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Martha, die vierzehnjährige Tochter armer Leute auf dem Lande, ging eben ihrem Hause zu. Sie hielt einen leeren Waschkorb unter dem Arm, in dem sie Wäsche ausgetragen hatte, die ihre Mutter gebügelt hatte. Als Martha nur noch ein paar Häuser weit von ihrer Wohnung entfernt war, rief eine Bäuerin ihr zu: »Martha, komm einen Augenblick zu mir herein, ich muß dir etwas sagen!«
»Ich komme,« antwortete Martha, ging in das Bauernhaus und dachte: »Was will wohl die Bäuerin von mir?« Als sie in der Stube war, sagte die Frau: »Du weißt doch, Martha, daß meine Tochter, die Walpurg, schon lange in der Stadt als Kindsmagd bei Herrn Merz dient. Jetzt ist sie krank im Spital und der Arzt sagt, sie könne diesen Sommer jedenfalls nimmer in ihren Dienst. Nun schreibt mir die Walpurg, ob ich für ihre Frau nicht ein ordentliches Mädchen wüßte, wenn es auch ein ganz junges wäre, das sofort kommen könnte, und da habe ich an dich gedacht. Du bist freilich noch recht klein für dein Alter, aber du paßt doch besser in ein feines Haus als manche andere, weil du bei deiner Mutter mehr gelernt hast, als sonst die Bauernmädchen hier.« Die Bäuerin wartete auf Antwort. Als aber keine kam, fuhr sie fort: »Deine Mutter ist Witwe und hat mehrere Kinder; ihr wäre es auch zu gönnen, wenn eines aus dem Hause käme und in der Stadt einen guten Verdienst fände. Aber du sagst ja kein Wort, du bist ein dummes Ding, geh nur heim und schicke mir deine Mutter, mit der kann man besser reden.«
Martha ging. Sie war zu sehr erschrocken über den Vorschlag der Bäuerin, als daß sie eine Antwort gefunden hätte. Wie konnte man auch daran denken, sie als Kindsmagd in die Stadt zu schicken! Sie fühlte sich doch selbst noch als ein Kind; erst vor ein paar Wochen war sie aus der Schule gekommen und war immer unter den Kleinsten ihres Alters gewesen. Die Walpurg schien ihr noch einmal so groß wie sie und auch noch einmal so alt; an deren Stelle sollte sie kommen, das war ja unmöglich, die Mutter würde gewiß darüber lachen! Unter diesen Gedanken ging Martha heim und erzählte der Mutter, was für einen sonderbaren Einfall die Bäuerin gehabt habe. Aber zu Marthas größtem Erstaunen fand das die Mutter garnicht sonderbar, sie sprach ganz ernsthaft: »Ich war auch nicht älter als du, wie ich das erste Mal zu fremden Leuten kam, und es ging ganz gut.«
»Ja, Mutter, du, das ist was ganz anderes als ich!« »Warum soll das ganz anders sein? Ich war auch ein kleines Ding und hatte nicht einmal so viel gelernt wie du. Ich weiß schon lange von der Bäuerin, daß ihre Tochter eine sehr gute Stelle hat, bei feinen, ordentlichen Leuten. Da könntest du nur Gutes lernen und dich frühe daran gewöhnen, bei Fremden zu sein. Auch ist außer der Kindsmagd noch eine Köchin da, die dir alles sagen könnte.« »Aber Mutter, ich kenne mich ja garnicht aus in der Stadt!« »Das macht nichts, das lernt sich leicht.« »Ich bin aber doch keine Kindsmagd!« »Warum denn nicht? Hast du nicht schon hundertmal deine kleinen Geschwister angezogen und gehütet, ihre Wäsche gewaschen und gebügelt? Du bist schon mit sechs Jahren mein Kindsmägdlein gewesen!« Martha schwieg. Sie merkte, daß die Mutter sehr dafür war, und sie wußte wohl, daß es die Mutter besser verstand als sie und es gut mit ihr meinte. »Ich will nachher selbst gehen und mit der Bäuerin reden,« sagte die Mutter.
Noch am selben Abend wurde beschlossen, daß Martha den Dienst annehmen sollte, und die Bäuerin schrieb einen Brief und bat, man möchte das Mädchen am Mittwoch Vormittag an der Bahn abholen. Es war Samstag, Martha und ihre Mutter hatten also alle Hände voll zu tun, um in diesen wenigen Tagen Marthas Kleider und Wäsche herzurichten. Und das war gut für Martha, denn über diesem Geschäft konnte sie nicht so viel an den Abschied denken und an die fremden Leute, vor denen sie so Angst hatte. Die Mutter war in diesen Tagen noch ganz besonders freundlich gegen sie, und wenn sie sah, daß es Martha schwer ums Herz war, sagte sie: »Nur Mut! Wenn ich nicht wüßte, daß du zu lieben Leuten kommst, ließe ich dich ja nicht fort! Bleibe du nur gut, dann geht es dir auch gut, wenn vielleicht auch der Anfang schwer ist.«
»Aber Mutter, wie soll ich denn den Weg finden, wenn ich in der großen Stadt ankomme?« fragte Martha. »Die Köchin holt dich gewiß am Bahnhof ab,« antwortete die Mutter. »Aber ich kenne sie ja nicht!« »Du bleibst einfach stehen; wenn sich dann die vielen Leute verlaufen haben, findet sie dich schon!« »Wenn nur der erste Tag schon vorbei wäre!« seufzte Martha.
Am Mittwoch frühe stand sie in ihrem Sonntagskleid, mit einem großen Reisesack in der Hand, am Bahnhof, in den soeben der Zug hereinfuhr, der sie nach der Stadt bringen sollte. Er hielt nicht lange an dieser Station, Martha mußte schnell einsteigen, sie konnte der Mutter nur noch durchs Fenster die Hand reichen und hörte der Mutter letztes Wort: »Bleib nur gut, dann geht es gut,« und nun fuhr der Zug fort. Ängstlich sah sich Martha um, denn sie war noch nie allein gereist. Ihren Reisesack, der alle ihre Habseligkeiten enthielt, traute sie sich garnicht von der Hand zu lassen und alle Augenblicke sah sie nach, ob sie ihr Billet nicht verloren habe, das in einem kleinen Geldbeutel in ihrer Tasche steckte. Geld war nicht mehr darin, die Mutter hatte alles gebraucht, um ihr noch Stiefel und manches andere zu kaufen, aber eine Briefmarke hatte sie ihr noch mitgegeben, damit Martha ihr schreiben könne.
Je näher der Zug der großen Stadt kam, um so voller wurden die Wagen und um so banger wurde es Martha. Endlich war die Stadt erreicht, alles drängte aus den Wagen, Martha wurde geschoben und gedrückt und stellte sich endlich mit ihrem Sack fest in der Hand an eine Mauer des Bahnhofgebäudes und sah ängstlich in das Menschengewühl.
Wie sollte sie da die fremde Köchin finden? O, die Mutter hatte sicher nicht gewußt, daß so schrecklich viel Menschen an der Bahn wären, sonst hätte sie sie gewiß nicht so ganz allein in die Stadt geschickt! Tränen kamen dem verlassenen Mädchen in die Augen; da hörte sie plötzlich eine Stimme neben ihr sagen: »Bist du vielleicht die neue Kindsmagd, die zu Herrn Merz kommen soll?« Martha sah sich um. Eine große, starke Person stand neben ihr und sah auf sie herab.
»Ja, ich soll zu Herrn Merz,« sagte sie. »Ich habe mir's gleich gedacht, weil du so ängstlich und fremd um dich geschaut hast; ich bin die Köchin. Komm nur mit mir.« Sie ging mit großen Schritten voraus, Martha hatte nur zu tun, um mit ihrem schweren Sack nachzukommen. Als sie vor der Bahnhofhalle und aus dem ärgsten Gewühl heraus waren, sagte die Köchin: »Wie heißt du denn?« »Martha.« »So, ich heiße Christiane. Du bist aber klein, so klein hätte ich doch nicht gedacht, daß du wärest, obwohl die Frau extra geschrieben hat, du seist nicht groß. Dich hätte man noch nicht in Dienst schicken sollen.« Martha verlor allen Mut bei diesen Worten.
»Ich habe auch nicht gewollt!« sagte sie mit zitternder Stimme. »Du darfst keine Angst haben,« sagte Christiane, als sie merkte, wie es der kleinen Magd ums Herz war. »Wir haben eine gute Frau und bloß drei Kinder. Mit der ältesten, der Hildegard, hast du nichts zu tun, sie ist schon elf Jahre alt, und die zwei kleinen Zwillingsbuben sind nun auch schon vier Jahre, man muß sie nimmer tragen, bloß hüten mußt du sie.«
Nach diesen Worten war Martha wieder etwas beruhigt, die Christiane nahm ihr nun auch den schweren Sack ab und nach einer Viertelstunde waren sie am Haus.
Als sie hinauf kamen, liefen ihnen schon die drei Kinder entgegen, denn sie waren neugierig, die neue Kindsmagd zu sehen. Die zwei kleinen Knaben gaben Martha freundlich die Hand, Hildegard aber lachte und rief: »Das soll unsere Kindsmagd sein? Die ist ja nicht größer als ich!« und in der Tat war die elfjährige Hildegard fast so groß wie die vierzehnjährige Martha.
Nun kam auch die Mutter aus dem Zimmer, und Hildegard rief ihr entgegen: »Sieh nur, Mutter, das kleinwinzige Kindsmägdle!« Die Mutter aber, als sie diese Worte hörte und das schüchterne Mädchen stehen sah, besann sich nicht lange, gab Hildegard eine Ohrfeige und schickte sie ins Zimmer hinein. Dann begrüßte sie Martha sehr freundlich und sagte: »Ob du groß bist oder klein, darauf kommt garnichts an, sondern bloß darauf, ob du gut und fleißig bist und so siehst du mir aus.« Da fand auch die ängstliche Martha wieder Worte und sagte: »Ich will's machen, so gut ich nur kann!« »Nun komm, ich will dir das Zimmer zeigen, in dem du mit den Kindern schlafen sollst, dort kannst du deinen Sack auspacken, bis das Mittagessen fertig ist.« Frau Merz wollte mit Martha in das Zimmer gehen, aber in diesem Augenblick kam ein Mann die Treppe herauf und übergab Frau Merz ein Telegramm. »Das kommt aus Frankfurt, wo meine Mutter lebt, es wird doch nichts Schlimmes enthalten,« sagte Frau Merz und ging mit dem Telegramm hinein in ihres Mannes Zimmer, während Martha mit Christiane in die Küche ging.
Trotzig stand inzwischen Hildegard im Wohnzimmer. Sie konnte es nicht verschmerzen, daß sie vor der neuen Magd eine Ohrfeige bekommen hatte und wie ein kleines Kind ins Zimmer geschickt worden war. Voll Zorn dachte sie an die kleine Kindsmagd, die doch garnichts dafür konnte. Aber Hildegard wurde in ihren bösen Gedanken durch die Eltern gestört, die eilig ins Zimmer traten. Die Mutter sah verweint aus und der Vater sagte: »Hildegard, wir haben ein Telegramm bekommen mit der Nachricht, daß deine Großmutter in Frankfurt schwer erkrankt ist und die Mutter sogleich zu ihr kommen soll. In einer halben Stunde geht ein Zug nach Frankfurt ab, mit diesem will die Mutter reisen!«
Hildegard erschrak sehr über diese unerwartete schlimme Nachricht, durch die nun das ganze Haus in Aufregung versetzt wurde. In aller Eile packte die Mutter das Nötigste für die Reise zusammen, Christiane mußte fortspringen und eine Droschke holen, in der die Mutter zur Bahn fahren sollte; die zwei kleinen Knaben weinten, als sie hörten, daß die Mutter fortreisen wollte, aber da kam Martha zu ihnen her und sagte freundlich: »Wenn eure Mutter fort ist, dann erzähle ich euch eine schöne Geschichte von einer Mama, die auch verreist ist und ihren Kindern so etwas Schönes mitgebracht hat!« Da wurden die zwei Kleinen ruhiger und die Mutter sagte zu Martha: »Ich sehe schon, du verstehst es mit Kindern. Aber doch ist es mir schrecklich, daß ich fort muß, ohne dir vorher anweisen zu können, wie du alles machen sollst. Versprich mir nur, daß du recht auf die Kinder merkst, und ganz besonders, wenn du mit ihnen ausgehst; lasse sie nie von der Hand, du weißt noch garnicht, wie gefährlich es in einer so großen Stadt ist!«
»Ich will die Kinder gar nie aus den Augen lassen, so lange Sie fort sind,« sagte Martha. Und nun kam die Droschke, die Mutter küßte die drei Kinder und fuhr unter Tränen fort.
Das war nun ein schwerer Anfang für Martha, die noch gar nicht wußte, was sie eigentlich zu tun hatte. Die Köchin war immer in der Küche und zudem schlechter Laune, so daß Martha sie nicht viel fragen mochte; und Hildegard, die immer wieder an die Ohrfeige dachte, war recht unfreundlich gegen Martha. Am besten ging es ihr noch mit Max und Hugo, doch am Nachmittag wurden sie beide so wild und ausgelassen, daß der Vater aus seinem Zimmer herüber kam und über den Lärm zankte.
»Man muß die Kinder spazieren führen,« sagte der Vater. »Hildegard, gehe du mit und zeige der Martha den Weg in die Anlagen.«
Hildegard folgte zuerst nur ungern, dann aber kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie lachte, nahm Max und Hugo mit sich in ein anderes Zimmer und sagte da heimlich zu ihnen: »Wenn wir nachher mit der Martha fortgehen, so laßt ihr euch recht lieb von ihr führen; wenn wir aber dann auf den Marktplatz kommen und ich zu euch sage: Springt doch schnell, dann laßt ihr Martha auf einmal los und du, Hugo, läufst hinter die Kirche, und du, Max, springst in irgend ein Haus und versteckst dich dort, verstehst du?« »Ja,« antwortete Max, »aber ich mag nicht so böse sein.« »Ach, das ist ja nur ein Spaß, wir wollen ja nur die Martha ein wenig erschrecken und sie dann recht auslachen, das ist doch lustig!« »Ja, das ist lustig,« sagte Hugo, »und du mußt auch ordentlich mittun, Max.«
Max versprach es nun, und nachdem ihnen Hildegard noch recht eingeschärft hatte, daß sie nichts verraten sollten, riefen sie Martha und machten sich mit ihr auf den Weg.
Martha freute sich, daß die Kinder sich so brav führen ließen, und sie kam glücklich mit ihnen bis auf den Marktplatz, wo eine große Menschenmenge hin und her wogte. Da sagte Hildegard zu den kleinen Brüdern: »Ihr geht so langsam, springt doch schnell!« Kaum hatte sie dies Wort gesagt, so rissen sich Max und Hugo von Martha los, der eine sprang auf die Kirche zu, der andere nach der entgegengesetzten Seite.
Martha wußte gar nicht wie ihr geschah. Sie eilte zuerst Hugo nach, als sie aber von der anderen Seite ein Fuhrwerk rasch daher kommen hörte, kehrte sie wieder um aus Angst, Max könnte überfahren werden. »Was würde Frau Merz von mir denken, wenn sie uns jetzt sähe,« sagte sie sich in Verzweiflung.
Hildegard aber war inzwischen mit Max in das nächste Haus hinein gesprungen und sah hinter der Türe heimlich zu, wie Martha ratlos hin und her sprang und nicht wußte, was sie tun sollte. Aber auch Max sah Marthas Not und da er ein gutes Herz hatte, trieb es ihn, ihr zu Hilfe zu kommen. Er ließ sich von Hildegard nimmer zurückhalten, sondern sprang wieder auf Martha zu und rief: »Martha, habe keine Angst, es war nur ein Spaß, da bin ich wieder!«
»Aber wo ist dein Bruder?« rief Martha noch ganz außer sich. »Der steckt hinter der Kirche, komm nur mit mir, wir suchen ihn.«
Martha ging nun mit dem Kleinen über den Marktplatz an die Kirche. Hildegard folgte ihnen aus der Ferne nach. Sie gingen um die ganze Kirche herum, suchten und riefen, aber den kleinen Hugo fanden sie nicht. Nun wurde es aber auch Hildegard Angst und sie dachte jetzt erst daran, daß ihr Spaß auch schlimm ausfallen könnte!
»Vielleicht ist Hugo auf dem andern Weg in die Anlagen gegangen,« sagte Hildegard.
»Ich will ihn dort suchen, so lange ihr auf dem Markt nach ihm schaut.« In großer Angst eilte nun Hildegard fort und während sie nach dem Bruder suchte, machte sie sich die bittersten Vorwürfe. Martha ging inzwischen mit dem kleinen Max vergeblich auf dem großen Platz hin und her, suchte und rief nach Hugo. Nirgends aber war eine Spur von diesem zu sehen. Die vielen Menschen, die geschäftig hin und her eilten, bekümmerten sich nichts um die arme, kleine Kindsmagd und sahen ihr ihre Not nicht an. Fremd und verlassen fühlte sich Martha mitten in der Menschenmenge. Ratlos blieb sie stehen und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Da stieg ein heißes Gebet aus ihrem Herzen zu Gott: »O Herr hilf, hilf du mir und laß mich das Kind wieder finden! Ich könnte ja nie mehr glücklich sein, wenn dem Kind ein Unglück geschähe. O sieh meine Not an und hilf mir!«
»Komm, wir gehen heim!« sagte plötzlich der kleine Max, den Martha unterdessen fest an der Hand behalten hatte. »Ja, wir gehen heim,« wiederholte Martha, die sich ruhiger fühlte, nachdem sie Gott ihre Not geklagt hatte. »Wir wollen Christiane um Rat fragen, wo wir Hugo suchen sollen.«
Erhitzt und ermüdet kamen sie nach Hause zurück. Als sie die Treppe hinauf gingen, sah ein Kindergesicht vergnügt über das Geländer herunter und eine fröhliche Stimme rief: »Ich bin schon lange vor euch da!« Es war Hugo, der von der Kirche weg allein heim gesprungen war.
Wie wurde es Martha so leicht ums Herz, als sie dies Gesichtchen sah und diese Stimme hörte!
»O Gott, ich danke dir, ich danke dir von ganzem Herzen, daß du mich erhört hast,« rief Martha, eilte auf Hugo zu und faßte ihn fest an der Hand, wie wenn sie ihn noch einmal verlieren könnte. Dann wischte sie sich den Angstschweiß von der Stirne und ging zu Christiane, um ihr zu erzählen, welchen Schrecken sie erlebt hatte.
»Nun wartet nur,« sagte Christiane zu den zwei Kleinen, »das will ich eurem Vater erzählen, der wird's euch sagen!«
»Wir können nichts dafür,« riefen nun die Kinder weinerlich und erzählten, wie Hildegard alles vorher mit ihnen ausgemacht habe.
»Das muß euer Vater auch hören,« sagte Christiane, »geht nur zu ihm hinüber und sagt es ihm.« Herr Merz ward sehr ärgerlich, als er dies alles erfuhr. »Wo ist Hildegard?« fragte er zornig. »Sie sucht noch in den Anlagen nach Hugo,« sagte Martha. »Sie soll in mein Zimmer kommen, sobald sie heimkommt.«
Es dauerte aber fast noch eine Stunde, bis Hildegard mit vor Hitze und Aufregung glühendem Gesicht heimkam. »Du sollst sogleich zu deinem Vater kommen,« sagte Christiane zu ihr. »Ist Hugo wieder da?« fragte Hildegard zitternd vor Angst. »Geh' nur zu deinem Vater,« antwortete Christiane unbarmherzig. »Aber sag mir doch erst, ob Hugo wieder da ist?« fragte Hildegard noch einmal. Christiane aber dachte bloß: Sie hat die Angst verdient, und antwortete nichts. Martha aber konnte das nicht mit anhören und rief: »Ja, er ist wieder da, und es ist ihm nichts geschehen.« Da ging Hildegard zu ihrem Vater; Christiane aber sagte zu Martha: »Du bist ein dummes Ding, wie kannst du nur so gutmütig gegen sie sein, sie hat dir doch auch so Angst gemacht!«
»Ja, aber sie hat mich doch gedauert in ihrer Angst um den kleinen Bruder.«
»Wenn du so gut gegen sie bist, kommst du nicht mit ihr zurecht,« sagte Christiane.
Martha aber dachte im stillen, wie sehr die Mutter daheim ihr ans Herz gelegt hatte, nur recht gut zu sein. Ob wohl die Mutter recht hat oder Christiane? fragte sie sich.
An diesem Abend durfte Hildegard nicht wie sonst mit dem Vater zu Nacht essen, sondern sie mußte zur Strafe mit den kleinen Brüdern bei Martha essen. Sie schämte sich sehr, und mochte Martha gar nicht ins Gesicht sehen. So bald wie möglich ging sie in ihr Bett und weinte still auf ihrem Kissen vor Scham und Reue über alles, was heute vorgekommen war, vor Zorn über die kleine Kindsmagd und vor Heimweh nach der Mutter, die sonst immer noch an ihr Bett kam und mit ihr betete.
Auch Martha war es an diesem Abend sehr traurig ums Herz, auch sie hatte Heimweh nach ihrer Mutter, und als die Kinder alle im Bett waren, setzte sie sich hin und schrieb ein kleines Briefchen nach Hause. Sie erzählte der Mutter, wie der erste Tag in der Fremde für sie verlaufen sei, und klagte darüber, daß Hildegard sie gar nicht leiden könne, und sie habe ihr doch nichts getan. Dann schloß sie ihren Brief, klebte ihre einzige Briefmarke darauf und dachte: »Nun kann ich erst wieder eine Marke kaufen und einen Brief fortschicken, wenn ich meinen ersten Lohn verdient habe, das dauert einen ganzen langen Monat!«
In den nächsten Tagen kam ein Brief von Frau Merz, worin sie schrieb, daß es ihrer Mutter wieder besser gehe, daß sie aber doch noch eine Woche bei ihr bleiben und sie pflegen wolle.
Martha lernte sich allmählich im Haus besser auskennen und mit den zwei Kleinen kam sie auch recht gut aus. Sie hingen schon viel mehr an ihr als an Christiane. Aber mit Hildegard ging es ihr um so schlechter. Diese wollte gar nichts von ihr wissen, und obwohl Martha immer freundlich gegen sie war, blieb Hildegard immer unfreundlich. Christiane sagte oft zu Martha: »Du bist selbst Schuld, du solltest nur recht grob gegen sie sein.«
Eines Mittags kam Hildegard sehr vergnügt aus der Schule heim und sagte zu ihrem Vater: »Denke nur, morgen wird ein großer Schulspaziergang gemacht; morgens um sieben Uhr wird abmarschiert und abends um sieben Uhr kommt man erst wieder heim. Nicht wahr, Vater, ich darf doch auch mitgehen?«
»Ich habe nichts dagegen,« sagte Herr Merz, »nur mußt du diesmal selbst sorgen, daß all deine Sachen gerichtet sind, denn die Mutter ist ja nicht da, Christiane ist nicht gewöhnt für dich zu sorgen, und die kleine Kindsmagd wird auch noch nicht wissen, was man mitnimmt.«
»Nein, die weiß gar nichts, die brauche ich auch nicht, ich will schon für mich selbst sorgen,« sagte Hildegard.
Als Christiane von dem Spaziergang hörte, sagte sie zu Hildegard: »Dein helles Kleid ist gewaschen und gestärkt, aber noch nicht gebügelt! ich kann's nicht bügeln, ich will's aber heute nachmittag zur Büglerin schicken, die richtet es bis heute abend.«
»Ich will nicht das helle Kleid anziehen,« sagte Hildegard, »sondern mein neugemachtes blaues!«
»Was, das ganz neue blaue Kleid?« rief Christiane, »das wäre ja jammerschade, wie leicht könnte das verdorben werden. Daraus wird nichts; du ziehst das alte an, das sieht noch so schön aus, wenn es wieder frisch gebügelt ist!«
Hildegard sagte gar nichts mehr, sondern lief dem Vater nach, den sie gerade die Treppe hinunter gehen hörte und rief: »Nicht wahr, Vater, ich darf doch mein blaues Kleid anziehen?«
»Ja, ja, mir ist's gleich,« antwortete der Vater, und dachte: »Nun fragt man mich auch noch nach den Kleidern! Es ist doch schrecklich, wenn die Frau verreist ist und man sich um solche Dinge kümmern muß!«
»Christiane, der Vater hat erlaubt, daß ich mein neues Kleid anziehen darf,« sagte nun Hildegard.
»Meinetwegen kannst du anziehen, was du willst!« rief Christiane ärgerlich. »Aber was wird deine Mutter sagen, wenn das neue Kleid verdorben wird?« sagte nun Martha. »Misch du dich nicht darein, du verstehst doch nichts davon,« antwortete Hildegard schnippisch und ging fort.
Nach der Nachmittagsschule machte Hildegard ihre Aufgaben und dann fing sie an, ihre Sachen für den großen Spaziergang zu richten. Sie war gewöhnt, daß die Mutter oder die Kindsmagd in solchen Fällen für alles sorgten und so war es ihr ganz neu, selbst an alles denken zu müssen. Der Lehrer hatte gesagt, sie sollten etwas zu essen und zu trinken mitnehmen auf den weiten Marsch, und die Mutter hatte ihr meistens Obst mitgegeben, nun war aber keines im Hause und Hildegard mußte erst fortgehen und welches einkaufen. Die kleine Feldflasche, in die Wein und Wasser kommen sollte, war nirgends zu finden und Hildegard mußte zum zweiten Mal ausgehen, um bei einer Freundin eine solche zu entlehnen. Als sie heim kam, stand schon das Abendessen auf dem Tisch und Hildegard setzte sich neben ihren Vater und erzählte ihm, wie viel sie zu tun gehabt habe, um alles für den nächsten Tag zu richten. Als der Vater nach dem Essen ausgehen wollte, bat ihn Hildegard, sie am nächsten Morgen um sechs Uhr zu wecken. »Das kann doch aber Christiane besorgen,« sagte der Vater. »Die tut es gewiß nicht, die ist so böse gegen mich,« versicherte Hildegard.
»Nun, dann sage es der Martha.«
»O die, die ist ja selbst noch ein Kind,« sagte Hildegard verächtlich. »Nun, also, dann will ich dich wecken,« versprach der Vater und ging aus.
Hildegard wollte nun noch ihre Kleider hinrichten und dann ins Bett gehen. »Wo ist denn eigentlich mein neues Kleid?« fragte sie Christiane, »es hängt ja gar nicht in meinem Schrank.« »Dann wird es deine Mutter in ihrem Schrank aufgehoben haben,« sagte Christiane und ging mit Hildegard, um es zu holen. Aber es war nicht da. »Vielleicht hängt es im Gastzimmer,« meinte Hildegard. Und nun ging in allen Schränken ein Suchen nach dem neuen Kleid an, das aber durchaus nicht zu finden war. »Ja, weißt du denn eigentlich, ob es schon ganz fertig genäht ist?« fragte Christiane. Hildegard besann sich und ging an die Schublade, in der die Mutter ihre Näharbeiten aufzuheben pflegte. Sie zog die Schublade auf – da lag das Kleid. Christiane nahm es heraus. »Aber das hat ja noch keine Ärmel!« rief sie, »auch die Knopflöcher fehlen noch, das ist eine schöne Geschichte, nun mußt du daheim bleiben!« »Warum denn daheim bleiben, ich ziehe eben jetzt das andere Kleid an!«
»Ja, das ist jetzt nicht gebügelt!« »Kannst du mir's nicht noch bügeln?« »Ich? was meinst du denn! Ich kann überhaupt so etwas nicht bügeln, auch müßte man es zuerst ein paar Stunden eingespritzt liegen lassen, sonst kann man es gar nicht bügeln und jetzt ist' es ja schon 9 Uhr!«
Hildegard fing bitterlich an zu weinen, so daß auch Christiane Mitleid hatte. »Kann sie nicht im Werktagskleid mitgehen?« fragte Martha.
»Wenn es noch rein wäre,« sagte Christiane, »aber so geht es unmöglich. Aber eines will ich probieren, ich will das blaue Kleid schnell zu unserer Näherin tragen, vielleicht ist sie so gut und macht es heute Nacht noch fertig. Verdient hast du's freilich nicht, Hildegard!«
Christiane packte das Kleid zusammen und ging. Es dauerte eine ganze Stunde, bis sie endlich wieder kam, mit dem Kleid im Arm. »Ist es fertig?« fragte Hildegard, sprang auf sie zu und nahm ihr das Kleid aus der Hand. Aber – oh weh! Die Ärmel fielen ihr entgegen auf den Boden.
»Die Näherin war nicht zu Hause,« erzählte Christiane, »ich mußte eine halbe Stunde auf sie warten und als sie endlich kam und meine Bitte hörte, sagte sie, es sei ihr unmöglich. Sie habe seit heute morgen um 6 Uhr genäht und müsse morgen wieder so frühe an die Arbeit. Zu dem Kleid brauche sie aber noch wenigstens drei Stunden, es fehle noch mehr daran. Nun mußt du dich eben trösten, Hildegard! Man macht ja noch öfter einen Schulspaziergang!«
»Aber so einen schönen, weiten Ausflug hat man noch nie gemacht und wird man auch in diesem Jahr nimmer machen und gerade da soll ich nicht mit!« jammerte Hildegard. Christiane wurde nun ungeduldig. »Mache nun, daß du in dein Bett kommst, es ist nun einmal nicht zu ändern; hättest du meinem Rat gleich heute morgen gefolgt, so wäre jetzt dein anderes Kleid gebügelt. Merk dir's für ein anderes Mal!«
Hildegard sah ein, daß nichts mehr zu machen sei und legte sich ins Bett. Schlafen konnte sie aber lange nicht, sie war viel zu unglücklich und es reute sie bitterlich, daß sie so eigensinnig darauf bestanden hatte, das neue Kleid anzuziehen, wodurch sie nun um das ganze Vergnügen kommen sollte. Sie wollte wach bleiben, bis ihr Vater heim käme, wollte ihn in ihr Schlafzimmerchen rufen und ihm ihr Leid klagen, aber der Schlaf übermannte sie doch vorher, und als Herr Merz heim kam, fand er das ganze Haus in tiefer Ruhe.
Nach Mitternacht aber wachte Martha auf an einem Schrei des kleinen Hugo, der neben ihr schlief und einen schweren Traum gehabt hatte. Sie beruhigte das Kind, das auf ihre freundlichen Worte gleich wieder einschlief, sie selbst aber blieb wach. Es war ihr Hildegards Kummer wieder eingefallen, und plötzlich war ihr der Gedanke gekommen: »Ich hätte gestern abend wohl noch das Kleid einspritzen und bügeln können. Wie oft hat meine Mutter bis spät in die Nacht hinein gebügelt! Freilich, so feine Kleider wie Hildegard trägt, habe ich noch nie gebügelt, aber ich hätte es am Ende doch zustande gebracht.« Sie war ganz unzufrieden mit sich selbst, daß sie nicht daran gedacht hatte.
»Könnte ich es am Ende jetzt noch tun?« fragte sie sich selbst und setzte sich im Bett auf. »Ich müßte das Kleid jetzt einspritzen und bis 2 Uhr liegen lassen, dann bügeln und wenn es fertig ist, es in Hildegards Zimmer hängen, daß sie es gleich sieht, wenn sie morgens erwacht. Das wäre eine Überraschung für Hildegard!« sagte sich Martha und stellte sich diese Freude recht lebhaft vor. Dann aber fiel ihr Christiane ein. »Was würde die sagen, wenn ich wegen Hildegard die ganze Nacht nicht schlafe. ›Du bist ein dummes Ding‹ würde es wieder heißen, und eigentlich hätte sie recht, Hildegard hat ja selbst zu mir gesagt: ›Misch du dich nicht darein, du verstehst ja doch nichts!‹ So verdient sie es auch nicht, daß ich ihr aus der Not helfe, nein, ich bleibe behaglich in meinem Bett.« Martha legte sich wieder. Da wanderten ihre Gedanken nach Hause, zur Mutter. »Ob sie vielleicht auch gerade wacht und ob sie an mich denkt?« Es war ihr, als ob sie die Mutter wieder sähe und ihre letzten Worte hörte: ›Bleib nur gut, dann geht's dir gut!‹ »Ja, Mutter, ich will gut sein,« sagte Martha, »ich will's auch gegen Hildegard sein und ihr Kleid bügeln,« und ohne sich weiter zu besinnen, erhob sich Martha, schlüpfte in ihre Kleider und schlich hinaus in das Gastzimmer, denn sie hatte dort im Kleiderschrank Hildegards frisch gewaschenes Kleid liegen sehen. Sie holte Wasser und spritzte das Kleid sorgfältig ein, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte.
»Es wird schwer zu bügeln gehen!« sagte sie sich bedenklich, als sie die reiche Garnierung sah, »und was wird Hildegard sagen, wenn ich es nicht schön zustande bringe, oder gar etwas verbrenne?« Aber nun, nachdem das Kleid schon naß war, konnte sie sich doch nimmer anders besinnen. Sie rollte es fest zusammen und nun mußte es ein paar Stunden liegen bleiben. Martha traute sich nicht ins Bett zu gehen, wie leicht hätte sie verschlafen können. Sie setzte sich auf einen Stuhl ans Fenster und sah in die warme Sommernacht hinaus. Sie dachte an ihre liebe Mutter und fühlte sich glücklich, denn sie wußte, die Mutter würde nun zu ihr sagen: »So ist's recht!«
Als es zwei Uhr schlug, raffte sich Martha auf, ging in die Küche, zündete ein Kohlenbügeleisen an und als dieses schön heiß war, machte sie sich ans Geschäft. Es war eine schwierige Arbeit, Martha wurde es angst und bang dabei, und ihr Gesicht glühte. Sie vergaß auch im Eifer ganz und gar, daß sie die Nachtruhe der anderen nicht stören wollte und klopfte so herzhaft die Asche aus dem Bügeleisen heraus, daß an dem Geklirre Herr Merz erwachte. »Was ist da draußen los? Es muß jemand in der Küche sein. Ich muß nachsehen,« sagte sich Herr Merz, kleidete sich an und trat leise unter die Küchentüre. Wie erstaunte er, als er die kleine Kindsmagd sah, wie sie am Herde stand und mit ihrem Bügeleisen hantierte!
»Was treibst du denn da, mitten in der Nacht?« rief er Martha an. Martha fuhr zusammen, sie hatte Herrn Merz gar nicht kommen hören und erschrak.
Er war gewiß ärgerlich, daß sie Lärm gemacht und ihn im Schlaf gestört hatte!
»Es ist mir leid, daß ich Sie aufgeweckt habe,« sagte sie. »Ich muß nur etwas bügeln!«
»Bügeln? Nachts um zwei Uhr? Was ist das für ein Unsinn! Wer hat denn das verlangt?«
»Niemand, ich tue es von selbst.«
»Mach, daß du in dein Bett kommst. Nachts muß Ruhe sein im Haus.«
Herr Merz wollte aus der Küche gehen, da faßte sich Martha ein Herz und sagte: »Wenn ich nicht heute Nacht das Kleid bügle, so kann Hildegard morgen den Schulspaziergang nicht mitmachen, und sie möchte so gerne!« »Warum ist das Kleid nicht schon gestern gerichtet worden?«
Martha erklärte nun, wie es mit dem neuen Kleid gegangen war, und schließlich bat sie: »Ich darf doch schnell fertig bügeln, es dauert höchstens noch eine Stunde!« »Eine Stunde! Das ist wahrhaftig lang genug,« sagte Herr Merz. »Aber wenn du es so gut mit Hildegard meinst, will ich dem Kind auch nicht die Freude verderben. Sei nur vorsichtig mit Feuer und Licht!«
»Ja, ganz gewiß,« versprach Martha, und Herr Merz ging wieder in sein Zimmer, indem er vor sich hin sagte: »Es ist doch gleich eine heillose Unordnung, wenn die Frau fehlt.«
Martha machte sich eifrig wieder an die Arbeit und es gelang ihr gut, denn sie hatte daheim tagtäglich der Mutter geholfen, die eine geschickte Büglerin war. Nach einer Stunde etwa war das Kleid fix und fertig und sah so hübsch aus, daß sie selbst die größte Freude daran hatte. Sorgfältig nahm sie es, ging leise in Hildegards Schlafzimmer und hängte es an ihren Kleiderhalter. Dann schlich sie sich wieder hinaus, löschte vorsichtig Feuer und Licht und legte sich in ihr Bett. Sie war nun freilich sehr müde und wußte, daß sie nimmer lang schlafen konnte, denn es war schon vier Uhr morgens. Aber dennoch fühlte sie sich sehr glücklich und nach kurzer Zeit war sie friedlich eingeschlafen.
Um sechs Uhr morgens weckte der Vater, wie er versprochen hatte, sein Töchterchen. Hildegard war aber kaum erwacht, als ihr auch schon der Schmerz des gestrigen Abends einfiel: »Ach Vater,« klagte sie, »ich kann ja nicht mitgehen!«
»Warum denn nicht?« fragte der Vater. »Ich habe ja kein Kleid!«
»Was, kein Kleid!« rief der Vater, »und was ist denn das dort?« und er deutete nach dem Kleiderhalter, den Hildegard vom Bett aus nicht sehen konnte. Sie wandte sich um und sah mit größtem Erstaunen und freudigem Entzücken ihr Kleid fein gebügelt vor sich hängen! »Hast du denn nicht gewußt, daß es Martha heute Nacht noch bügeln würde?« fragte der Vater. »Martha? Wie, Martha hat mir's gebügelt?« rief Hildegard.
»Sie scheint doch nicht so ungeschickt zu sein, wie du immer meinst,« sagte der Vater, »aber nun beeile dich auch, daß du nicht so spät fertig wirst.«
Der Vater ging hinaus, aber Hildegard blieb noch in Gedanken versunken. Wie geschickt war Martha und wie gut! Tief beschämt erinnerte sich Hildegard an all die unfreundlichen, verächtlichen Worte, die sie der kleinen Kindsmagd gesagt hatte. Wie hatte sie nur so häßlich sein können? Rasch zog sich nun Hildegard an und noch im Unterröckchen ging sie ins Schlafzimmer, in dem Martha noch so fest wie die beiden Brüder schlief. Leise schlich Hildegard an Marthas Bett. »Wie freundlich und gut sie auch im Schlaf aussieht,« sagte Hildegard zu sich selbst und leise flüsterte sie: »Martha, ich danke dir!«
Martha erwachte und erschrak, als sie sah, daß es schon ganz helle war und Hildegard bei ihr stand. »Bin ich verschlafen?« fragte sie.
»Nein, ich bin ja früher aufgestanden wegen des Spaziergangs, ich danke dir, du Liebe, Gute, daß du mir mein Kleid so wunderschön gebügelt hast!« Martha hatte nicht für möglich gehalten, daß Hildegard so freundlich mit ihr reden könnte, sie war ganz gerührt. »Ich komme gleich zu dir hinüber und helfe dir dein Kleid anziehen,« sagte sie.
Hildegard richtete sich nun schnell, Martha half ihr dazu und sie waren gerade fertig, als Christiane hereinkam. Als diese Hildegard in dem gebügelten Kleid dastehen sah, war sie so verblüfft und machte so große Augen, daß Hildegard und Martha beide lachen mußten.
»Gelt, das ist eine Überraschung,« sagte Hildegard. »Du brauchst gar nicht mich so anzustaunen, da steht die Künstlerin,« rief sie und deutete auf Martha. »Was? Das hast du zu stande gebracht? Allen Respekt vor dir, du kleiner Knirps!« sagte Christiane und schüttelte verwundert den Kopf.
Christiane richtete in aller Eile ein Frühstück für Hildegard und diese bat ihren Vater, ihr das nötige Geld für den Tag mitzugeben.
»Ich gebe dir zwei Mark mit, aber sei mäßig beim Essen und Trinken. Was du ersparst, gehört dir. Und nun leb' wohl und halte dich gut.« Hildegard verabschiedete sich fröhlich von allen und ging.
Als sie fort war, wollte Christiane noch ganz genau hören, wie Martha es mit dem Kleide gemacht habe. Als Martha alles erzählt hatte, sagte Christiane: »Ich muß mich nur wundern, daß du schon so schön bügeln kannst; aber du bist doch ein dummes Ding, daß du gegen Hildegard so gut bist; die vergißt es doch gleich und ist wieder so häßlich gegen dich wie vorher!« »Wer weiß?« sagte Martha und dachte in ihrem Herzen: »Ich glaub's nicht, sie hat mich heute morgen angesehen, wie wenn sie mich lieb hätte!«
Es war ein herrlicher Sommertag und erst spät am Abend kamen die Schulkinder von ihrem Ausflug wieder heim. Herr Merz wurde schon etwas ängstlich, da klingelte es und Hildegard kam glücklich auf ihn zugesprungen. »Grüß Gott, Papa, wo ist denn Martha?« »Draußen ist sie, aber was willst du denn von ihr, erzähle mir doch erst etwas.«
»Gleich, gleich, ich muß ihr nur schnell etwas sagen,« und mit dem eifrigen Ruf: »Martha, Martha!« lief sie hinaus und fand Martha in der Küche. »Martha, sieh, das habe ich für dich erspart,« sagte sie und leerte ihr Beutelchen aus, in dem noch eine ganze Mark war. »Das gehört meiner Büglerin!« Martha war sehr gerührt und freute sich noch mehr darüber, daß Hildegard so freundlich an sie gedacht hatte, als über das Geld selbst, so gut sie auch dies brauchen konnte. Sie wollte Hildegard danken, diese sagte aber: »Ohne dich wäre ich ja doch um das ganze Vergnügen gekommen! Aber jetzt, Christiane gib mir auch etwas zu essen, denn ich habe mich den ganzen Tag nicht satt gegessen, keine einzige von meinen Kameradinnen hat so wenig Geld gebraucht wie ich!«
Damit sprang Hildegard vergnügt wieder zum Vater. Während Christiane für Hildegard etwas zu essen richtete, sagte sie zu Martha: »So lieb war sie gegen mich noch nie, wie sie jetzt gegen dich ist, nun hast du auf einmal ihr Herz gewonnen!«
Martha schrieb noch an diesem Abend an ihre Mutter – sie hatte ja jetzt Geld, um Briefmarken zu kaufen. Ihr Herz war so voll, sie mußte der Mutter von dem heutigen Tag erzählen. Am Schluß ihres Briefes schrieb sie: »Christiane hat mir immer anders geraten als du, und fast hätte ich ihr gefolgt; aber du hast doch recht behalten, und ich will immer gut sein, dann geht es mir gewiß auch gut.«
Nach wenigen Tagen kam Frau Merz von ihrer Reise zurück. Sie freute sich sehr, als sie sah, wie gut sich inzwischen die kleine Kindsmagd eingelebt hatte, und war sehr liebevoll gegen sie. Martha blieb noch lange in der Familie, wo sie sich bald wie zu Hause fühlte, und für ihr ganzes Leben merkte sie sich, daß man das Böse mit Gutem überwinden kann.