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In ihren schönsten Sonntagskleidchen standen die vier Kinder des Schullehrers Steiner von Neudorf vor dem Hause und warteten auf ihren Vater. Es waren drei Knaben im Alter von 3, 4 und 6 Jahren und ein 9jähriges Mädchen. »Nun, seid ihr alle reisefertig?« fragte Herr Steiner, der eben zur Haustüre heraustrat. »Jawohl, jawohl,« riefen die Kinder voll Vergnügen. Es war in der nahen Stadt Volksfest, und zum erstenmal wollte der Vater seine vier Kinder mit auf das Fest nehmen.
»Nun adieu, liebe Mutter,« riefen die Kinder noch zum Fenster hinauf. »Lebt wohl, seid recht brav und verliert euer Geld nicht,« mahnte die Mutter, denn jedes der Kinder hatte 20 Pfennig mitbekommen. »Wir bringen dir auch etwas mit!« sagte Julchen. »Nun ich bin begierig, was das sein wird,« rief die Mutter und sah den Kindern nach, wie sie so glücklich mit dem Vater nach dem Bahnhof gingen, denn sie mußten von Neudorf nach der Stadt zwei Stationen mit der Eisenbahn fahren.
Es war ein heißer Sommertag und am Bahnhof wimmelte es von Leuten, die heute alle zum Fest in die Stadt fahren wollten. Als sie dort ankamen, war ein Gedränge in den Straßen, daß man kaum durchkommen konnte, die Leute schoben und drückten sich und alles eilte auf den Festplatz. Es war ein heißer Weg bis dorthin, und der kleine dreijährige Max fing schon an verdrießlich zu werden. »Dich hätte man lieber daheim lassen sollen,« sagte Herr Steiner.
Endlich kamen sie auf der Wiese an. Dort waren hunderte von Tischen und Bänken aufgeschlagen und die meisten waren schon besetzt, aber der Vater fand doch noch Platz für sich und die Kinder. Er ließ für die Hungrigen und Durstigen Brot bringen, sie durften sich's schmecken lassen und von dem heißen Gang ausruhen. Als sie sich gestärkt hatten, gingen sie zu den vielen Ständen, die rings um die Wiese herum aufgeschlagen waren und in denen allerlei schönes verkauft wurde. Der kleine Max sah gleich im ersten Stand eine schöne Trompete und rief: »Die will ich mir kaufen.« »Warte doch noch,« sagte Julchen, »vielleicht siehst du noch etwas schöneres;« aber Max blieb dabei, gab sein Geld her und erhielt die Trompete, mit der er gleich herzhaft anfing zu blasen.
Die anderen Kinder besannen sich länger, sie gingen oft hin und her; endlich kaufte sich Rudolf eine Knallbüchse und Otto ein Notizbuch. Nur Julchen war noch immer unentschlossen; da wurden die andern ungeduldig und der Vater sagte: »Du kannst dir ja später etwas kaufen, ich lasse euch jetzt Karussel fahren.« Am Karussel standen aber so viel Leute, daß sie lange warten mußten, bis sie endlich fahren konnten. Das war ein Vergnügen für die Kinder! Schnell wie der Wind drehte sich das Karussel im Kreis herum und fröhliche Musik ertönte dabei.
Während es aber auf der Festwiese so lustig zuging, hatten sich am Himmel allmählich Wolken angesammelt; plötzlich erhob sich ein starker Wind und man hörte den Donner grollen. Erschreckt sahen die Leute auf und riefen: »Es kommt ein Gewitter!«
Und richtig, nach wenigen Minuten fielen schon dicke Tropfen herunter, ein greller Blitz zuckte am Himmel und der Wind riß den Leuten die Hüte vom Kopf. Jedermann wollte nun heimeilen; es entstand ein unbeschreibliches Gewirre und Gedränge. Julchen faßte Max fest an der Hand. »Haltet euch dicht hinter mir,« rief ihr der Vater zu, der die beiden größeren Brüder führte und so drängten sie sich zwischen den andern Menschen hindurch.
Plötzlich rief Max: »Meine Trompete, meine Trompete!« und dabei zog er Julchen zurück. »Wo hast du sie denn?« fragte Julchen. »Sie ist mir aus der Hand gefallen.« »Komm doch nur,« sagte Julchen, »sonst verlieren wir den Vater.« Aber Max war eigensinnig. »Ich will meine Trompete suchen,« rief er und wollte sich von Julchens Hand losmachen. Julchen war in größter Not; der Vater entfernte sich immer mehr und Max wollte nicht vorwärts.
»Ich kaufe dir eine neue Trompete,« sagte nun Julchen, »die vielen Menschen haben deine Trompete doch schon ganz zertreten.« Nun gab Max nach, aber inzwischen hatten sich so viel Leute zwischen die Kinder und ihren Vater gedrängt, daß Julchen ihren Vater nimmer sah. Auch der Vater wandte sich wieder um nach den zwei Kindern und war ganz entsetzt, als er bemerkte, daß sie nimmer bei ihm waren. Er wollte rückwärts, aber es war unmöglich, da alles vorwärts drängte und er hatte nur Mühe, Rudolf und Otto fest an der Hand zu halten, denn sie wurden von der Menschenmasse fast erdrückt. Zu dem Regen war inzwischen auch noch Hagel gekommen und so flüchteten sich die Menschen von der Festwiese weg in die Straßen der Stadt, um in den Häusern das schlimmste Unwetter abzuwarten. Auch Julchen zog Max in ein Haus hinein, in dem viele Leute unterstanden und nur wenige Häuser von ihnen entfernt stand ihr Vater mit den Brüdern. Aber sie wußten nicht, wie nahe sie einander waren, und so eilte Herr Steiner, so bald der Regen ein wenig nachließ, zurück auf die Festwiese, um dort die Verlorenen zu suchen, während Julchen in die Stadt ging und in allen Straßen sehnsüchtig nach dem Vater und den Brüdern aussah.
Endlich wurde Max so müde, daß er nicht mehr weiter wollte. Da sagte Julchen: »Komm, wir gehen auf den Bahnhof, wenn wir dort den Vater nicht finden, so fahren wir heim nach Neudorf. Ich habe zum Glück noch mein Geld.« Mit Mühe fanden sie den Weg auf den Bahnhof. Als sie endlich hinkamen, waren alle Wartsäle überfüllt und es tönte ihnen ein solches Geschrei und Gejohle entgegen, daß es ihnen angst und bang wurde. Den Vater aber und die Brüder fanden sie nicht.
»Ich will jetzt heim zur Mutter, ich bin müde,« jammerte Max. »Ja, ja, wir fahren heim,« tröstete Julchen und sie ging mit ihm an den Schalter, um ein Billet zu lösen. Es waren viele Leute da, die sich immer wieder vor die Kinder drängten. Endlich aber kamen sie auch bis an den Schalter. »Ich möchte ein Billet nach Neudorf,« sagte Julchen. »Hier,« rief der Mann hinter dem Schalter und schob ihr ein Billet hin. »Es kostet 30 Pfennige.« Wie erschrak Julchen, sie hatte ja nur 20 Pfennig. Aber der Mann am Schalter wurde schon ungeduldig. »Nun, wird's bald? Ich bekomme 30 Pfennig!« »Ich habe nur 20 Pfennig,« sagte Julchen. »So mach daß du weiter kommst!« rief der Mann ärgerlich und nahm das Billet wieder zurück.
Der Portier, der in der Nähe stand, um Ordnung zu halten, hatte alles gehört. Er kam jetzt zu Julchen und sagte: »Was tut ihr Kinder ganz allein auf der Bahn bei so einem Gedränge?« »Wir haben unsern Vater verloren,« antwortete Julchen. »So, verlorene Kinder seid ihr? Ja, das gibt's alle Jahre auf dem Volksfest.« Er winkte einem Polizeidiener, der vor dem Bahnhof auf und abging und rief ihm zu: »Da sind zwei verlorene Kinder, führen Sie sie auf die Polizei!«
»O bitte, bitte, nicht auf die Polizei!« sagte Julchen flehentlich zum Portier und hielt ihn fest an der Hand. »Dummes Kind, meinst du denn, ich könnte euch da brauchen? Laß mich los, ich habe zu tun.« Er ging und ließ die Kinder bei dem Polizeidiener.
Julchen hatte sich den ganzen Nachmittag so zusammengenommen, jetzt aber, wo sie auf die Polizei sollte, brach sie in bittere Tränen aus. Der Polizeidiener aber sagte: »Nur vorwärts, man reißt euch den Kopf nicht ab!« Dabei nahm er Max fest an der Hand und so mußten denn die beiden Kinder mit dem Polizeidiener gehen. Im Vorübergehen hörte Julchen eine Frau zu ihrem Mann sagen: »Was wohl die beiden Kinder getan haben, daß man sie auf die Polizei führt?« Da wurde Julchen dunkelrot vor Scham und traute sich gar nimmer aufzusehen, wenn Leute vorbeigingen.
Sie war froh, als sie endlich an das Polizei-Gebäude kamen. Der Polizeidiener führte sie in die Wachtstube zu einem alten Herrn mit grauem Bart, der sehr streng aussah. »Herr Polizeiwachtmeister, hier bringe ich zwei Kinder, die ihren Vater auf der Festwiese verloren haben; der Portier am Bahnhof hat sie mir übergeben.« Mit diesen Worten verließ der Polizeidiener das Zimmer und Julchen und Max standen ängstlich vor dem bärtigen Herrn Wachtmeister. »Na, was meint ihr,« frug dieser nun in strengem Ton, »soll ich euch in den Arrest sperren oder an den Galgen hängen, weil ihr dem Vater davongelaufen seid?« Da drückte sich Max fest an seine Schwester und fing an zu weinen, Julchen aber wurde ganz blaß. »Nun, nun, so bös ist's nicht gemeint,« sagte der alte Herr in freundlichem Ton. »Seid nur ruhig, es geschieht euch nichts. Euer Vater wird euch wohl hier suchen, und wenn er lange nicht kommt, so bringt euch meine Frau etwas zu essen.« Da dachte Julchen, der Mann ist nicht so böse als er aussieht, und sie gab ihm die Hand und sagte: »Ich danke schön.« »So ist's recht,« sprach der Wachtmeister, »und nun setzt euch dort auf die Bank, seht, da sind schon zwei verlorene Kinder.« Da sah sich Julchen in der Wachtstube um und bemerkte vornen am Fenster einen großen, etwa 11jährigen Buben und auf der Bank am Ofen ein kleines Mädchen von etwa 6 Jahren.
Julchen setzte sich mit Max zu dem fremden Mädchen. Diese hatte ein ärmliches Kleid, aber ein freundliches Gesicht, und während der Wachtmeister mit einigen Männern zu tun hatte, fing Julchen leise an mit dem Mädchen zu plaudern.
»Wie heißt du?« fragte Julchen. »Ich heiße Anna.«
»Bist du schon lange da?« »Seit dem Gewitter. Ich habe den Seiltänzern zugesehen und als ich wieder an den Platz kam, wo mein Vater seine Ware feil hielt, war er fort.« »Wo bist du denn her?« »Ich bin aus Wien, aber ich war jetzt schon lange nimmer dort; wir ziehen auf alle Märkte.« »Ei, das ist ein lustiges Leben, so gut möchte ich's auch haben.« »Meinst du, ich hätte es gut? O nein, seit die Mutter tot ist und die Base bei uns wohnt, geht es mir ganz schlecht; sie schlägt mich alle Tage. Zu essen haben wir auch nicht viel, weil das Geschäft so schlecht geht.« »Hast du keine Geschwister?« »Nein.« »Ich habe auch keine Schwester, bloß drei Brüder,« sagte Julchen.
In diesem Augenblick kam ein Mann in die Wachtstube. Er sah sich im Zimmer um, und als er den Knaben erblickte, der am Fenster stand, ging er zornig auf denselben zu, hob seinen Stock und rief: »Da bist du, nichtsnutziger Schlingel, seit einer Stunde suche ich dich!« und dabei gab er ihm auf den Rücken einen derben Schlag mit dem Stock.
»Nur sachte,« rief der Polizeiwachtmeister, »bei so einem Gedränge kann sich ein Kind wohl verlieren. Wenn der Knabe Ihnen gehört, so nehmen Sie ihn mit sich.«
Vater und Sohn gingen miteinander hinaus. Die kleine Anna aber sagte zu Julchen: »So wird es mir auch gehen, wenn mich der Vater wieder findet, ich fürchte mich schon auf die Schläge!«
Es verging noch eine Stunde, in der sich die kleinen Mädchen miteinander unterhielten, während Max vor Müdigkeit eingeschlummert war. Da ging wieder die Türe auf und mit größter Herzensfreude sah Julchen ihren geliebten Vater hereinkommen. Er eilte auf seine Kinder zu, herzte und küßte sie und sie schmiegten sich an ihn und ließen seine Hände nimmer los.
»Nun kommt, meine Kinder,« sagte der Vater, »wir gehen schnell auf die Bahn, dort warten eure Brüder auf euch und wir wollen alle miteinander heimfahren zu der Mutter.«
Julchen wollte nun der kleinen Anna Adieu sagen, diese aber klammerte sich fest an Julchens Hand und sagte: »O laß mich nicht allein, nimm mich mit!« »Was will das Kind?« fragte Herr Steiner. »Sie will mit uns, sie hat auch ihren Vater verloren,« antwortete Julchen. »Sei ruhig, Kind,« sagte nun Herr Steiner freundlich zu Anna, »dein Vater wird dich auch bald auf der Polizei abholen, wie ich meine Kinder.«
Aber Anna hielt sich nur fester an Julchen und weinte bitterlich. »O Vater,« sagte Julchen, »sie fürchtet sich vor ihrem Vater und ihrer Base, sie dauert mich so; könnten wir sie nicht mitnehmen, sie ist so lieb und freundlich!«
Der Vater wandte sich an den Polizeiwachtmeister und fragte: »Wem gehört wohl das Mädchen?« »Armen Marktleuten aus Wien; wer weiß, ob sie das Kind nur abholen, solche Leute sind oft froh, wenn sie ein Kind loshaben.« »Was geschieht dann mit der Kleinen?« »Man schickt sie ins Armenhaus, bis man erfährt, wo sie eigentlich hingehört.« »Kann ich das Kind mitnehmen und behalten, bis nach demselben gefragt wird?« »Ja gewiß,« sagte der Wachtmeister, »Sie dürfen nur mit dem Herrn Kommissär sprechen.«
Herr Steiner verließ nun das Zimmer und ging zu dem Herrn Polizeikommissär. Bald kam er zurück und sagte: »Es ist alles in Ordnung, die Kleine geht mit uns!«
Wie fröhlich sah nun auf einmal das liebe Gesichtchen der kleinen Anna aus! Sie gab Julchen die Hand, und seelenvergnügt gingen die beiden Mädchen mit dem Vater, der den kleinen Max fest an der Hand hielt, damit er nicht noch einmal verloren gehe. So eilten sie durch die Straßen der Stadt nach dem Bahnhof zu. Plötzlich aber blieb Max, der kleine Schlingel, stehen, deutete auf einen Laden, in dem allerlei Spielsachen ausgestellt waren, und rief: »Eine Trompete, ich möchte eine Trompete, Julchen hat mir eine versprochen!«
»Die Trompete ist an allem Schuld,« sagte Julchen und erzählte dem Vater, wie Max seine Trompete verloren hatte. »Für dich gibt's heute keine Trompete mehr,« sagte der Vater. Da wollte Max anfangen zu weinen, aber Anna beugte sich zu ihm und sagte: »Sei still, sonst kommt der Polizeiwachtmeister!« Da war Max ganz still und ließ sich brav auf die Bahn führen. Dort, beim Portier, warteten die zwei Brüder auf sie und freuten sich sehr, als sie die Geschwister kommen sahen. Verwundert betrachteten sie die kleine Fremde. Gleich darauf fuhr ein Zug nach Neudorf ab, unsere sechs Reisenden stiegen ein und kamen bald darauf glücklich an.
Auf dem Weg vom Bahnhof zu ihrem Hause sagte Julchen: »Sieh, Anna, dort wohnen wir.« Anna aber drückte sich ängstlich an sie und fragte: »Wird mich deine Mutter nicht schlagen?« »O nein,« sagte Julchen lachend und führte Anna ins Haus, wo ihnen schon die Mutter entgegen kam.
»Gottlob, daß ihr glücklich wieder da seid,« rief die Mutter, »ich hatte so Angst um euch, während des Gewitters.« »Ja,« sagte der Vater, »nachher will ich dir alles erzählen; aber jetzt sieh erst einmal, was dir Julchen vom Volksfest mitgebracht hat!« Dabei zog er Anna, die sich ängstlich hinter Julchen versteckt hatte, hervor und führte sie zur Mutter.
»Ein verlorenes Kind, das ist unser Mitbringen!« Erstaunt und fragend sah die Mutter das kleine Mädchen an, aber Julchen umarmte die Mutter und sagte leise zu ihr: »O Mutter, laß sie bei uns bleiben, damit ich auch ein Schwesterchen habe, sie ist so ein gutes, armes Kind!« »Nun, wir wollen sehen,« antwortete die Mutter, »jedenfalls darf sie heute bei uns bleiben. Komm mit herein an unsern Tisch, liebe Kleine, und iß mit uns!« Als Anna diese freundlichen Worte hörte, wurde ihr ganz wohl ums Herz. Sie durfte sich mit an den Tisch setzen und Julchen sorgte für sie wie ein kleines Mütterchen.
»Heute Nacht darfst du bei Julchen im Bett schlafen,« sagte nach dem Essen die Mutter, »und wenn dich morgen dein Vater noch nicht holt, richte ich dir ein Bett neben Julchen.«
Seelenvergnügt gingen die zwei Schlafkameradinnen mit einander zu Bett und plauderten, bis ihnen die müden Augen zufielen. Inzwischen erzählte der Vater alle Erlebnisse des Tages und sagte schließlich zur Mutter: »In meinem Leben gehe ich nie mehr zum Volksfest!«
Es kam aber doch anders. In den nächsten Tagen erwarteten die Eltern täglich, daß Annas Vater, oder doch wenigstens ein Brief von ihm, ankommen würde. Es kam aber kein Vater und kein Brief; eine Woche nach der andern verging, Anna wurde immer heimischer im Hause. Sie gewann die Mutter innig lieb und sagte zu Julchen: »Deine Mutter ist so gut, wie meine Mutter war!«
Julchen und Anna waren immerfort beisammen, aber wenn Julchen zu den Eltern sagte: »Nicht wahr, jetzt bleibt Anna doch ganz bei uns und ich darf sie meine Schwester nennen,« dann sagten die Eltern immer wieder: »Nein, sie gehört nicht uns, ihr seid bloß Freundinnen und müßt immer daran denken, daß ihr vielleicht wieder getrennt werdet!«
So verlief ein ganzes Jahr und das Volksfest kehrte wieder. Am Morgen dieses Tages riefen die Eltern Anna zu sich und sagten: »Anna, wir gehen heute auf das Volksfest und du sollst mit uns und deinen Vater suchen.« Als dies Anna hörte, erschrak sie, lief laut weinend zur Türe hinaus und rief: »Julchen, Julchen, ich muß wieder fort von euch!« »So höre doch nur, Kind,« sagte die Mutter und holte die Weinende wieder herein. »Wir wollen dich ja behalten, nur muß es dein Vater erlauben, und du selbst sollst es ihm sagen, daß du gerne bei uns bleiben möchtest.« »Wenn es aber mein Vater nicht erlaubt?« jammerte Anna. »Dann können wir nichts machen, denn du gehörst ihm. Aber wir wollen ihn bitten und nun sei getrost, Kind, und richte dich mit uns zu gehen, es kann nicht anders sein!«
Unter bittern Tränen nahm Anna Abschied von den Kindern, denn sie wußte ja nicht, ob sie sie wiedersehen würde. »Darf ich mit?« fragte Max. »Nein, du ganz gewiß nicht!« riefen alle miteinander, und Max war still.
Julchen begleitete Anna noch bis auf die Bahn. Als der Zug mit den Eltern und Anna abfuhr, winkten sich die Freundinnen noch so lange sie sich sehen konnten und Julchen ging allein und traurig nach Hause.
Gewiß trat kein Mensch mit so bangem, klopfenden Herzen auf die Festwiese, wie die kleine Anna. Ängstlich sah sie nach rechts und nach links, ob sie den Vater fände. Es war nicht leicht in dem Gedränge durchzukommen und sie waren schon eine Viertelstunde herumgelaufen, als Anna plötzlich rief: »Seht, dort steht mein Vater mit seinem Kram!«
Der Mann, auf den Anna deutete, sah schlecht gekleidet und unordentlich aus. Sie gingen auf ihn zu, er erkannte aber sein Kind nicht sogleich, denn Anna war in diesem Jahr gewachsen und sah viel frischer und rotbackiger aus, hatte auch bessere Kleider an als früher.
Eine Weile sah er Anna aufmerksam an, dann rief er: »Potz tausend, das ist ja mein Annerl!« Er klopfte sie auf ihre roten Backen und sagte: »Wo hast denn du dich herumgetrieben in diesem Jahr?« Da trat Herr Steiner zu dem Manne und sagte: »Wir haben Ihr Kind bei uns aufgenommen und wir sind heute gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie das Kind zurückfordern oder uns lassen wollen. Meine Frau und ich, sowie unsere Kinder haben die Kleine lieb gewonnen und behielten sie gerne.« Ängstlich wartete Anna auf die Antwort ihres Vaters. Endlich sagte dieser: »Ich möchte nur einen Augenblick mit meinem Kind allein reden.«
Er nahm Anna beiseite und sagte zu ihr: »Was ist der Herr?« »Schullehrer,« antwortete Anna. »Bekommst du genug zu essen?«
»So viel ich nur will.«
»Möchtest du bei ihnen bleiben?«
»Ja Vater!«
Da führte der Vater Anna wieder zu Herrn Steiner und sprach: »Herr Lehrer, wenn Sie das Kind behalten wollen, so nehmen Sie es, es wird's bei Ihnen besser haben, als bei mir. Ich habe keine Frau mehr und kann für das Kind nicht sorgen. Mein Geschäft geht schlecht, ich will nach Amerika ziehen und dort mein Glück probieren.«
»In Gottes Namen, so gehört das Kind uns für alle Zeit,« sprach Herr Steiner. »So komm, mein liebes Töchterlein,« sprach die Mutter, »wir wollen heimgehen zu den Geschwistern. Sag deinem Vater Adieu.« »Halt, halt,« rief Annas Vater, »man soll mir nicht nachsagen, ich hätte meinem Kinde gar nichts mitgegeben!« Er holte aus seiner Tasche ein 20 Pfennigstück und gab es Anna. Diese dankte freundlich dafür, sagte dem Vater Adieu und ging nun mit leichtem Herzen zwischen den Eltern über die Wiese nach der Stadt zu. Ehe sie aber den Festplatz verließen, sagte Anna: »Darf ich nicht um die 20 Pfennig etwas kaufen?«
»Was willst du denn kaufen?« »Ich möchte es lieber nicht vorher sagen, aber gleich dort am nächsten Stand ist es zu haben.« »Nun also, so kaufe es schnell!«
Anna kam im Augenblick wieder zurück und was hatte sie in der Hand?
Eine Trompete!
»Die bringe ich Max mit,« sagte Anna, »denn hätte er voriges Jahr nicht seine Trompete verloren, so wäre ich jetzt nicht bei euch!« »Du bist ein gutes Kind!« sagten die Eltern.
Aber auch die Mutter machte noch einen heimlichen Einkauf. Sie holte für ihre zwei Töchterchen einen schönen Stoff zu Kleidchen, denn sie sollten von nun ganz gleich gekleidet werden.
Während die Eltern und Anna die Stadt verließen und nach Neudorf zurückfuhren, warteten dort am Bahnhof die vier Kinder auf den Zug und waren in größter Spannung, ob die Eltern allein oder mit Anna aussteigen würden. Aber noch ehe der Zug hielt, sah ein fröhliches Kindergesicht aus demselben und ein lustiger Trompetenklang erscholl.
»Juchhe! es ist Anna!« riefen die Brüder.
»Eine Trompete, eine Trompete!« jubelte Max. Julchen aber sprang an den Zug, half Anna aussteigen und fiel den Eltern voll Freude um den Hals.
Es war eine glückliche Gesellschaft, die sich nun, mit dem kleinen Trompeter an der Spitze, nach Hause begab. Als sie daheim waren, sagte der Vater zu den zwei Mädchen: »Als Freundinnen seid ihr auseinander gegangen, als Schwestern seht ihr euch wieder. Behaltet euch immer so lieb wie heute.«
Die Kinder versprachen es und hielten auch Wort, so lange sie lebten!