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Achtes Kapitel: März

Magda an Georg

1. März

Mein lieber Georg!

Wunderbar ist das, was Du von den Bildern schreibst, ganz einzig! und dank des Riesenpakets von Abbildungen, das Du Lieber mir geschickt hast, kann ich mir schon eine Vorstellung von diesen Herrlichkeiten machen, wenn auch die Farben fehlen. Trotzdem – darf ich das sagen? – hat Dein Brief mich doch mehr erschreckt als erfreut. Es ist ja vielleicht nur, daß ich nur diesen bekommen habe, und daß mir deshalb Deine Begeisterung so – ja, ich finde nur das Wort ›verzweifelt‹ erscheint. Ich sehe immer nur den Hintergrund von Leiden, den Du andeutest, und Du weißt ja wohl, daß Geahntes viel mehr ängstigt als Gewißheit, und deshalb möcht ich Dich so sehr bitten, daß Du mir schreibst, was das eigentlich ist, worunter Du zu leiden hast. Das Buch, von dem Du schriebst, hat ein Freund von Renate mir geliehen. Sie selber kannte es – was kennt die nicht? –, und sie und er sagten Beide, das Buch habe unendlich Tüchtiges gewirkt, wenn es auch für Leute mit künstlerischem Geschmack unlesbar sei. Mich hat es traurig gemacht, o so traurig! Renate und ich und auch ihr Freund – er heißt Saint-Georges, ein feiner, stiller Mensch – haben viel darüber gesprochen. Darf ich mich denn gar nicht sorgen um Dich? Und es erleichtert Dich doch vielleicht, wenn Du davon sprechen kannst.

Denke Dir, mit Deinem Freunde Benno P. hat es mit einem so komischen Malör angefangen! Als er uns besuchte, waren wir nicht zuhause, wie das so geht, dann schrieb ich ihm gleich und bat ihn auf gestern nachmittag. Um vier kam eine Freundin von Renate, die ihn auch gern kennen lernen wollte – sie ist Pianistin und spielt himmlisch! – da gingen wir in die Orgelkapelle, und Renate trug dem Diener auf, Herrn Prager dorthin zu führen, wenn er käme. Wir fingen dann an, Musik zu machen, und er kam nicht, und wie es gewöhnlich geht, vergaßen wir in der Musik alles andre, und auf einmal war es nach sechs Uhr, und Renates Freundin wollte fort. Wir gehn ins Haus, durch die dunkle Halle, Renate macht Licht, – da steht da ein Mensch, lang und mager mit ganz geblendeten Augen ... Denke Dir, da hat der Diener statt Kapelle Halle verstanden, und der arme Mensch hat zwei Stunden im Finstern verbracht und glaub ich nicht mal gewagt, sich hinzusetzen. Lieber Gott, war er verstört, und nun auf einmal Renate vor ihm, und noch zwei Mädchen, und Renate, die an und für sich schon das Schönste auf der Welt ist, in einem erdbeerfarbenen, weiten Atlasrock und enger, schwarzer Samttaille mit halben Ärmeln! Er hat die Augen kaum aufgeschlagen. Schließlich ists uns aber doch gelungen, ihn in die Kapelle zu ziehn, – ja, und wie er dann vor der Orgel saß und Mut schöpfte in einer Fuge, und dann ganz leise anfing zu phantasieren – ganz leise, aber, wie Frau Tregiorni sagte: sichtbarlich erdbeerfarben – ja, da konnten nun wir still werden und die Augen niederschlagen, und er saß mit verklärtem Gesicht wie ein Heiliger vor den großen Pfeifen.

Leb wohl, Georg! Ich würde so gern Dein Herz leise streicheln oder Dein Haar, wenn ichs dürfte.

Deine
Anna

 

Benno an Georg

Altenrepen, am 1. März

Mein lieber Georg!

Ein Brief! Ein wirklicher Brief von Dir! Und wie Du Edelmütiger mich wieder darin beschämst! Nicht nur mit Worten, indem Du Dein langes, meiner Selbstsucht freilich schmerzliches Schweigen entschuldigst, sondern vor allem wieder mit Taten, da Du doch trotz Deiner traurigen Lage Zeit fandest, an mich zu denken und für mich zu sorgen! Ich bin nun sehr traurig, Georg, daß Du so fremde Dinge durchzumachen hast, – auch in Liebesdingen scheinst Du ja merkwürdige Abenteuer erlebt zu haben –, ich denke aber, Dir selber wird es das liebste sein, wenn ich auf all das schweige. Womöglich könntest Du Dich bemitleidet fühlen, was, wie ich Dich kenne, das Allerschlimmste für Dich wäre. Dafür erzähle ich Dir lieber von dem Wundervollen, das ich Dir verdanke, dem Märchen, in das ich mich durch Dich nun versetzt glaube, denn noch immer scheint es mir, als wäre alles ein Traum, das Erste und alles Folgende, daß ich nun in dies kostbare Haus zu Deiner Freundin und der ihren zugelassen bin, diese edlen Frauen selber, deren Umgang ich genießen darf, – aber nein, höre nur den Anfang, er sagt alles!

Ja, acht Tage hat es freilich doch gedauert, bis ich die angeborene Furchtsamkeit, an der ich nun einmal leide, und die Menschenscheu und Vereinsamung, die sie seit langer, ach, so langer Zeit nun schon vermehren, abzuschütteln vermochte und mich nach der Güntherstraße auf den Weg machte. Als ich dann das prächtige Patrizierhaus in seiner ehrfurchtgebietenden Zurückhaltung hinter den verschneiten Zweigen seines Vorgartens liegen sah, entsank mir doch wieder der Mut; die Hand auf der Klinke des hohen Eisenportals stand ich lange, bis ich erschreckt meiner eigenen Körperlänge inne wurde, deren Schmalheit andrerseits doch nicht genügte, mich hinter den eisernen Lilien des Tores zu verbergen, und so ging ich den Gartenweg bis zur Haustür, um dort – zu meiner rechten Erleichterung – von einem lieben, alten Diener zu hören, die Damen seien nicht anwesend. Er bat mich aber um meine Adresse, und siehe da, schon am andern Morgen brachte meine Schwester triumphierend ein Brieflein, von zierlicher Mädchenhand mit meinem Namen beschrieben. ›Lieber Herr Prager‹ schrieb Deine Freundin, und ich war wieder einmal erstaunt und entzückt von dieser Schlichtheit der Vornehmen, die sich nicht mit ›sehr geehrten Herren‹ usw. das Leben steif und sauer machen. Und wieviel zuversichtlicher ich drei Nachmittage später, wohin ich ›zu einer Tasse Tee‹ bestellt wurde, die Klingel zog, kannst Du Dir denken. Diesmal wars ein weibliches Wesen, das mir öffnete, ich ließ ihr meinen Mantel und wurde von ihr in eine weiße Tür hineingelassen.

Und da begann nun das Wundersame! Es dämmerte bereits, als ich kam, und nun befand ich mich in einer mächtigen Halle, verdunkelt durch eine breite Veranda, die durch eine Glastür und die Fenster zu sehen war, und draußen lag ein großer und schöner Garten in weißer Winterstille. Ein helles Feuer brannte aber von gewaltigen Buchenscheiten im breiten Kamin, an der Wand den Fenstern gegenüber, und davor saß eine große, gelbe Katze, ganz unbeweglich, hatte ihren buschigen Schweif hinter sich stehn, streifte mich nur mit einem glimmenden Blick und fuhr fort, ganz steif die glühenden Augen in das Feuer zu richten. Ihr Schatten, ganz groß, bewegte sich so merkwürdig hinter ihr, – ich dachte wahrhaftig, es sei eigentlich ein Mensch! Es war wie bei E. T. A. Hoffmann. Schöne, tiefe Sessel standen überall umher, an den Wänden hingen altertümliche Gemälde mit Jagden und Nymphen, soviel ich im Dunkel dort oben erkennen konnte, es blieb ganz still, und überall waren Türen zu dunklen und warmen Gemächern offen.

Wie ich aber noch stehe und nicht weiß, ob ich mich vor dem großen Tier nicht doch lieber verneigen soll, so beginnt auf einmal die wunderbarste Musik. Ein Harmonium schiens, gedämpft und von fern, aber die Töne waren so voll und brausend, die Stimmen so zahlreich, daß ich doch an eine Orgel zu glauben anfing. (Es war auch eine!) Da trete ich unabsichtlich der Glastür näher, und was sehe ich? Etwas links im Garten sind drei geheimnisvolle, hohe und schmale Bogenfenster erleuchtet; eine gotische kleine Kapelle ists! Wie mir da war! Ich glaubte ja verzaubert zu sein! Ich stand und lauschte nur, ich kam gar nicht auf die Frage, weshalb man mich hier allein ließ, der schöne Name Montfort, den ich überm Hauseingang las, flügelte so durch mich hin, auf einmal stand das magische Tier auf, kam zu mir und strich leise murrend an meinem Schienbein her, wobei es den Kopf zu mir hochhob und sein Rücken so hoch und krumm wurde wie ein Bogen. Kein Ende nahm die rauschende Orgelflut, und gab es einmal eine Pause, so knisterte das Feuer und die Stille, und die drei edlen Fenster leuchteten durch das Dunkel und den Schnee – ganz so wie es bei einem lieben, alten Lampenschirm war, den ich als Junge einmal für meine Mutter zu Weihnachten klebte ...

Wie lange es gedauert hat, wußte ich nicht. Nun, mir ward die Zeit nicht lang ... Auf einmal aber, wie die Musik wieder schweigt, erlöschen mit einem Zauberschlage alle drei Fenster, der Garten liegt still und dunkel im Schneelicht, dann höre ich weibliche Stimmen und Lachen draußen, Gestalten erscheinen im Dunkel, es bewegt sich die Glastür, und es kommen drei herrliche Frauen herein! Ach, Georg, mir stand ja das Herz still, als ich die eine sah! Denke Dir, sie trug ein ganz großes, weites Kleid von erdbeerfarbener, glänzender Seide, die Taille war schwarzer Samt, die halben Arme bloß, – aber nun erst ihre Züge! – Es war eine erschreckende Schönheit darin, ja, nur so läßt es sich nennen, eine erschreckende Schönheit. Sie ist sehr groß – oder schien es wenigstens zuerst – nein, ich kann sie nicht beschreiben. Ihre Haut war von solcher süßen Zartheit und wie golden innerlich, das Haar – von einer seltsamen, hellbraunen Farbe mit rötlichen und goldenen Hauchen – trug sie über der Stirne gescheitelt, so daß diese frei blieb in ihrem ganzen Adel, dann nicht einfach zu den Ohren gelegt, sondern rund um die Stirne und, an den wundervollsten, langen, gebogenen Brauen vorüber, ganz tief nach unten und nun erst zurück, wie auf alten Bildern aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Und erst der Mund! Und wie sie nun stehn blieb und ihre tiefschwarzen, strahlenden Augen auf mich richtet und gleichzeitig erstaunt die eine Hand an das Kinn legt und den Ellbogen in die andre und so sinnend steht und mich lächelnd betrachtet – kannst Du Dir denken, wie mir da war?

Es war Fräulein Renate von Montfort, die Freundin der Deinen. Ja, die ist nun sehr lieb und auch schön und so anmutig, vor allem aber gewiß herzensgut. Sie kam gleich auf mich zu und lachte und fragte mich alles Mögliche, was ich gar nicht verstand, dann mußte der Diener kommen und das Mädchen, es schwirrte alles um mich herum, irgendein Mißverständnis war geschehn, die Damen entschuldigten sich, daß ich hatte warten müssen, – du lieber Gott, ich war ja froh darüber, wie es gekommen war. Die dritte war eine Freundin des Fräuleins, ihr Name wurde mir nicht gesagt, doch nannte das Fräulein sie Ulrika, und sie hatte wunderschönes, dunkelrotes Haar und ein klares, ernstes Gesicht mit ganz prachtvollen Brauen. Sie ist Klavierkünstlerin. Ja, nun gingen sie alle wieder mit mir in die Kapelle, und es war wirklich eine Orgel darin, ich habe auch ein wenig gespielt, und das Fräulein spielte, und wie sie da wieder vor den großen grauen Pfeifen saß in ihrem ausgebreiteten Kleid und mit leicht zurückgelegtem Antlitz – – ganz im Rausch fand ich mich wieder in der Straße und mußte noch lange im dunklen Wald umherlaufen, bis ich zu Eltern und Geschwistern zurückfinden konnte. Oh dieses Antlitz! Oh diese Gebärden voll Anmut und Würde! Ungemein stolz ist ihr Wesen in der Ruhe; sobald freilich die Züge sich bewegen in der Rede und zum Lächeln, – so strahlt Dir ein Sternenhimmel von Seele, Tiefen tuen sieh auf, in denen singende Seraphim mit klingenden Saitenspielen auf und nieder schweben, da greift Dir das Lächeln einer Göttin in die Brust mit unsterblicher Hand, und Du fragst Dich, warum Dir je gebangt ...

Lebe wohl, Georg, Du Guter, nimm diese Zeilen als Dank für das Kleinod, das ich aus Deiner Freundeshand nahm. Ich kann nun nichts andres mehr schreiben, was wäre auch von mir zu sagen! Und ich darf ja nun wieder dorthin kommen, sooft ich will, haben sie gesagt, – ob ich es wage? Ich werde es wagen!

Mit allen guten Wünschen und Hoffnungen bin ich in Dankbarkeit immer Dein treuer

Benno

 

Georg an Magda

München, den 9. März

Meine gute Anna:

Hier, ich begehe eine teuflische Indiskretion und überreiche Dir einen an mich gerichteten Brief jenes Benno P. Es ist mir schlechterdings unmöglich, ihn Dir vorzuenthalten.

Hast Du gelesen?

Ja, da siehst Du, was Ihr angerichtet habt! Lege mich dem Fabelwesen Renate gütigst ganz gehorsam und untertänig zu Füßen, und sie habe mich ihr auf das tiefste verpflichtet durch die wunderbarliche Verwirrung, die sie im Herzen meines lieben Freundes angerichtet habe!

So aber ist er nun, und immer sieht man doch wieder, daß man sich täuscht in diesen guten Bennoleuten. Im siebenten Jahr kenne ich ihn nun, kenne ihn wie gewiß niemand sonst, und wie keine steht mir seine lange und magre Gestalt, dies magre Gesicht mit den schwermütigen Augen, der langen, schwermutvoll herabgekrümmten Nase über dem früh gewachsenen, hängenden rötlichbraunen Schnurrbart vor Augen in ihrer ganzen Unbedarftheit, Hilflosigkeit und Seelenfülle, und so vergaß ich darüber denn völlig den Glanz seiner hohen, fliegenden Stirn unter dem zurückgestrichenen, langfallenden Haar und diesen, doch so oft gesehenen Schillerischen Zug von Kühnheit, Schwung und Adel, wenn er den Kopf zurückwarf und das Haar, um von Kostbarkeiten des Lebens zu schwärmen. Vergaß es und dachte, als ich Deinen Brief, der vor dem seinen kam, las: es muß sie doch immer frieren an ihrer Seele, diese armen Bennoleute. Sie zittern bei jedem Lufthauch wie die geschorenen Lämmerlein, sie sind so unendlich kostbar in unserer windigen Welt, und man sollte sie hüten wie die allerzerbrechlichsten Ziergläser, weil sie so selten sind. Und nun, wenn man sie selber hört, so verhält sich alles ganz anders. Wo unsereiner sie in der allerpeinlichsten Verlegenheit und in Todesnöten glaubt, da stehen sie mitten im Wunder! Ach, man sollte sie in Kirchen hüten wie Reliquien und sie verehren, – aber nun ist es so, daß sie einem immer zuvorkommen. Du möchtest ihrer einem etwas recht Dankbares und Liebes sagen, so hörst Du sie im selben Augenblick sprechen: Wie edel bist du doch! – Hat er nicht von mir gesagt: Georg, – das ist solch ein edler Mensch! – Hat er nicht? Ich sehe ihn ja, wie er seine schwermütigen Dichteraugen aufschlägt und sich krümmt in seiner Magerkeit und seinem schlechten Rock und seiner übergroßen Inbrunst! – Und dennoch sieh: obgleich sie immer zittern und immer ängstlich sind, so sind sie doch die Behüteten. Es sind immer nur Möglichkeiten, vor denen sie schaudern. Wirkliches aber, wirklich Gemeines und Böses kann gar nicht an sie heran, weil sie es einfach nicht sehen; es fehlt ihnen das Organ dafür, – versteh mich wohl, ein Mensch wie Benno ist ja nicht dumm und weiß vom Hörensagen immerhin, wie es in der Welt aussieht, und Du wirst ihn schon bald einmal über die Boshaftigkeit der Welt in eine furchtbare Standrede ausbrechen sehn, aber gieb acht, wie er hinterdrein alles zurücknimmt und für alles einen Entschuldigungsgrund findet; und diese Verzeihung hat er schon zuvor bei der Hand, wenn etwas Gemeines sich gegen ihn richtet, denn diese Menschen sind magnetisch für Gutes und Edles, und durch eine chinesische Mauer von Schmutz und Niedrigkeit lassen sie sich von einem eingebildeten Sandkorn der Güte anziehn, das ihnen alle Verzeihung birgt, denn dies ist die Pflicht, die ihnen auferlegt ist. Weißt Du, was sie sind, kleine Anna? Christen sind sie. Wirklich, es giebt etliche in Europa.

Genug! Von mir nichts! Kehre zum Eingang dieses Briefes zurück und erfreue Dich an der, daraus sprechenden schönen Wallung meiner betrübten Seele. Sei gut zu Benno, ich lege ihn Dir ans Herz – Deiner Renate mich bitte zu Füßen! – Vergiß mich nicht, sei ohne Sorge, schreib aber lieber nicht mehr, es würde mir nur das Herz schwerer machen, denn jetzt kommen ›die alertesten Tage‹ vom Semesterende, die müssen durchgehalten werden.

Leb wohl!
Dein
Georg

 

Georg an Cora

14. März

Teuerste:

Das Semester geht zu Ende, Ende des Monats fahre ich heim, und im nächsten Semester sieht München mich nicht wieder, – sondern? Altenrepen nahe Beuglenburg! Nein, sehen Sie: das, worunter ich hier leide, sind nicht eigentlich Leiden der Seele und des Herzens, sondern des Geistes, nicht Schmerz ists, sondern Empörung, Wut und Ohnmacht über die schändliche Vergeudung, die unsre Jugend mit ihren besten Kräften treibt, da sie sich zwar zur Erziehung zwingt, aber nur zu der allerrohesten und gemeinsten einer – beiläufig vollständig sinnlosen und illusorischen – Abhärtung durch Saufen und Stumpfsinn, so daß man wirklich in Verzweiflung geraten möchte, wenn man dies ihr Ideal eines glattgehobelten Pfahles betrachtet und dagegen die blühende Möglichkeit geistigen Wachstums, Adels und der Reinheit, zu der sie erzogen werden könnten! Ist es nicht haarsträubend, wenn man es sich sagt: zum Stumpfsinn, zum Toben, zum tiefsten Elend der Betrunkenheit darf ich mich erziehen lassen, nicht aber zur Arbeit, zum Lesen guter Bücher, zum Begreifen aller Schönheit in Kunst und Natur! Daß ein Begriff wie völlig nicht vorhanden in der Welt scheint, nämlich der Begriff eines ›noch mehr‹, das ist das Elend. Adel haben sie ja –, arbeiten müssen sie das ganze Leben, also giebt es in den sogenannten ›freien‹ Jahren keine seligere Freiheit, als auf den Tisch zu hauen und den triumphierenden Vers zu brüllen:

Über den erzieherischen Wert des Korps sprach der A. H.
Stürzbesoffen waren sie allda.

Na, da hab ich nun glücklich doch davon geschrieben. Also Sie haben nun eine Vorstellung meines seelischen Zustandes. Übrigens habe ich einige schöne, fast möcht ich sagen, glückliche Wochen hinter mir und mich in einem wahren Sturzbad von Natur, Theater, Konzerten und abermal Natur etwas gereinigt. Das dümmste ist, daß ich versehentlich an ein Säbelduell geraten bin, – ein törichter Abschluß des Semesters. Bisher ist mein Gesicht ja Gott sei Dank verschont geblieben. Wenn ich mich aber mit dem schweren Säbel nicht sehr gut vorbereite, kann das niedlich werden. Es scheint zwar, als ob sie auch für mich die sonst nur für königliches Geblüt geltende Instruktion durchgeführt hätten: mich nur auf den Kopf zu schlagen, aber mit dem Säbel wird sich das schwer durchführen lassen, und da bin ich auch so, daß, sobald ich dergleichen merke, losgehe wie der Satan.

Ach Kind, ach Kind, was ist das alles! Und geht es Sie etwas an? Doch Ihr Brief tat mir wohl; obgleich ich so lange Zeit verstreichen ließ, ehe ich ihn beantworte, werden Sie es mir glauben. Aber verstehen Sie dies Gefühl der seelischen Unsauberkeit, das nun seit geraumer Zeit schon keinen Augenblick von mir weicht und mich fast unfähig macht, das zu berühren, was man eine Seele nennt? Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Ihren Salon beträte, nachdem ich soeben einen großen Morast durchwatete? Sollten unsre Seelen weniger auf Anstand halten? Aber ich brauche Sie und – – aber lassen Sie die Gedichte für mich reden! In ihnen bin ich reinlich. Sehen Sie sie für Kerzen an, ich bitte, stellen Sie sie rund um Ihren Spiegel auf, setzen sich schön davor und erkennen sich glitzernd beschienen wie eine Madonna von Botticelli. Mögen Sie?

Ihnen im Herzen ergeben

Georg

An die Entfernte

Zwischen dir und mir
Liegt so vieler Schlaf.
Drin vergaßen wir
Beide, was uns traf.

Gleichwie graue Hand
Goldgewebe trennt,
So entschwand, entschwand
Unser Firmament.

Stern um Stern bei Nacht
Fiel, – noch einer mehr,
Und ich seh erwacht
Unsern Himmel leer.

Ach, ich seh es kaum!
Schlummernd fremd und fern,
Sehe ich im Traum
Immer Stern bei Stern.

 

Mondstunde

Blaugrau der Himmel; gelb und rund und groß
Erschien der Mond, der so dem Rätselschoß
Des Irdischen entstieg als eine Leuchte.
Und es wird langsam dunkler in der Welt.
An deinem Haupt, o Fremdling, leise fällt
Die Tür ins Schloß, die längst geschlossen deuchte.

Noch hallen Stimmen fern im offenen Feld,
Wie Pfähle schwarz sind Menschen aufgestellt
Am Ufer, schauend droben in das Schweigen.
Sie schwinden seltsam hinnen mit der Zeit,
Und alles wird, als wär es Ewigkeit,
Und keine Uhr wird dir die Stunde zeigen.

Wenn eine Seele jetzt den Strom befährt,
Den du nicht siehst, vom hohen Licht verklärt,
So schaut sie auf wie du und ist nicht bange.
Sie gleitet weiter in die dunkle Welt,
Sie stützt die Hand, die still das Ruder hält,
Und an des Ruders Holz die warme Wange.

So lehnt am Kreuz des Fensters dein Gesicht,
So glänzt dein Antlitz in dem vollen Licht,
So füllt dein dunkles Aug das große Glänzen.
Die tiefe Einsamkeit der Nacht beginnt.
Zu dir ans Fenster tritt ein kühler Wind,
Und du vergehst in seinen kühlen Kränzen.

 

O kehre wieder, süße Angst,
Du süßes Gift, vergifte mehr!
Laß all mich sein, was du verlangst,
Dein Spielgebild, dein Spielbegehr!

Daß eines Scheitels Linie weiß
Im braunen Haar und krausen Bausch
Von fern mich zieht und quält mich heiß –
O banges Glück! O Duft und Rausch!

Ja, daß ich hingehangen such
Entäußrung schwach aus blinder Kraft –
Und wie ein schweres Fahnentuch
In Wind sich legt und sehnt vom Schaft ...

 

Auf ein Bild in meiner Stube

Schönes Antlitz eines toten Traumes,
Wie du dennoch zu verklären weißt!
Wie auf allen Dingen meines Raumes
Dein betrügerisches Lächeln gleißt!

Still! ich weiß es ja! du mußt betrügen,
Weil erloschen du zu leben scheinst
In der zärtlichsten der süßen Lügen,
In der Wehmut eines schönen Einst.

Das Vergangene, ob unlebendig,
Deutlich füllt es die verarmte Brust,
Und du spürst im Dunkel hunderthändig
Geistergriff, den du erdulden mußt.

Ach, das Leben selbst mit Dolch und Feuer
So gewaltig nicht das Herz umspannt
Wie das Augenpaar, das einst dir teuer,
Wie, die liebreich war, die liebe Hand.

 

Georg an Benno

München, den 15. März

Mein lieber Benno:

Nein, nicht zum Freundesbusen, wie so trefflich die Alten sagten, ein tränenreiches Herz darein zu ergießen, komme ich, obwohl es mir beim Hunde elendiglicher geht als je. Davon sei nicht die Rede, das Elend meiner Seele bad ich schon noch alleine aus. Aber dies, dies eine kann ich nicht ertragen, daß ich in Wochen und Wochen nicht ein Mal ein vernünftiges Männerwort über des Nachdenkens werte Dinge über die Lippen bringen soll. Die Gedanken haben sie mir denn doch nicht unter Alkohol und Stumpfsinn setzen können, schwimmen wie die Korken obenauf vielmehr und sind – munter? nein, das nun eigentlich nicht, aber wir werden ja sehn. Zwar verdiene ich es nicht, daß ich wieder zu Dir komme (still, Benno, ich weiß schon! bei meiner Seele, mache mich heute nicht unwirsch!), aber nun liegt die Sache einmal so, daß es sich um Dinge handelt, über die ich mit dem ältesten und lange Zeit einzigen Freunde meines Lebens, meinem Vater nämlich, nicht reden kann; also tu mir die Liebe, Freund, und höre ein wenig zu!

Nun eben, wie ich zu schreiben beginnen will, fällt mir aus dem übrigen Zusammenhang eine neue Frage heraus, nämlich: Was hältst Du von geschlechtlicher Aufklärung? Sieh mich nicht so mißtrauisch an, ich frage im Ernst! Ist es nicht die große Frage jetzt? – Gut, versuchen wir, sie zu beantworten.

Nach meinen persönlichen Erfahrungen wird dabei ständig eben derjenige Haken, an dem die ganze Sache eigentlich hängt, außer acht gelassen und so die ganze Sache verdreht. Eltern, heißt es, können und sollen ihre Kinder, um trübe und gefahrenvolle Irrgänge, Abstürze womöglich ihrer Seelen zu verhüten, aufklären – worüber? Über die Geheimnisse von Geburt, Fortpflanzung, Zeugung. Wirklich, handelt es sich darum? Keineswegs, sondern dieses ist nur der Punkt, an dem die kindliche Unwissenheit einzusetzen pflegt, indem sie – die von Zeugung nicht die geringste Ahnung hat – sich fragen muß, wo die Kinder herkommen. Um was es sich aber, was die Gefahren usw. anlangt, in realibus ganz allein handelt, das ist etwas völlig andres, nämlich der Zeugungsvorgang allein, der Liebesakt. Woher die Kinder kommen, wer sie gebiert, das kann – und soll auch – jedem Kinde frühzeitig klargemacht werden, aber in Unkenntnis auf diesem Gebiet – was läge da für ein Unheil verborgen? Wie aber und von wem die Kinder gemacht werden, das ist das eigentliche Geheimnis, und dies – meines Willens! – kann und soll ihnen von keinem Vater und keiner Mutter gelüftet werden, denn Enthüllungen, Selbstentblößungen würde das bedeuten, die kein Vater vor seinem Sohne vorzunehmen imstande ist; und es würde – allgemein menschlich – eine Schamlosigkeit bedeuten, die allen uralten Erfahrungen widerspricht und auf das heftigste meinem Privatgefühl. Dies sage ich, mit dem sein Vater von früh auf alles verhandelte, alles – bis auf dies eine. Keine Gefahr aber kann so arg, so vernichtend sein, die ich nicht einer solchen Entartung der natürlichsten Anstandsgefühle vorzöge.

Also wäre in dieser Angelegenheit überhaupt nichts zu tun? Nicht eigentlich. Besteht hier eine Gefahr, so ist sie geheiligt durch Alter und so wenig zu beseitigen wie der Schmerz des Gebärens. Eins freilich kann geschehn: Vorbereitung; und an dieser Stelle treffen wir wieder in den Kern der Sache.

Denn – diese Frage erhebt sich nun: woher stammt sie denn, ursächlich, diese Gefahr? Fragen wir zunächst, wie sie sich zeigt. Darin, daß, wie gemeinhin gesagt wird, dem Knaben oder Jüngling von Altersgenossen die Sache auf schmutzige und gemeine Art klargemacht wird, daß ihn vor dem Schmutz und der Gemeinheit der Sache ein Entsetzen packt. Hier also sitzt es. Sind denn etwa diese Dinge gemein und schmutzig? Ja, sagt der Eine; der Andre: Nein! sie sind vielmehr die reinsten und erlesensten. Und dabei wollen wir bleiben. Wir halten uns nun nicht erst bei der Herkunft dieses Gedankens von der Gemeinheit auf – ich beargwöhne das Christentum –, sondern schließen kurz ab: Hier ist der Haken, der Übelstand und die Lasterhaftigkeit. Hier muß und kann Änderung geschaffen werden, allerdings nur durch Generationen der Selbsterziehung von Erwachsenen einerseits, andrerseits durch das, was ich erwähnte: Vorbereitung, die wiederum bei den Vorgängen der Geburt und ihrer Erklärung einzusetzen hat. Wenn nämlich diese schon und die Mittlerin vor allem, die Mutter, dem Kinde als etwas Reines, Heiliges, als das schmerzvolle Wunder, das es ist, hingestellt würden – sollte da nicht von ihnen auch ein Glanz auf das Andere fallen, wieder rein werden, was rein war? Und wo bliebe dann Erschrecken und Gefahr?

Und nun endlich diese beiden Dinge selbst. Sind sie so ausgemacht, so unbedingt? Ja, da kenne ich nur meine eigenen Erfahrungen, und wenn ich da sagen muß, daß ich zwar Nöte, Ängste und Gefahren in diesem Zusammenhange genug durchgemacht habe, aber keine in eben diesem, unserm Betracht, so war ich vielleicht allerdings absonderlich veranlagt. Ich war – sprachen wir nie davon? – ein schlechthin stumpfsinniges Kind, bis tief in die Jünglingsanfänge hinein, und ich weiß heute noch nicht zu sagen, wann mein Gehirn aus jener Denkträgheit, die nie nach etwas fragte, alles hinnahm und sich einverleibte, ohne es nur anzusehn, Weihnachtsmann wie Klapperstorch, und alles so lange benutzte und für gut hielt, bis irgendwie und irgendwoher etwas andres kam, – in meine jetzige Denkrastlosigkeit umgeschlagen ist, die nicht den winzigsten Vorgang unbeobachtet lassen kann und ohne womöglich eine Meilenkette von verknüpften Folgerungen daran zu hängen.

Eine halbe Stunde später

Als ich eben Ausruhens halber die Feder hinlegte und das Geschriebene überlas, sah ich, daß ich an Dinge geraten bin, die nicht im entferntesten in meiner Absicht lagen, aber das schadet ja nichts, im Gegenteil, denn wie ich nun weiter an diese seltsamen und ungeheuren Dinge denke, mich zu erinnern versuche und in meine Kindheit wieder einzudringen, an die ich – infolge jener Stumpfheit vermutlich – keine einzige, deutliche Einzelerinnerung habe – es sei denn an Örtliches –, sondern nur die süßdumpfe, unbestimmte einer unendlichen Zeit der vollkommenen und durch nichts unterbrochenen Seligkeit –, da, gerade noch, wie ich dies denke, leuchtet eine farbige Insel auf. Ich greife zu und – halte diese merkwürdigen Blüten und Strünke, die sich dann mit einigen Verstandesfäden der Auslegung und des Hinzudenkens zu einem seltsamen kleinen Strauß zusammenbinden ließen, und hier ist er.

Der Anfang ist ein wenig grob, doch läßt er sich nicht ersparen. – Da ists gegen Abend, schon ganz dunkel, ich bin – ein kleiner Knabe, übrigens in Helenenruh vermut ich – irgendwo herumgestrichen, und wie ich eben um irgendeine finstre Ecke von Haus oder Gebüschen will, höre ich die breite Stimme eines Knechtes – ich höre sie jetzt noch! – mit unterdrücktem Flehen der Inbrunst zu jemand sagen: Lat meck doch man oinmal vögeln! bloß oinmal! – (Ein Satz, der mir nie aus dem Gedächtnis kam, obwohl ich ihn erst Jahre später begriff.) – Ich erschrak, so wenig ich damals die Worte verstand.

Diese mir völlig unverständlichen Worte blieben in mir hängen, das heißt: bloß so, denn, wie schon gesagt, zerbrach ich mir über nichts den Kopf und fragte auch deshalb nicht. In jener Zeit aber muß es gewesen sein, daß mein Vater, aus eignem Antrieb, mich darüber aufklärte, wo die Kinder herkommen. Ich erfuhr, daß sie in der Mutter wachsen sollen, und erklärt wurden mir auch an Blumen, Bienen und Faltern die Vorgänge der Befruchtung. Sicherlich – das heißt, dies errate ich nur aus dem ganzen Zusammenhang – fragte ich mich damals, wenn auch nur unbewußt: Wer bringt den Samen zur Mutter, die doch so groß ist?

In jener Zeit ferner wohl zum ersten Mal träumte ich einen später wiederkehrenden Traum von einer großen Zahl bekannter und unbekannter Menschen in einem Garten, auf denen eine Menge bunter Vögel sitzen und herumfliegen. – Wie kam ich darauf? Daß ich unbewußt also doch nachgedacht habe, das ist klar, wie aber kam ich auf dieses? Folgendes fällt mir ein:

Oft hörte ich und liebte sehr, besonders abends im Schlafzimmer vor dem Einschlafen, den Gesang der schwarzen Amsel, der noch jetzt mein liebster Vogelgesang ist. Ich konnte den Vogel, der ja immer sehr hoch sitzt, niemals zu sehen bekommen, und da ich damals nun ein Märchen zu hören bekam, vom Paradiesvogel, den man wohl singen hören könnte, aber niemals sehn, so –

– ja, so haben wir nun den ganzen wunderlichen Zusammenhang von Knecht und Traum und der Einbildung, auf die ich mich wohl besinne, daß dieser Vogel es sei, der unsichtbare Paradiesvogel, der den Samen zur Mutter bringt. Und ich rate am Ende wohl nicht falsch, wenn ich glaube, daß mir damals auch gesagt wurde, daß nur Menschen, die sich lieb haben, Kinder bekommen können.

So also verhielt sich meine Vernunft, meine Phantasie. Wie es bei der wirklichen Aufklärung späterhin sich abspielte, das ist mir unbekannt; zu jener Zeit war die kindliche Phantasie allerdings schon verloren gegangen, und so wird wohl mein Verstand die Geschichte mit der gewohnten Bereitwilligkeit als natürlich hingenommen haben.

Schluß, Benno! aber es war eine Wohltat, ach, einfach eine Wollust war es, einmal wieder den Geist zu gebrauchen! Mit mir stehts elend. Mein einziger Freund, ein Literarhistoriker, hat längst den Doktor gemacht und ist fort. Die letzte Mensur kostete mich die bisher heil gebliebene Hälfte meines Schädels, die überdies so zugerichtet wurde mit Lappenschmissen und Knochensplittern, daß ich mich schon langsam darauf gefaßt mache, mit der Kompresse in die Ferien einzuziehn. Und was das schlimmste ist, die Schurken haben meine Abgeneigtheit gegen den Betrieb und mein Korpsverhältnis gemerkt, es gab schon Rügen, Drohung mit Aufhebung der Duldungen wie: meines Nichtmitsingens bei den Kneipabenden –, ach, Benno, Benno, weißt Du, daß ich in Lagen geraten bin!? In Lagen, die ich schlechterdings nicht geträumt hätte? Daß ich meines Standes als Fürstensohn wegen Rücksichten auf mich nehmen lasse? wer hätte das geahnt! Aber mir scheint, ich zerbrach einen Satz. Ja, also das schlimmste ist, daß man mich zur Strafe für meine Flucht nach Wien auf neuerdings vier Wochen hinausgehängt hat, jedoch – für die Ferien. Also bleibe ich über das Semester hinaus im Korps; die ersten Schwierigkeiten für meinen beschlossenen Austritt, – aber genug, zehntausendmal genug! Ostern komme ich! Auf Wiedersehn, Benno, auf Wiedersehn!

Georg

Nun, da haben wir es! Ich schließe, und nicht ein Wort von Deinem Brief! Ist schon solch ein Lump aus mir geworden? Glaubs nicht, Benno, er vergißt sich mitunter, aber meints doch ganz gut, und Du darfst schon glauben, wie seelenfroh, ja, wie glücklich Dein Brief ihn gemacht hat! Ja, diese Renate! Zwar ist mir Deine holde Übertreiblichkeit, zumal bei Weiblichkeit, ja bekannt, aber es stehen doch einige Dinge in Deiner Beschreibung, die absonderlich real anmuten, wie z. B. das Kleid und die Haartracht und vor allem die sinnende Haltung – die mich merkwürdig an eine Feuerbachsche Iphigenienstudie erinnerte – –. Nun, ich hoffe, Du hast inzwischen noch so viel des Wunderbaren dort im Hause erlebt, daß Dein nächster Brief Grimms Kinder- und Hausmärchen in mindestens zwei Bänden werden! In diesem Sinne – lebe wohl!

G.

 

Cora an Georg

Lieber Prinz!

Sie waren in jenem Brief nach Nietzscheschem Rezept mit Peitsche und Zuckerbrot zu mir gekommen; ich gehöre nicht zu den Frauen, die darauf reagieren. Ich reagiere überhaupt nur auf Anbetung, daß Sie's wissen. Also im Ernst, Sie haben mich geschlagen, getreten, mit Hohn und Spott überschüttet, und um Ihnen das zu sagen, schreib ich heut, ohne einen neuen Brief von Ihnen abzuwarten, und nicht etwa deshalb, weil ich nicht warten könnte, mein lieber Junge! Und warum haben Sie mich so mißhandelt? Mein Brief war wohl nicht sehr gemütvoll, aber doch lieb und kokett und tändelnd, ein Andrer hätte mir Hände und Füße dafür geküßt. Bessern Sie sich bald, und um etwas nachzuhelfen, will ich diesen Brief fortsetzen, obwohl Sie es nicht verdient haben!

Also lassen Sie sich erzählen, was in der vergangenen Woche alles war. Montag: Die blaue Maus (Stadttheater) durch Erregung befreienden Gelächters höchst wohltätig. Dienstag: Taufe des armen Rudolf, eines Neffen, arm, weil er getauft wurde, eines köstlichen Bengels übrigens von zehn Monaten, empfing stehend die heilige Taufe und versuchte, den Pastor energisch am Ärmel zurückzuhalten, was aber nicht gelang. Ja, konnte er nun nicht Jude bleiben? Ach so, pardon, Germane, Arier. Diese Ansicht sprach auch mein Schwiegervater aus – der war trotz eines Augenleidens von Altenrepen herübergekommen, um Pate zu stehn, ist das nicht nett von einem alten Herrn? Ach, die Alten sind viel besser und eifriger als ihr Jungen! Ich liebe meinen Schwiegerpapa unbeschreiblich. – Also in seiner Rede, in der er sich ungemein über die Pfaffen aufregte, schlug er an Stelle der Taufe eine feierliche Aufnahme in den Bund der Familie vor. Aber ich glaube, die Familie ist jetzt aus der Mode gekommen, seit man auch nicht mehr Kanapee sagt. Jetzt haben wir Chaiselonguen und Individuen und sind Staatsangehörige, und die polizeiliche Abstempelung genügt für alles.

Wir hatten dann noch eine angeregte Unterhaltung über Gott und die Welt, männliche und weibliche Schönheit, ihre Unterschiede, und welcher wohl der Preis zuzuerkennen sei (meine Kusine Mausi erteilte ihn der männlichen, von ihrem Standpunkt aus hat sie sicher recht. Ach, Sie kennen die Dame ja nicht! Seien Sie froh!). Insofern und indirekt wurde häufig von Ihnen gesprochen, als ich aus alter Gewohnheit beständig alle Herren mit Georg anredete. Sie sehen, wie intensiv Sie mir gewärtig sind. Im übrigen wurde die Unterhaltung sowohl durch Pfirsichbowle wie durch meine stets anderen Ansichten vorteilhaft beeinflußt.

Adieu!
Ihre
Cora

Bekomme ich die unsichtbaren, kriegen Sie einen schönen Tantenkuß ohne Liebe geschickt.

(An den Rändern geschrieben:)

Was macht meine liebe Locke? Hat sie ein Bändchen bekommen?

Eventuell auch einen mit Liebe, den keiner wissen soll.

 

Benno an Georg

Altenrepen, am 23. März

Mein lieber Georg!

Ach, welch ein Magier ist sie doch, ja welch ein unerhörter Magier muß sie sein, die kindliche Seele! Geht sie nicht mit ihren kleinen Schritten so unerschütterlich ihres Weges, ihn vor sich her mit Blumen bedeckend, als käme ein ganzer Hochzeitszug hinterdrein? Was Du mir schriebst, jenes Erlebnis mit dem unsichtbaren Paradiesvogel und dem herrlichen Traum – ich kann nicht sagen, wie mich das ergriff! Zum ersten Male wieder seit langer, langer Zeit wurde das verstaubte Saitenspiel in meiner Brust wieder angerührt und murrte süß und leise. Nun, es wird ja doch alles erstickt. Aber ich habe es jetzt ja unverhofft gut bekommen! Schon zweimal durfte ich wieder in der Güntherstraße sein, einen herrlichen Flügel spielen, das Fräulein bewundern, – ach, spotte Du nur, Du wirst noch Deinen Tag erleben! Εσσεται ημαρ ... Und an einem köstlichen Vormittage – von jenen einer, die schon tief im Frühling sind, wo gelöste Lüfte wie trunken irrende Vögel in trägen und hingebenden Wellenflügen umherschweifen und ein tausendäugiger Himmel der Verheißung über die wolkigen Schneegebirge schaut – an solch einem hatte ich einen herrlichen Waldgang mit Deiner Freundin. Wie immer sprachen wir fast nur von Dir! Lieber Freund, was hast Du für ein Kleinod an ihr! So kindlich oft und dabei so klug, – und nun, wo sie ihre Klugheit auf einen lieben Menschen anwenden kann, ergeht ihrs wie allen edlen Frauen, und die Klugheit entfaltet sich, ihr selber unvermerkt, zum feinsten und zartesten Verstehn. Sie ist wohl sehr in Sorge Deinetwegen, wir sind es Beide, aber nun – es wäre ja noch schöner, zu jammern und den Kopf zu verlieren, zumal Du ja schon sagst, daß diese gräßlichen Dinge um Ostern ein Ende haben werden.

Gerne schriebe ich mehr, lieber Georg, aber Du mußt wissen – ich bin in einer großen Unruhe wegen meiner Mutter. Die jahrelang gleichgebliebene Krankheit hat unversehens eine Wendung zum Schlimmeren genommen, und je mehr wir uns in Sicherheit gewiegt haben, um so erschrockener stehen wir nun, obgleich ja noch nicht das Böseste befürchtet zu werden braucht. Aber ach, wie wandelt sich doch alles, sobald des Todes Name nur von weitem erklingt! wie wird alles unsicher gleich, alles dünn und durchlässig und fremd, jede Hantierung, jeder gewohnte Gegenstand, die allesamt Unruhe ausströmen, sich nicht mehr halten lassen wollen, man legt sie aus der Hand, als würden sie glühend darin, denn nun drängt auf einmal die Zeit, alte Versäumnisse stehen drohend auf, immer wieder fühlt man sich dorthin gezogen, wo das liebe Leidenshaupt die Kissen drückt, eine Handreichung nur zu tun, eine Frage nur, einen Blick, – um am Ende dann doch wieder am Fenster zu stehn in der wachsenden Angst, dies arme Antlitz noch ja zu sehen, recht zu sehen, ehe es sich verwandelt und sich jählings entzieht.

So lebe wohl, Georg! Ich freue mich unaussprechlich auf Dein Kommen und zähle die Tage! Von Herzen Dein

Benno

 

Magda an Renate

Berlin, am 28. März

Ach, Renate! Renate, ich wollte, wir wären nur erst wieder zu Hause! Papa ist ja zu sonderbar geworden! Weißt Du – ich mag es kaum schreiben –, aber weißt Du, daß er trinkt! Er trinkt den ganzen Tag, offen, und, was noch schlimmer ist, heimlich, Liköre und die schwersten Weine. Und diese ganze plötzliche Reise überhaupt! mitten aus der Frühjahrsbestellung, und wozu? Zu Besprechungen mit Leuten, die ich nicht zu sehen bekomme ... Zu mir ist er ja so gut und lieb wie immer, ja wenn das möglich ist, eher noch mehr, aber – ach, ich will lieber stille sein! Jeden Abend gehts ins Theater – da werde ich zu erzählen haben! – es ist wundervoll, und in dieser Beziehung ist er ja wieder rührend in seiner Geduld, bei den längsten und ernstesten Stücken meinetwegen auszuhalten. Wenn Du sehr lieb sein willst, schreibe doch noch hierher, wir bleiben noch einige Tage, Papa meint, ich müßte alles sehn, was Berlin zu bieten hätte. Es ist ja eine reißende Stadt, wie lauter Stromschnellen – ach, ich kann nicht schreiben, vergieb, hoffentlich sind all meine Ängste nur dummes Zeug! In Liebe tausend innige Grüße von Deiner

Magda

 

Renate an Magda

Am 30. März

Mein liebes Herz!

Aber das war ein böser Schrecken, den ich da bekommen hab! Nach Deiner Abreise war es wunderlich still im Hause geworden, ich wartete gespannt auf den heitersten, lebensvollsten Brief, freute mich endlich des Anblicks Deiner Handschrift – – und nun dieser Inhalt! Kaum hat man sich ein bißchen in Sicherheit gewähnt nach den wochenlangen Ängsten um mein armes Kind, – da fängt alles wieder an zu zittern. So kann ich nur innig hoffen, daß es in Wirklichkeit die alten Besorgnisse sind, die in dieser neuen noch einmal mitschwingen und sie ungebührlich verstärken! Ich weiß ja nicht einmal, was ich aus dem, was Du schreibst, machen soll, – es klingt so unbestimmt – und grad darum wohl so gespenstisch. An dem einen Abend bei uns war Deinem Vater ja eigentlich nichts anzumerken; sein Gesicht schien mir etwas geschwollen, doch weiß ich ja nicht, wie es früher ausgesehen hat, da Du in Genf nur dies fabelhaft prächtige Jugendbildnis von ihm hattest.

Von mir ist nichts zu berichten, was Wert hätte, so sehr ich wünschte, es gäbe etwas, das Dich ein wenig auf andre Gedanken brächte.

Doch – – nimm dies ... Es kam gestern nachmittag.

Ich sitze vor meiner Orgel und spiele und merke während des Spielens, daß hinter meinem Rücken eine Veränderung eingetreten ist, kann mich aber nicht umwenden, sondern muß den Satz zu Ende spielen. Langsam drehe ich mich nun mit dem Sessel, und da sehe ich, daß ich mich oben auf der Orgelempore eines romanischen Domes befinde, dessen gewaltig breites und langes Schiff unter mir liegt, in mittlerer Höhe von einer schönen Galerie kurzstämmiger Säulen und Rundbogen umzogen. Das Licht fällt von rechts durch wundersam farbige Fenster in schrägen und breiten Streifen, die von blutendem Rot, von tiefem Blau und von Goldlicht leuchten. Fern drüben, sehr fern ist der Altar, kahl bis auf ein lebensgroßes Kreuz mit dem Heiland daran, doch muß ich plötzlich erkennen, daß es Erasmus ist, der dort an den Nägeln hängt. Er hebt langsam den Kopf, ich sehe in die hervorquellenden Augen und daß die Lippen sich bewegen und Worte formen. Indem sie aber laut werden wollen, schwindet alles. Ich sitze mit dem Rücken zur Orgel.

Die Worte, glaub ich, hießen: Mich dürstet ...

Ja und dies sonderbare Theater fällt mir noch ein, das es vorgestern nach dem Abendbrot gab. Beim Hinaustreten auf die Veranda geriet ich zwischen diese beiden Großen, Josef und Erasmus, am Tage nach Deiner Abreise traf er ein! – Und da kam es so, daß ich sie fragte: Wer von euch Zweien ist wohl der Stärkere? Sie blinzelten sich ein wenig an, dann griff Josef in die Tasche, holte ein Fünfmarkstück hervor, und nach einigen Magiergesten hielt er mir auf jeder Handfläche eine Hälfte hin. – Taschenspielerei! sagte da sein Bruder, kommandierte darauf: Stillgehalten! packte ihn mit der Rechten unterm Rock beim Hosenbund, mit der Linken unten bei den Füßen und – denke Dir nur! – schwang ihn so über seinem Kopf empor und trug ihn die Treppe hinunter in den Garten und weiter, während Josef steif und still mit hängenden Armen wagerecht lag, rund um den Rasenplatz mit langsamen, hahnentrittartigen Schritten. Mich ergriff doch ein seltsamer Schauder, wie der Riese da so stumm durch die Schattendämmerung mit seiner hoch erhobenen Last einherkam, als sähe ich einen riesigen Sklaven den Leichnam seines Königs heimtragen, und ich war froh, als er ihn wieder auf den Boden stellte ...

Aufrichtig, mein Herz: es hat mit diesen Dingen zwar kaum etwas zu tun, zumal ich von Erasmus seit seinem Herbstaufenthalt bei uns nichts gesehen und kaum etwas gehört habe, – aber: auch in diesem Hause scheint mir nicht alles zu sein, wie es – zu sein scheint. Onkel ist so unruhig und oft geistesabwesend, – hast Du es nicht bemerkt? Josef, den ich fragte, zuckte die Achseln und tat hocherstaunt.

Komm bald zurück! Briefe, diese Brücken des Herzens, sind schön, doch mir ist ängstlich: sie lassen uns glauben, daß wir leichten Herzens wie auf breiter, gemauerter Bogenstraße über einen Strom hinüber gehen zu dem, dem wir schreiben, und hinterdrein wird uns klar, daß wir auf haardünner Schneide über einen Abgrund dahingeschwebt sind, und dann erbebt uns das Herz wie weiland dem Reiter über den Bodensee. Also komm bald zurück, mein Armes, ich küsse Dich innig mit ganzer Seele! Deine

Renate


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