuckte ein blendender Schmerz, der ihn erschütterte vom Kopf zu den Füßen, bis er langsam, taumelnd, begriff, daß es eine Seligkeit sein mußte und kein Schmerz.
Es war nun wie ein Traum oder ein Reigen.
Dunkel wars, wie immer in seinen Träumen, und wie in Träumen vollzog sich alles nur; er war dabei, er tat auch mit, aber es war alles ohne seinen Willen im Gange. Ein Reigen, ja, nach einer unhörbaren, ungeheuren Musik in den Lüften.
Die Fremde stand da, aufrecht. Sein Herz zuckte im Übermaß der Süße hin zu ihr, zu dieser hohen, unbeschreiblich schlanken Gestalt im weit gebreiteten, schwarz glänzenden Kleidrock; zu dieser schmalen Stirne, umrahmt vom Haar, dieser stolzesten Biegung der Nase, – aber sie sah ihn ja gar nicht an, sah vorüber an ihm in das Dunkel. Dort aber stand Bogner, und sie sagte mit einer heiligen Stimme einfach: »Ich bin Renate ...«
Bogner trat herzu, sie streckte den Arm aus; Bogner verneigte sich, faßte ihre Hand, und ihre Stimme machte sich wieder auf, machte die Luft süß um sich her und sagte: »Willkommen, lieber Freund.«
Ah, die Beiden kannten sich! Ja, so war das in Träumen. –
Nun verbeugte sich Georg, bekam eine federleichte Hand für den Hauch eines Herzschlags zu empfinden, und zu sehn, wie ein zartes Gesicht sich durch ein Lächeln der Mundwinkel und der Augen in solchen Liebreiz verwandelte, daß er hätte schluchzen mögen, und dennoch ertrug er den Blick dieser Augen, die so schwarz waren wie Winternächte. Auf einmal war er dann durch ein Dickicht in einen Garten gelangt.
In seinen Schläfen brannte es und sauste. Er glaubte blind zu sein und sah doch alles, nur alles sonderbar langsam und ohne es zu begreifen. Er gab auch mit leiser Stimme einige Erklärungen über sein Hiersein ab. Wem? Irgend jemand, der in der Nähe sein mußte, doch nun kam etwas dazwischen, ein gewaltig großer Unbekannter, schwarz, der glühende Augen und eine kleine Bartfliege am Kinn hatte und ihm die Hand gab und sagte: »Montfort.«
Annas Stimme schlug an sein Ohr, und er hörte die Worte:
»Hast du von meinem Papa gehört? Es geht ihm nicht gut! Ja, denke dir, er hat einen Schlaganfall gehabt, ganz leicht nur, aber – – und ich soll nicht kommen, er hat extra so telegraphieren lassen, was kann das bedeuten?«
Ja, was konnte das bedeuten? Papa? Was für ein Papa? – Immerhin sagte er irgend etwas und sah auf einmal Annas Hinterkopf mit aufgesteckten Flechten vor sich, der ihm sehr unbekannt vorkam. Sie sagte: »Siehst du nun?«
Plötzlich flammte in der Höhe über ihnen ein Licht so grell auf, daß er die Augen zukneifen mußte. Nun war es unglaubhaft hell.
»Richtig,« sagte er, »der Mozartkopf ist ja weg!« Darum sah sie wohl so verändert aus.
Ja, es war ein Garten. Buschwerk und hohe Bäume überall. Georg bemerkte, daß er auf einem Wege stand, der rund um einen großen, kreisförmigen Rasen führte. Drüben war das Haus, grau, mit einigen hellen Fenstern, davor eine Veranda mit breiter Treppe in der Mitte. Es war ganz still. In den Lüften oben rauschten Blätter.
Rechts dicht neben ihm stand wirklich Anna. Ihr Gesicht, wie er es nun von der Seite sah, schien schmaler, die Stirn dagegen breiter geworden, und etwas fehlte ganz gegen früher; was, wußte er nicht. Wohin sah sie denn? Ah, da standen die Beiden!
Ein paar Schritte voneinander entfernt standen sie Beide so, daß Georg sie fast von Rücken sah, Bogner etwas breitbeinig, die Hände hinter sich, das Gesicht leicht geneigt, als ob er zuhörte, auf die Erde blickend; Renate wuchs mit der schwarzen Glocke ihres Kleides aus dem Rasen empor, und über ihren Rücken hing das große weiße Dreieck eines glänzend bestickten Schulterschals mit langen Fransen herunter. Sprach sie denn? Nein, sie schwieg. Georg lächelte wunderbar zufrieden, denn nun konnte er sehen, daß sie eine Hand am Kinn hatte, den Ellbogen vermutlich in der andern, so wie er es einmal in einem Briefe gelesen hatte.
Und dort ganz links, am hohen Pfahl einer von oben hangenden elektrischen Lampe stand dieser Unbekannte mit der Bartfliege, eine Hand hoch über sich gegen den Stamm stützend, die Füße gekreuzt; die andre Hand hielt eine dicke Zigarrenhälfte, und seine Augen waren dunkel, fest und ruhig auf Renates Rücken eingestellt.
Ich bin Renate ... hörte Georg eine singende Stimme durch den Garten verhallen ...
Ja, jetzt sprach sie. Auf einmal zeigte sich ihr Profil, die Linie der Stirn, die stolze Biegung der Nasenspitze, der Mundwinkel, der sich redend bewegte, und die leise auf und nieder gehenden Wimpern des Auges, die in sanftem Wechsel den Blick zu Boden und zu Bogners Zügen emporlenkten. Georg verstand kein Wort, doch war es ein zauberhaftes, unsterbliches Spiel.
»Und Bennos Mama ist nun tot ...«, sagte Annas Stimme.
»Er war wohl sehr traurig?« fragte Georg. »Ja, nun müssen wir wohl gehn,« setzte er willenlos hinzu.
Renate und der Maler schritten schon nebeneinander über den Rasen. Ihr Kleid rauschte. Nun waren sie an der Veranda vorüber, da war die Hausecke, daneben ein Dämmergang; in den verschwanden sie. Jetzt war er selber in Bewegung, blieb aber wieder stehen, da jener Montfort seine Haltung löste, reichte ihm die Hand und preßte: »Guten Abend« zwischen den Zähnen hervor. Anna neben sich begab er sich weiter. Sie kamen in den Gang zwischen Haus und gebüschverdeckter Gartenmauer, und nun wußte Georg, daß er etwas Liebevolles zu sagen habe, murmelte auch etwas derart und legte eine Hand um ihre Schulter.
Sie blieb stehn, sah ihn lange und durchdringend an und sagte: »Bist du's denn, Georg?«
Er lächelte, verlegen im Innern, und antwortete besinnungslos: »Ja, siehst du nicht, daß ichs bin?«
Plötzlich dicht vor ihm stehend, zog sie sein Gesicht mit beiden Händen zu sich herunter, küßte es heftig, legte die Stirn gegen seine Schulter, atmete tief auf und sagte leise: »Gott sei Dank!«
Danach war sie verschwunden.
In einem dumpfen Gefühl der Wehmut ging Georg weiter den Gang hinab, wo ihm nun auf einem glänzenden Wege von Steinplatten durch einen Vorgarten die Gestalt Renates leis rauschend entgegenkam. Unfern dahinter stand Bogner vor einem hohen Gittertor im grünlichen Licht einer Straßenlaterne.
Noch glaubte Georg, zu Boden sinken zu müssen, auf die Knie, gleichviel was, nur liegen, unten sein, – als sie bereits vor ihm stand, die Hand ausstreckend, die er faßte.
Niemals loslassen! dachte er hülflos und sagte kaum hörbar: »Gute Nacht!«
»Gute Nacht!« hörte er sagen. Duft entschwebte. Es rauschte. Schritte verhallten leicht, und er war allein.
Jedoch Bogner war noch zugegen. Sie gingen langsam nebeneinander die dunkle Gartenstraße unter Bäumen hinunter, deren zartes, grünes Laubwerk durchsichtig schimmerte im Licht der Laternen. Auch zarte Schatten, fedrige, waren auf den Weg gestreut, und wie zart erst war die Berührung der Luft, die um das Herz strich wie sonst um Stirne nur und Lippen. Allein sein! flehte Georg, oh nur erst allein sein! Die unerhörten Kleinodien, die er davontrug, von ihrer Hülle zu befrein, darüber sich zu werfen mit bloßem Herzen, Gold und Juwelen, Gold und Juwelen! – Er glaubte, jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Vielleicht waren das die Kleinodien, die er trug, nachwachsend noch immer, wie ein Frühling, in seiner verwandelten Brust. Da fühlte er einen Tropfen auf der Oberlippe, aber der war kühl. Es regnete leise. Die Nacht, ach, sie hatte es gut, sie löste sich weich in Regen auf. Oder lag dort oben ein selig Weinender auf den Sternenbergen, schluchzend unhörbar durch die geheimnisvolle Nacht, und Wellenfrauen des Windes kamen und trugen seine tränende Glückseligkeit hinunter auf dankbares Land.
Bogner sagte etwas. Ob er es auch gemerkt habe –?
»Was?« preßte Georg hervor, der kein Wort verstanden hatte.
»Es war etwas nicht in Ordnung in dem Hause.«
So, Bogner hatte es gemerkt. Er konnte etwas bemerken. Ein Stein war Bogner.
»Sie machte eine Andeutung,« setzte er hinzu.
Georgs Gedanken fingen einen Veitstanz an. Andeutung, sagten sie, an Deutung, Deutung, Traumdeutung, reich an Deutung ...
Die Straße war zu Ende; sie standen vor dem breiten Damm der Chaussee, gegenüber der elektrischen Zentrale. Glimmende Gleisbündel waren von links und rechts in die matterleuchtete Halle hineingebogen, unter der leere Wagen standen, die einen hell, dunkel die andern, und vorne war ein hellglänzendes Zifferblatt, dessen Stunde Georg um keinen Preis der Welt abgelesen hätte. Die Augen ablösend, sah er rechts weit hinunter die Straße in eine waldige Halle davon ziehn, unten glimmend vom Stahl der Schienenstränge, oben von Laternen. Mitten auf dem Damm stand ein verlassener Anhängerwagen, dunkel und einsam. In ihm hätte Georg auf einem östlichen Gebirge sitzen mögen, still der Feuerrosse, die ihn entführen würden, wartend.
»Gute Nacht,« sagte der Maler auf einmal, gab ihm die Hand und entfernte sich über den Damm in eine dunkle Waldstraße neben der Zentrale hinein.
Links hinab entrollte die Landstraße fernhin mit Bäumen und Laternen durch offenes Land. Ein paar rötliche Lichter waren fern drüben. Georg sah zu der Laterne auf, die neben ihm stand, nicht untröstlich, vielmehr schien sie eben angelangt zu sein und froh, ihn noch erreicht zu haben. Ihr Glühstrumpf brannte hell genug, obwohl unten ein Ring sich abgelöst hatte, und das Licht schwoll leise ab und an in dem zarten Gazegewirk, wie wenn ein kleiner Gott die Backen aufbliese, ganz atemlos vor Anstrengung des Leuchtens. Auch dieser sechseckige Glaskasten schien eine angenehme Homunkulusphiole; leise glitzernd wehte der Regenschleier um sie hernieder wie ein endloser Gestirnsnebel. Auf einmal stieg das Weinen in Georg auf, da schien ihm das unmännlich, er zerdrückte es schmerzhaft in der Kehle, – bis zum Munde, der fest blieb, gelangte es nicht, nur die Augen wurden feucht, ihre Winkel schmerzten, ein Stein marterte den Kehlkopf, er lächelte, schüttelte den Kopf und ging links hinunter der Stadt zu.
Und so trug er denn sein aufgeregtes Herz die nächtige Landstraße hinunter, ermuntert vom Takt seiner Füße, wandernd plötzlich kriegerischen Mutes, selber allein ein ganzer Heerbann, in Eilmärschen durch die letzte Nacht, um am Morgen mit allen Fahnen und riesigem Schrei in die Länder hinabzusteigen zur Eroberung. Renates Antlitz, weiß im Dunkel, ging ihm auf, wie es die Lider aufschlug gegen ihn, und ihre Blicke setzten sich wieder auf sein bloßes Herz wie Schmetterlinge, daß es ihn durchschauerte. Wogen seines Herzens, in denen er dahinging, schleppte er mit sich, hin und wieder stand eine auf vor ihm und schlug mit voller Kraft auf seine Brust, daß er ringsum erdröhnte, als sei er gepanzert. Goldene Wagen kamen ihm leuchtend entgegengestürmt; hergeschleift von gewaltigen Geistern über eisglatte Schienen, schaukelten sie vorbei, voll von fremden Menschen, die in ihrer Haltung saßen wie Sklaven, angefesselt und ohne Bestimmung. Wenn er den Kopf aufwarf, so erblickte er zwischen feuchtem Gewölk Sterne, die sich zitternd bewegten. Die Lüfte waren angefüllt mit Geräuschen des Frühlings, mit unsichtbaren Antlitzen, die sich lächelnd unterhielten im Vorbeiziehn, mit Musik, die aus dem Erdboden stieg wie aus Kratern voll elysischer Orchester und durch schaudernde Wipfel rollte. Sein gesalbter Blick öffnete das Erdreich, er sah die Wurzelwipfel der Bäume nach unten hangen, goldene Trauerweiden durch wolkiges, pelziges Schwarz, besetzt mit Tausenden roter Rubinaugen, die Licht saugten und grüne Speise aus dem erwärmten Dunkel. An einem Baum übermannte es ihn; freundschaftlich schien der borkige Stamm, er nahm den Hut ab, als trete er in ein Haus, lehnte die Stirn gegen seine Tür, bewegte die Lippen und brachte kein Wort hervor. Da ein feuchter Wind aufrauschte und schnellfüßig vorüberlief, fiel ihm ein, daß Frühling sei, und er ward froh. Da dachte er an Renates Brust, er hatte sie nicht gesehn, aber schon stand er, versunken in ihren marmornen Anblick, in einer roten Lohe, einer Flammenpappel, in der sich sein Wesen verzehrte, während er einen Pulsschlag lang nun unter sich ihr Gesicht sah, ihre Schultern, deren Bewegung ihm Atem und Sinne zerschnürte, ihre Arme und die Brust, alles aus den großen Augen voll rieselnder Zärtlichkeit schmachtend und widerstrebend, so daß er sich gern an die Erde geworfen hätte, um zu stammeln und zu weinen. – Einmal! sagte er sinnlos, Gott, nur einmal! –
Endlich ging er wieder, nun nur noch tönend von Gefühl, gleicherzeit hoffnungslos und erhaben, schwermutvoll und getröstet, gottesfürchtig und niedergeschlagen, so voll tosenden, innerlichen Lärms, als wäre seine Brust ein ehernes Paukenbecken, auf dem Dämonen trommelten, – all dem hingegeben mit Wollust der Bewußtlosigkeit, da Gedanken, sinnlos, wie Irrlichter, seitwärts über die Kartoffeläcker enthüpften, aber in den Straßen der Stadt nahm es langsam ein Ende, bis er sich vor etwas absonderlich Bekanntem fand, dem Kaffeehaus im Mittelpunkt, einer großen Anordnung von gläsernen Kästen mit erleuchteten, gelb verhangenen Spiegelscheiben um einen runden Mittelraum, mit eisernen Pilastern und Pavillondächern.
Hier war es nun aus. Es wimmelte auf dem Bürgersteig vor den Läden von gemächlich Spazierenden, Ladenmädchen in Frühjahrsblusen und Ladenjünglingen in Wintermänteln; es wimmelte auf dem schwarzglänzenden Fahrdamm von Asphalt, Straßenbahnwagen schoben sich unaufhörlich von beiden Seiten zusammen, es klingelte, kreischte, Automobile tuteten, Radglocken schrillten, und Georgs hülfloser Blick, nach rechts oben entgleitend, fand sich von einer gewaltig großen Mondsichel angezogen, die dort in der Nacht schwebte, überflattert von weißlichem und schwarzgrauem Gewölk.
Nun also war alles, was ihm zu tun blieb, daß er sich in eine stille Kaffeehausecke setzte, anstatt in eine große Dreschtenne mit kauenden Leuten, denn essen mußte auch er. Der Hunger äußerte sich in einem Verlangen nach natürlicher Speise, gekochten Eiern im Glase mit Butterschnitten, das wars.
Er zauderte. Er wußte, daß er ein Ende machte, wenn er drüben eintrat, in jene kleinen Zimmer, die er so wohl kannte aus Ballnächten, Ballmorgenden, mit den zerknitterten und zerzausten Bürgermädchen und ihren schrecklich zukunftallegorischen Müttern, unter Gewitzel und Gekicher, mit dem rotblonden, naseweis aussehenden Kellner Gustav und Frithjof dem ältlichen, mit dem runden und blassen, niemals rasierten Gesicht und dem hängenden rechten Augenlid, der so gern vom Weib und den Kindern erzählte. Ach, nicht dieses wars, nicht etwa diese kindischen Erinnerungen warens, sondern – das Ende, ja, das Ende, das kam, der Übergang ins Gewohnte, in ein Andres, und daß sich – oh mein Gott, daß sich niemals herauskommen ließ aus der unendlichen und unzerreißlichen Kette der Vorgänge. Daß es doch ein Mal einen Stillstand gäbe, einen Halt am Abgrund, wo zitternd im Rollen das Herz stillehält unter den Füßen der flüchtigen Stunde, die selber nichts tut als Ausschau halten über die Abgrundswelt und im Ausschaun unvermerkt hinüberschmilzt in die ernste Gestalt der Unendlichkeit. Welcher der Götter hält denn den Becher der Ewigkeit bereit, wenn nicht dieser ihn hat, Eros, dem doch die Posaune des Jüngsten Tags an die Lippen gesetzt ist?