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Mariechen, warum kommst du so spät heim?« fragte Frau Sommer ihr Töchterlein. »Es ist schon dunkel und du weißt, daß du nicht so lange auf der Gasse herumspringen darfst.« »Ach Mutter,« antwortete Mariechen, »es sind noch viele Kinder drunten und die Frau Nachbarin hat gesagt, wenn ich ihr Kind wäre, dürfte ich ausbleiben so lange ich wollte!« »Ich will aber nicht, daß du so ein Gassenkind wirst,« sagte die Mutter. »Nun setze dich schnell hin und mache deine Aufgaben und komme mir nie mehr so spät heim.«
Mariechen hätte lieber mit ihrem kleinen Brüderchen gespielt, aber sie mußte arbeiten bis zum Abendessen. Als die Mutter dann ihre Milchsuppe brachte, machte Mariechen ein unzufriedenes Gesicht und sagte: »Immer bekomme ich nur Milchsuppe. Die Frau Nachbarin hat gesagt, wenn ich bei ihr wäre, bekäme ich alles, was die großen Leute essen.« »Sei du zufrieden mit deiner Suppe, sie ist dir viel gesünder,« antwortete die Mutter. Als Mariechen gegessen hatte, wollte sie gleich zu Bette gehen. »Vorher mußt du noch aufräumen und deinen Ranzen einpacken, damit morgen nichts fehlt. Ich will ein ordentliches Töchterchen haben,« sagte die Mutter. Langsam und verdrießlich tat Mariechen, was die Mutter verlangt hatte. Da sagte die Mutter ganz traurig: »Mariechen, du machst heute ein böses Gesicht und bist gar nicht lieb.« »So?« antwortete Mariechen, »die Frau Nachbarin sagt immer, ich sei so lieb und hätte so ein schönes Gesicht; wäre ich nur bei der Frau Nachbarin!« »Nun,« sprach die Mutter, »wenn du lieber bei der Frau Nachbarin bist, als bei mir, so kannst du ja gleich morgen zu ihr gehen und ganz bei ihr bleiben.«
»O ja, das will ich!« rief Mariechen, und nun ging sie ganz vergnügt ins Bett und dachte sich aus, wie schön es wäre bei der Frau Nachbarin, die ihr alles zu essen geben würde und sie bis spät abends auf der Straße herumspringen ließe.
Die Mutter aber ging zur Frau Nachbarin und sagte: »Möchten Sie wohl mein Mariechen für einige Zeit zu sich nehmen? Sie ist gar nicht zufrieden bei mir und meint, bei Ihnen wäre es viel schöner.«
»Ach, das törichte Kind,« entgegnete die Nachbarin, »wie viel besser ist sie doch bei Ihnen versorgt! Aber schicken Sie sie nur zu mir, ich nehme sie gerne, sie wird es bald selbst bereuen und wieder zu Ihnen verlangen.«
Am nächsten Morgen sagte die Mutter: »Ich habe schon mit der Frau Nachbarin geredet und deine Sachen hinübergeschickt. Deinem Vater ist es auch recht. Du kannst von der Schule aus gleich zur Frau Nachbarin gehen.« Da sagte Mariechen »Adieu« und ging in die Schule und nach der Schule zur Frau Nachbarin. Diese freute sich sehr, als Mariechen zu ihr kam, gab ihr ein gutes Mittagessen und sagte zu Mariechen, sie sei das schönste und liebste Kind von der Welt. Das gefiel Mariechen sehr gut.
Nachmittags hatte sie wieder Schule und als sie heim kam, sagte die Frau Nachbarin zu ihr: »Hier ist dein Vesperbrot, ich muß jetzt ausgehen und schließe die Zimmer zu; du darfst auf der Gasse herumspringen, so lange du willst.« Da sprang Mariechen die Treppe hinunter und spielte mit den Kindern auf der Gasse, bis es anfing dunkel zu werden. Da läutete die Abendglocke, und alle ordentlichen Kinder gingen heim. Bloß Mariechen und noch einige wilde Kinder blieben auf der Gasse, schrieen und lachten laut. Da kam ein Polizeidiener und fuhr die Kinder zornig an: »Macht ihr gleich, daß ihr heim kommt oder ich führe euch in den Arrest!« Ganz erschrocken sprangen die Kinder davon, und Mariechen schämte sich sehr und machte, daß sie ins Haus kam zur Frau Nachbarin. Aber, o weh, die Türen waren noch immer zugeschlossen und Mariechen mußte auf der Treppe sitzen und warten. Sie drückte sich in eine dunkle Ecke und es fror sie, denn es war schon Herbst; da dachte sie: »Ach wie behaglich wäre es jetzt daheim bei meinem lieben Mütterchen.« Endlich aber kam die Frau Nachbarin die Treppe herauf und sagte, sie habe sich ein wenig verspätet. Sie schloß die Türe auf und zündete Licht an.
Als sie Mariechen nun beim Licht sah, sagte sie: »Pfui, wie siehst du so erfroren aus, so gefällst du mir gar nicht, nun komm nur, jetzt wollen wir essen.« Da stellte sie einen Krug Bier auf den Tisch und Würste und Käse und sagte zu Mariechen: »Nun darfst du essen, was die Großen essen, laß dir's nur schmecken.« Mariechen aß und trank, und die Frau Nachbarin legte ihr immer wieder etwas auf den Teller und schenkte ihr Bier ein. Mariechen aber fror es noch immer, und ihr wäre heute ein warmes Süppchen selbst lieber gewesen. Es wurde ihr auf einmal ganz übel und sie bekam heftiges Kopfweh und Erbrechen. »O weh,« sagte die Frau Nachbarin, »du siehst ja kreideweiß aus, wo sind denn deine schönen roten Backen? Geh nur schnell ins Bett.«
»Aber ich habe ja meine Aufgaben nicht gemacht,« jammerte Mariechen. »Die machst du morgen früh,« tröstete die Frau Nachbarin und Mariechen ging zu Bette und schlief so lang und fest, daß man sie am nächsten Morgen kaum erwecken konnte. »Mache schnell, Kind, es ist Zeit in die Schule.« »Aber meine Aufgaben,« klagte Mariechen. »Du mußt eben dem Lehrer sagen, daß du gestern abend unwohl warst,« sagte die Frau Nachbarin.
Noch nie war Mariechen so ungerne in die Schule gegangen, sie fürchtete sich sehr. Der Lehrer merkte ihr bald an, daß sie kein gutes Gewissen hatte und verlangte ihre Aufgaben auf der Tafel zu sehen. Aber die Tafel war leer! Da entschuldigte sich Mariechen und sagte: »Ich war gestern unwohl.« »Aber nein, das ist gar nicht wahr!« rief ein anderes Mädchen, »sie ist gestern abend noch spät auf der Straße herum gesprungen.« »Ja wohl, wir haben sie auch gesehen,« riefen noch mehrere Kinder. Als das der Lehrer hörte, nahm er Mariechen an der Hand und führte sie zum Schandbänkchen. Da mußte Mariechen ganz allein sitzen, und als um 12 Uhr alle anderen vergnügt heimsprangen, mußte sie dableiben und ihre Aufgaben machen.
Es war schon 1 Uhr, als sie endlich auch zur Frau Nachbarin heim kam. »Ei, wie lange habe ich dir das Essen warm halten müssen,« sagte die Frau Nachbarin, »ich habe gar nicht gewußt, daß man mit dir so viel Plage hat. Nun iß nur schnell, denn ich muß fort und will zuschließen. Du darfst den ganzen Nachmittag auf der Gasse spielen, du hast ja heute keine Schule mehr.« »Gehen Sie denn heute schon wieder fort?« fragte Mariechen traurig. »Freilich, ich kann nicht immer zu Hause bleiben, du brauchst mich ja nicht und bist immer gerne auf der Gasse gewesen.« »Meine Mutter ist fast immer bei uns daheim geblieben,« sagte Mariechen. »Dann hättest du eben bei deiner Mutter bleiben sollen, wenn sie so gut war,« sagte die Frau Nachbarin. »Aber jetzt ist es zu spät, jetzt wird sie dich natürlich nimmer haben wollen.« Damit schloß die Frau Nachbarin die Türen zu, versprach, nicht so spät heimzukommen und ging eilig fort.
Mariechen war nun allein. Sie war gar nicht aufgelegt herumzuspringen, aber was konnte sie sonst tun? So ging sie eben auf die Straße, suchte ihre Freundinnen und spielte mit ihnen. »Ich will euch fangen, springt nur davon,« sagte eines der Mädchen. Alle Kinder liefen nun davon, Mariechen aber wurde gerade noch an ihrem Röckchen erwischt, und – krach – gab es einen großen Riß in Mariechens Kleid. Die wilden Kinder lachten und sagten: »Geh nur hinauf und laß dein Kleid flicken, so kannst du doch nicht auf der Gasse bleiben!« Da ging Mariechen die Treppe hinauf, aber sie wußte wohl, daß niemand da war, ihr das Kleid zu flicken. So stand sie wieder vor der verschlossenen Türe und wußte nicht, was sie tun sollte. Da dachte sie an ihre gute Mutter und an das liebe Brüderchen und bekam so Heimweh nach ihnen, daß sie bitterlich anfing zu weinen. Endlich aber trocknete sie ihre Tränen und sagte zu sich selbst: »Ich will hinübergehen zu der Mutter und sie um Verzeihung bitten und fragen, ob ich nicht wieder bei ihr bleiben darf!« Aber da fiel ihr ein, daß alle Kinder sie wegen ihres zerrissenen Kleides auslachen würden und sie nahm sich vor zu warten, bis es dunkel wäre. Die Zeit wurde ihr sehr lange, aber endlich kam doch die Dämmerung, und Mariechen ging hinunter und sah auf die Straße. Es waren keine Kinder mehr da. Da sprang sie hinüber bis an der Mutter Haus und die Treppe hinauf. Wie klopfte ihr das Herz, als sie an der Zimmertüre stand! Ganz leise und bescheiden öffnete sie. Da saß die Mutter neben dem Brüderchen, das gerade sein Milchsüppchen aß. Als Mariechen das liebe Gesicht der Mutter wieder sah, lief sie auf sie zu, schlang ihre Ärmchen um den Hals der Mutter und rief: »O Mutter, verzeih mir und laß mich wieder bei dir bleiben, ich habe dich ja so lieb!« Und die gute Mutter küßte ihr Kind und verzieh ihr und war glücklich, daß sie sie wieder bei sich hatte. Das Brüderchen aber jubelte laut auf, als es die Schwester wieder sah, und streckte ihr seinen Löffel voll Milchsuppe entgegen. Den nahm Mariechen gern an und es schmeckte ihr gar süß.
Dann setzte sich Mariechen zur Mutter und erzählte ihr alles, was sie erlebt hatte. Darnach aber machte sie ihre Schulaufgaben so sorgfältig wie noch nie, so daß der Lehrer sie am nächsten Tag lobte, und es kam gar nie mehr vor, daß sie sich auf das Schandbänkchen setzen mußte. Abends aber, wenn die Kinder auf der Gasse spielten, war Mariechen von jetzt an immer die erste, die wieder heim ging, und die Frau Nachbarin hielt sie auch nicht mehr auf. Glücklich und zufrieden saß Mariechen jeden Abend bei der Mutter und dem Brüderchen, aß ihr Milchsüppchen und hatte wieder schöne, rote Backen!