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Die kleine Lili war das einzige Kind eines reichen Kaufmanns. An demselben Tag, an dem sie auf die Welt kam, starb ihre Mutter. Tief betrübt stand Herr Palmer an der Wiege seines mutterlosen Kindchens; wer sollte nun für das zarte Wesen sorgen? Lilis Mutter war eine Engländerin gewesen und ihre Verwandten waren alle weit fort in England. Herr Palmer selbst hatte keine Verwandten, die sich des Kindes hätten annehmen können.
Da erinnerte er sich an eine alte, treue Freundin des Hauses, die ihn selbst schon in seiner Jugend unterrichtet hatte, er schrieb an sie und bat sie, für sein Kind zu sorgen.
Fräulein von Rosen erklärte sich bereit und kam nun ins Haus, um neben dem Kindsmädchen für die Kleine zu sorgen.
Lili war ein sehr zartes Töchterchen, und Fräulein von Rosen pflegte sie mit ängstlicher Sorgfalt. Sie ließ das Kind nie außer Augen, aus Furcht es möchte ihm etwas geschehen. Sie vertraute es auch nie den Dienstmädchen an, welche die liebliche Kleine oft gerne mitgenommen hätten, wenn sie Ausgänge machten. Als Lili heranwuchs, wurde sie sorgfältig vor dem Umgang mit anderen Kindern gehütet, denn das Fräulein fürchtete, daß Lili von diesen etwas Unfeines lernen möchte. An der Hand ihres Fräuleins durfte sie manchmal einen kleinen Spaziergang machen; wenn sie aber, wie andere Kinder, fröhlich herumspringen wollte, so rief das Fräulein sie streng zurück und sagte ihr, das schicke sich nicht für sie.
So gewöhnte sich Lili, ganz still und sittsam neben dem alten Fräulein herzugehen. Doch kamen diese Spaziergänge nicht oft vor; denn wenn es kühl war, so sprach das Fräulein: »Wir gehen heute nicht, du könntest dich erkälten;« war es heiß, so meinte sie: »du verbrennst zu sehr in der Sonne,« und war es regnerisch, so hieß es: »du könntest deine Stiefel beschmutzen.«
Kam dann der Herbst und der Winter, so hatte das alte Fräulein oft Schmerzen in den Füßen, und vom Ausgehen war keine Rede mehr. So blieb auch Lili daheim. Das Fräulein ließ sie dann neben sich sitzen, lehrte sie Lesen und Schreiben, später auch Französisch, Englisch und Klavierspielen, und mit neun Jahren war die Kleine schon so gelehrt wie manches Kind nicht ist, wenn es aus der Schule kommt.
Lilis Vater war sehr wenig zu Hause, wenn er aber kam, freute er sich an seinem gelehrten, wohlerzogenen Töchterchen, brachte ihr die feinsten Spielsachen und die besten Bonbons mit und sprach mit ihr über vieles, was andere Kinder dieses Alters noch gar nicht verstehen.
Aber der Vater und das Fräulein bemerkten nicht, daß Lili bei diesem einsamen Leben viel stiller wurde, als andere Kinder sind, es fiel ihnen auch nicht auf, wie blaß und zart sie allmählich wurde. Eines Morgens aber erklärte Lili, sie sei so müde, daß sie nicht aufstehen könne, und sie wolle auch kein Frühstück haben. Das Fräulein erschrak und ließ augenblicklich den Arzt holen. Dieser kam, beruhigte das Fräulein, sagte, Lili sei nicht krank, verschrieb eine Arznei und versprach, bald wieder zu kommen. Lili nahm die Arznei, aber es wurde nicht besser bei ihr; sie wollte gar nichts mehr essen, auch die besten Süßigkeiten, die ihr der Vater heimbrachte, ließ sie unberührt stehen; blaß und still lag sie in ihren weißen Kissen und sah aus, als wolle sie einschlafen, um nie mehr aufzuwachen. Bedenklich schüttelte der Arzt den Kopf und sagte, er könne nicht begreifen, woher das Kind so schwach sei.
In seiner Sorge ließ Lilis Vater einen andern Arzt kommen. Dieser untersuchte Lili genau, dann setzte er sich zu ihr ans Bett und fing an sie auszufragen. »Wie alt bist du, Kind?« »Ich bin neun Jahre alt.« »In welche Schule gehst du denn?« »Ich gehe in keine Schule, ich lerne bei meinem Fräulein.« »Ganz allein?«
»Ja, ganz allein.«
»Hast du denn auch Spielkameradinnen?« »Nein, ich kenne keine Kinder.« »Was lernst du denn bei deinem Fräulein?« »Französisch, Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Klavier – –« »Genug, genug,« unterbrach sie der Doktor.
»Gehst du alle Tage spazieren?« »Seit dem Sommer bin ich nimmer gegangen.« »So? Und jetzt haben wir Februar! Habt ihr vielleicht einen Garten?« »Nein.«
»Wann gehst du denn abends ins Bett?«
»Wenn mein Fräulein geht, um 10 Uhr oder 11 Uhr.«
»Und wann stehst du auf?« »Um 9 Uhr.«
Nun wandte sich der Arzt an Herrn Palmer und das Fräulein und sagte: »Ich finde es in diesem Zimmer sehr heiß, schläft das Kind immer im geheizten Zimmer?«
»Freilich,« sagte das Fräulein. »Man kann doch ein so zartes Geschöpf nicht in ein kaltes Zimmer legen! Sie bekommt auch jeden Abend eine heiße Wärmflasche ins Bett.«
Nun erhob sich der Doktor und sagte: »So, so, nun habe ich genug gehört. Lebewohl Lili, dir will ich bald helfen. Kommen Sie ein wenig mit mir in ein anderes Zimmer,« sprach er zu Herrn Palmer und dem Fräulein.
Als sie nun Lilis Zimmer verlassen hatten, sprach der Arzt: »Daß dies Kind schwächlich ist, wundert mich nicht, denn es ist so verkehrt wie nur möglich behandelt worden. Ein Kind soll alle Tage und bei jedem Wetter in die Luft kommen, soll mit andern Kindern herumspringen und nicht halb so viel lernen, als dies Kind lernt. Es soll früh zu Bett und früh heraus, es soll kalt schlafen und hart gewöhnt werden. Die Schleckereien aber, die ich bei dem Kind habe stehen sehen, die sind wie Gift für ein Kind wie Lili. Nun richten Sie sich nach meinen Ratschlägen, lassen Sie das Kind sofort aufstehen und von morgen an in die Luft gehen. In acht Tagen komme ich wieder.« Mit diesen Worten verließ der Doktor das Zimmer.
Das Fräulein war außer sich: »Es ist ein unfeiner, unhöflicher Mann,« sagte sie, »und was er verlangt, ist grausam!« Herr Palmer beruhigte das Fräulein so gut er konnte, und sie versprach, sich nach den Vorschriften des Arztes zu richten. Lili mußte nun, trotz ihrer Müdigkeit, aufstehen; da aber am nächsten Tage ein scharfer Wind wehte, ließ man sie doch nicht ausgehen. Am Abend wurde nur ein ganz kleines Feuer in Lilis Zimmer gemacht und keine Wärmflasche in ihr Bett gestellt. Als Lili eine Weile im Bett lag, fing sie ein klein wenig an zu husten.
»Hören Sie, wie das Kind hustet!« sagte das Fräulein zu Lilis Vater, »der grausame Arzt wird unser Kind noch umbringen!« und so schnell es ihre kranken Füße erlaubten, eilte sie in die Küche, bestellte eine heiße Wärmflasche, warf selbst noch einige Schaufeln voll Kohlen auf das Feuer in Lilis Zimmer, und bald lag Lili wieder so warm gebettet wie nur je. Die ganze Woche hindurch fand das Fräulein das Wetter nie gut genug zum ersten Ausgang; so blieb Lili daheim, und wenn sie Langeweile hatte, so lernte sie wieder stundenlang. Da sie fast gar nichts essen mochte, so brachte es das Fräulein auch nicht übers Herz, es ihr zu verwehren, wenn sie manchmal nach den Süßigkeiten langte.
So blieb denn alles so ziemlich beim alten und als nach acht Tagen der Arzt wiederkam, wurde er sehr böse. Er kehrte dem Fräulein den Rücken, suchte Herrn Palmer auf und sagte zu diesem: »Ich weiß nur ein Mittel, um Ihr Kind zu retten schicken Sie es für einige Monate ganz fort von hier, denn in diesem Hause, unter solch unvernünftiger Pflege kann es nicht gesund werden!«
»Wo soll ich aber das Kind hinschicken?« fragte der Vater, »ich habe weder Verwandte noch Bekannte in der Nähe.«
»Aber ich habe einen Bruder, der Forstmeister ist in einem Dorfe ein paar Stunden von hier. Er hat eine liebe Frau und sechs frische, muntere Kinder, bei denen wäre Ihre Kleine aufs beste aufgehoben, und die Landluft wäre ihr gesund. Ich will heute noch dorthin schreiben und sowie ich Antwort habe, komme ich selbst und bringe das Kind ins Forsthaus. Sagen Sie nur dem Fräulein, sie solle alles zur Reise richten!«
Der Arzt ging, und Herr Palmer mußte nun dem Fräulein mitteilen, was beschlossen worden war. Das Fräulein war entsetzt über den Vorschlag des Doktors. »Wie kann man nur so grausam sein und dieses zarte Kind mitten im Winter aufs Land zu fremden Leuten schicken,« klagte sie. »Was wird Lili alles sehen und hören bei diesen schrecklichen sechs Kindern, von denen der Arzt selber sagt, daß sie munter seien! Aber ich werde Lili nicht verlassen, ich werde mit ihr gehen und sie hüten vor diesen Leuten, soviel ich nur kann.«
»Ich fürchte, der Arzt wird das nicht erlauben,« sagte Herr Palmer.
»Wenn ich nicht bei dem Kinde bleiben darf, so will ich sie doch wenigstens hinbegleiten und den Leuten sagen, wie so ein Kind gepflegt werden muß.« Dabei blieb das Fräulein und sie machte sich nun daran, alles für diese unvermutete Reise zu richten.
Herr Palmer ging zu Lili, um auch ihr den Vorschlag des Doktors mitzuteilen. Er fürchtete, Lili würde weinen und nicht von zu Hause fort wollen, aber sie weinte nicht, sondern sagte: »Wenn ich auf dem Land gesund werde, will ich gerne gehen.«
Nach zwei Tagen schon ließ der Arzt sagen, er werde am nächsten Morgen um zehn Uhr mit einem Wagen kommen, um Lili abzuholen; man möchte sie bereit halten. So machte denn das Fräulein unter viel Seufzen und Stöhnen für ihre und Lilis Reise alles fertig.
Am nächsten Morgen wurde Lili in ihr wärmstes Winterkleid gesteckt, darüber bekam sie einen schönen, schwarzen Samtmantel, dazu ein Pelzkäppchen mit Schleier, einen Muff, dicke Winterhandschuhe und Pelzstiefelchen an die Füße. Ebenso warm eingebaut stand das Fräulein reisefertig neben ihr. Schlag zehn Uhr hielt die Kutsche vor dem Haus. Herr Palmer führte Lili sorgsam die Treppe hinunter, das Fräulein folgte nach.
»Guten Morgen, Kleine!« rief der Doktor freundlich, als er Lili mit ihrem Vater kommen sah. Herr Palmer verabschiedete sich kurz von seinem Töchterchen, um ihr das Herz nicht schwer zu machen und half ihr einsteigen. Der Arzt setzte sich ihr gegenüber, breitete noch eine Reisedecke über ihre Füße und wollte schon dem Kutscher ein Zeichen geben, abzufahren, als das Fräulein rief: »Bitte, warten Sie doch, ich fahre ja auch mit, lassen Sie mich doch erst einsteigen!«
»Bedaure, es ist kein Platz mehr frei,« antwortete der Doktor und ohne auf ihre und Herrn Palmers Einwände zu hören, rief er dem Kutscher zu: »Fort!« Der Wagen fuhr ab, und Lili konnte dem Fräulein nur noch einen Abschiedsgruß zuwinken. Da stand nun das Fräulein in ihrem Reisegewand vor dem Haus und sah voll Verzweiflung dem Wagen nach. »Kommen Sie,« sagte Herr Palmer, führte das Fräulein wieder hinauf und hatte alle Mühe, sie zu beruhigen über den grausamen Doktor, der sie nicht mitgenommen hatte.
Inzwischen rollte der Wagen mit Lili immer weiter von der Stadt weg und immer näher nach dem Dorfe, in das Lili kommen sollte. In dem Forsthaus wurde alles vorbereitet, um die kleine Fremde aufzunehmen, die man zu Mittag erwartete. Der Arzt hatte gar nicht viel über Lili geschrieben, und so war die ganze Familie begierig auf den kleinen Gast. Die Frau Forstmeister richtete das Bett im Gastzimmer, und damit sich das fremde Kind nicht so einsam fühle, ließ sie noch ein zweites Bett hineinstellen, in dem eines ihrer Töchterchen schlafen sollte.
»Wen soll ich wohl zu der kleinen Fremden legen?« fragte die Frau Forstmeister ihren Mann. »Unsere Mädchen möchten alle drei gern bei ihr schlafen.« »Nun ich dächte: Ida,« sagte der Vater, »sie ist sanfter als unsere wilde, kleine Emma und paßt im Alter besser zu Lili als Johanna, die ja schon zwölf Jahre alt ist.«
»Also, dann soll Ida ihre Schlafkameradin werden,« sagte die Mutter.
Die Kinder erwarteten voll Ungeduld die Mittagszeit und sprangen oft ans Fenster, um zu sehen, ob sich in der Ferne noch keine Kutsche zeige.
»Also Lili heißt das Kind,« sagte Ida, »das ist ein schöner Name.« »Ich möchte nur wissen, ob sie auch schön aussieht,« sagte die kleine Emma. »So ein dicker Plumpsack wie du bist, wird sie wohl nicht sein,« sagte der zehnjährige Paul, indem er die kleine Schwester in die Backen zwickte, daß sie schrie. »Aber so grob wie du ist sie jedenfalls auch nicht,« sagte Karl, das älteste der Kinder, zu seinem Bruder.
»Da kommt eine Kutsche,« rief plötzlich der kleine vierjährige Otto, und mit dem Ruf: »sie kommen, sie kommen« sprangen nun alle sechs Kinder zum Zimmer hinaus. Vater und Mutter kamen auf diesen Ruf herbei, und der Vater sagte zu den Kindern: »Nun bleibt ihr aber unter der Haustüre stehen, denn wenn ihr alle sechs auf die Kutsche losstürzt, so traut sich die kleine Fremde gar nicht auszusteigen. Bloß Ida soll mit an den Wagen kommen und ihre künftige Schlafkameradin gleich empfangen.« Inzwischen hatte sich die Kutsche genähert und hielt endlich vor dem Forsthaus. Zuerst stieg der Doktor aus, dann hob er die kleine Lili heraus, die ganz schwindelig von der langen, ungewohnten Fahrt war. Ida streckte ihr freundlich die Hand entgegen und Lili hielt sich fest an ihr. Der Doktor grüßte freundlich die Forstmeistersleute und sagte: »Da bringe ich euch also euer Pflegekind! Wo sind denn aber eure Kinder alle? Aha, dort oben an der Haustüre stehen sie, da sieh einmal, Lili, was da für lustige Kameradschaft auf dich wartet!« Lili sah die Kinder unter der Türe stehen und als sie mit Ida zu ihnen kam, riefen alle: »Grüß Gott, Lili!«
»Guten Tag,« antwortete Lili leise und hielt sich fest an Ida, denn es war ihr ganz ängstlich zu Mute vor den vielen Kindern. Diese schauten sie neugierig an; denn Lili war so eingehüllt und hatte einen so dichten Schleier vor dem Gesicht, daß fast gar nichts von ihr zu sehen war.
»Was hast du denn für ein Tuch vor dem Gesicht hängen?« fragte der kleine Otto, der noch nie einen Schleier gesehen hatte. Alle lachten und Lili schlug ihren Schleier zurück. Ihr zartes, feines Gesichtchen sah gar lieblich aus und Otto sagte: »Jetzt gefällst du mir.« Lili lächelte Otto freundlich an und folgte an Idas Hand den andern, die schon ins Wohnzimmer gegangen waren, in dem ein großer gedeckter Tisch stand.
Als Lili ihren Mantel und Pelzwerk abgelegt hatte, sah man erst, was sie für ein schmächtiges Gestältlein war, besonders neben den gesunden, kräftigen Försterskindern. Man setzte sich nun zu Tisch; Lili saß neben Ida und dem Arzt. Dieser fragte jetzt die Kinder: »Nun, wie ist es denn euch in der letzten Zeit gegangen? Erzählt mir auch etwas von Weihnachten.« Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und bald war ein lustiges Geplauder im Gang. Oft sprachen alle zu gleicher Zeit, so daß Lili, die noch nie so etwas erlebt hatte, staunend schaute und horchte.
Sie selbst sprach nichts. Als das Essen vorüber war, sagte der Arzt zu Lili: »Du wirst müde sein von der Reise; laß dir dein Zimmer zeigen und mache ein Mittagschläfchen. Bis du aber wieder aufstehst, bin ich wohl schon fort; darum sage ich dir jetzt gleich Lebewohl.«
Lili stand auf, ging zu dem Arzt und sprach: »Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Begleitung; leben Sie wohl, Herr Doktor.«
Dabei machte sie eine kleine Verbeugung, wie ein junges Dämchen. Die anderen Kinder staunten; Lili sprach ja wie ein Buch! Die Frau Forstmeister stand nun auf und sagte: »Komm, Ida, wir wollen Lili hinaufführen in ihr Zimmer.«
Das Forsthaus war groß und schön, und das Gastzimmer war ein besonders freundliches Zimmer mit Aussicht in den Garten und in den Wald. Die Mutter packte Lilis Reisesack aus und ließ dann die beiden Mädchen allein. Lili sah zum Fenster hinaus: »Wie hübsch ist es hier, wem gehört wohl der große Garten?«
»Das ist ja unser Garten,« sagte Ida.
»Wie schade, daß man nicht hinein kann!« sagte Lili.
»Warum sollte man da nicht hineinkönnen?« fragte Ida verwundert. »Er hat ja eine Türe!«
»Das glaub' ich wohl,« sagte Lili; »aber man kann doch nicht in den Garten gehen, wenn es Winter ist.«
»O deswegen gehen wir doch alle Tage hinein,« sagte Ida, »jetzt ist's erst recht lustig, weil man Schneeballen machen kann.«
»Aber das tun doch wohl nur Knaben,« meinte Lili.
»O nein, wir Mädchen können es auch, ich habe heute auf dem Schulweg schon viele Schneeballen gemacht.«
»Erkälten Sie sich dann nicht?« fragte Lili. »Wer?« fragte Ida dagegen. »Nun Sie, wenn Sie Schneeballen machen,« sagte Lili.
Ida war sprachlos. Lili sagte Sie zu ihr! Sie wußte gar nicht, was sie darauf antworten sollte. Endlich sagte sie: »Nein, ich erkälte mich nicht; aber, Lili, zu uns Kindern sagt niemand Sie.«
»Nicht?« sagte Lili, »mein Fräulein hat mich gelehrt, daß es nicht fein sei, zu fremden Leuten ›du‹ zu sagen.«
»Vielleicht ist das in der Stadt so,« sagte Ida; »aber bei uns auf dem Land sagt man ›du‹.«
»Ich will gerne ›du‹ zu dir sagen; ich glaube, bei euch ist vieles anders als bei uns; mein Fräulein würde es zum Beispiel entsetzlich finden, wenn Mädchen Schneeballen werfen.«
»Aber hier tust du doch auch mit, nicht wahr?« sagte Ida.
»Nein, das werde ich nie tun,« antwortete Lili; »aber ich bin begierig euch zuzusehen.« Lili hatte inzwischen angefangen sich auszukleiden; nun schien sie auf etwas zu warten.
»Möchtest du etwas?« fragte Ida. »Kommt kein Mädchen herauf?« fragte Lili. »Was für ein Mädchen meinst du?« »Eines von euren Dienstmädchen!« »Wir haben nur eine Magd, und die kommt nicht: aber sage mir, was du von ihr möchtest.«
»Unser Zimmermädchen hat mir immer die Stiefel ausgezogen; wer zieht sie denn dir aus?«
»Ich tue es selbst, auch meine Emma tut es schon selbst, obwohl sie erst sechs Jahre alt ist; aber wenn du es nicht kannst, will ich dir helfen.«
»O nein, ich danke, ich werde es selbst versuchen.«
Lili fing an ihre Stiefel aufzuknüpfen und Ida sah, wie die zarten, weißen Fingerchen sich an dem Stiefelleder abmühten, ohne viel zu stande zu bringen. Obwohl Ida sonst dies Geschäft auch nicht gerne tat, trieb ihr gutes Herz sie doch zu helfen. Sie kniete auf den Boden und Lili, die schon müde war, ließ sich gerne helfen.
»Du bist so gütig gegen mich, ich danke dir,« sagte Lili.
»Ich kann dir immer helfen, ich schlafe ja bei dir.«
»Ach, das ist hübsch, ich habe noch nie eine kleine Schlafkameradin gehabt.«
Nun war Lili fertig und Ida sagte: »Ich gehe jetzt und wenn du ausgeschlafen hast, kommst du auch wieder zu uns herunter, nicht wahr?«
»Ich habe mich noch nie selbst angekleidet,« sagte Lili.
»Dann will ich dir eine Klingel neben das Bett stellen, und wenn du klingelst, komme ich zu dir und helfe dir.« Ida holte die Klingel, stellte sie an Lilis Bett und sagte zu ihr: »Schlaf wohl.« Lili schlang ihre Ärmchen um Idas Hals und küßte sie.
Als Ida hinunterkam, fand sie ihre Geschwister in eifrigem Gespräch über Lili.
»Schön ist sie wie eine Fee,« sagte Karl. »Ja, aber ich glaube nicht, daß man mit ihr spielen kann,« meinte Paul. »Mir kommt sie vor wie ein Fräulein, man geniert sich ganz vor ihr,« sagte Johanna, die älteste.
»Gegessen hat sie fast gar nichts,« sagte die kleine Emma. »Drum ist sie auch nicht so dick wie du,« sagte Paul, »die wollte ich ja umblasen, so leicht ist sie.«
»Nun, Ida, du sagst ja gar nichts über sie und warst doch vorhin so lange bei ihr; wie gefällt sie denn dir?« »Ich habe sie sehr lieb,« sagte Ida. »Ich mag sie auch,« rief der kleine Otto.
Inzwischen hatten auch die Eltern mit dem Arzt über Lili gesprochen.
»Wie soll ich für so ein verwöhntes Kind sorgen? ich habe ja keine Zeit, sie zu pflegen,« sagte die Frau Forstmeister. »Sie wird sich bald so kräftigen, daß du sie nimmer pflegen mußt,« beruhigte der Arzt.
»Unser Essen schmeckt ihr nicht, das habe ich schon gesehen, und ich kann doch nicht extra für sie backen und braten.«
»Das sollst du auch nicht; was sie nicht mag, läßt sie stehen; zwinge sie nicht, bald wird sie von selbst zulangen.«
»Unsere Kinder sind viel zu derb für sie, es wird ihr angst und bang werden, wenn die Buben schreien und sich herumpuffen.«
»Laß das Fräulein nur erst kräftig werden, dann gibt sie auch einen Puff zurück, wenn's not tut!«
»Wie soll sie sich aber die Zeit vertreiben, sie, die so gewöhnt ist zu lernen?«
»Schicke sie mit deinen Kindern in die Schule.«
»In unsere Bauernschule? Das geht nicht.«
»Nun probiere es einmal, dann wird es sich zeigen, und nun mache dir nicht so viel Sorgen, es wird alles gut gehen. Sagt noch einen Gruß an Lili und wenn sie frisch und rotbackig sei, dürfe sie wieder heim, vorher nicht.« »Nun, ich werde dir berichten, wie es steht,« sagte der Forstmeister zu seinem Bruder.
Der Doktor verabschiedete sich nun von der ganzen Familie und fuhr in die Stadt zurück.
Um vier Uhr klingelte Lili, und Ida, die sich schon lange auf ihr Erwachen gefreut hatte, eilte hinauf. »Jetzt will ich dir helfen beim Anziehen,« sagte sie zu Lili. »Ich danke dir, ich kann nicht aufstehen.« »Was hast du denn, bist du krank?« »Nein, aber müde, sehr müde.«
Das war eine schlimme Nachricht. Ida ging gleich hinunter, um die Mutter zu holen.
Diese brachte nun Lili etwas zu essen und zu trinken und als sie es zu sich genommen hatte, sagte die Mutter: »Nun Lili, frisch heraus, bei uns bleibt man nicht am hellen Tag im Bett liegen!« »Ich kann nicht,« sagte Lili.
»Aber, Lili, wenn du nicht aufstehst, wirst du nicht frisch, und der Doktor hat mir noch aufgetragen, dir zu sagen, sowie du frisch und rotbackig seiest, dürfest du wieder heimkommen; aber vorher nicht.«
Dies half. Lili nahm ihre Kraft zusammen und siehe da, sie konnte aufstehen.
»So ist's recht,« sagte die Frau Forstmeister und ging wieder hinunter, während Ida der kleinen Freundin noch beim Anziehen half. Als die Beiden hinunterkamen, brachte die Mutter gerade eine große Schüssel voll Kartoffeln herein und sagte zu den drei Mädchen: »Flink, ihr Mädchen, ihr müßt mir helfen für diesen Abend Kartoffeln zu schälen.« Jedes der Mädchen holte sich nun einen Teller und ein Messer und alle fingen an zu schälen. Lili war ganz verwundert. Daß so etwas im Zimmer und nicht von der Magd in der Küche geschah, hatte sie noch nie erlebt, und im stillen sagte sie sich: »Was würde wohl mein Fräulein dazu sagen?«
»Willst du auch helfen, Lili?« fragte die Mutter. »Ich möchte lieber nicht.« »Warum nicht?« fragte die kleine Emma. »Ich fürchte, mir die Hände zu beschmutzen.« Emma lachte: »Die kann man doch wieder waschen.« »Ja, aber ich bekomme auch leicht Schmerzen in den Armen, wenn ich sie anstrenge. Ich will lieber lesen,« und Lili nahm ein Buch und setzte sich ans Fenster.
Die Mädchen waren fleißig an ihrem Geschäft; der kleinen, munteren Emma ging es besonders schnell von der Hand und bald sagte sie: »Sieh nur, Mutter, ich habe schon fünf geschält und Ida hat erst drei und ist doch viel größer als ich.«
»Und sieh, was ich schon für einen Haufen habe,« sagte Johanna.
»Ida, sei nicht so langsam,« ermahnte die Mutter. Aber Ida war nicht so geschickt wie die Schwestern, und als die kleine Emma schon acht geschälte Kartoffeln auf dem Teller hatte, plagte sich Ida noch mit der fünften und wurde von Emma ausgelacht. Ida schämte sich, und es kamen ihr Tränen in die Augen.
Lili hatte dies alles bemerkt, sie legte ihr Buch weg, kam an den Tisch und sagte: »Bitte, Frau Forstmeister, ich möchte es doch auch versuchen; wollen Sie mir ein Messer geben.«
»Recht gerne,« antwortete die Mutter, »Johanna, hole ein Messer und einen Teller für Lili.«
»Nein, bitte, ich will keinen Teller,« sagte Lili eifrig, »ich lege meine geschälten Kartoffeln auf Idas Teller.« Und Lili setzte sich neben Ida und fing mit großem Ernst an zu schälen.
»Aber Lili, du hast eine seidene Schürze an; das paßt nicht recht; hast du keine grobe Schürze?« fragte die Mutter.
»Ich trage bloß seidene oder weiße,« antwortete Lili.
»Wenn du nun auch eine fleißige Tochter werden willst, so mußt du eine Hausschürze haben, wie meine Mädchen. Soll ich dir eine kaufen?«
»O ja, bitte,« sagte Lili, »und recht bald.«
»Das wollen wir gleich morgen besorgen.«
Lili war nicht geübt im Kartoffelschälen; aber sie brachte doch auch etwas zu stande und mit ihrer Hilfe hatte Ida bald so viel auf ihrem Teller wie die andern.
»Ja, das gilt nicht, ihr seid zwei,« rief Emma. »Doch das gilt, Ida und ich werden für eine gerechnet,« sagte Lili so bestimmt, daß es die kleine Emma glaubte und nichts mehr entgegnete.
Ida war sehr vergnügt über diese Hilfe und fragte Lili: »Hast du keine Schmerzen in den Armen?«
»Ich spüre nichts,« antwortete Lili und half solange, bis das Geschäft fertig war.
Nach dem Nachtessen saß die ganze Familie um den Tisch herum, jedes hatte sich eine Arbeit oder ein Spiel hergenommen und der Vater las die Zeitungen. Als er eben ein Blatt weggelegt hatte, sprach Lili: »Erlauben Sie, Herr Forstmeister, daß ich diese Zeitung lese?«
Verwundert sah sie der Forstmeister an: »Lesen denn kleine Mädchen auch schon die Zeitung?« fragte er.
»Mein Vater hat sie mir alle Abend gegeben und viel mit mir darüber gesprochen.«
»Nun, so nimm sie,« sagte kopfschüttelnd der Forstmeister. Da zog Lili eine Brille aus der Tasche, setzte sie auf und fing an die Zeitung zu lesen. Die andern Kinder konnten das Lachen kaum unterdrücken, als sie Lili mit der Brille auf der Nase sahen, die ihrem lieblichen Gesichtchen ganz sonderbar stand.
»Brauchst du denn eine Brille?« fragte der Vater.
»Wenn ich abends lese, muß ich sie aufsetzen, mein Fräulein sagt, es schone die Augen.« »Darüber wollen wir doch auch noch den Arzt fragen,« meinte die Mutter.
Eine Weile ließ der Vater Lili lesen, dann aber sagte er: »Kommt, Kinder, wir wollen lieber zusammen singen.« Er setzte sich ans Klavier, die Kinder stellten sich um ihn herum und sangen mit ihren frischen Stimmen ein Lied, zu dem der Vater spielte. Lili sang nicht mit, sie stand allein am Fenster und horchte. Als das Lied aus war, trat Ida dicht zu Lili heran und da bemerkte sie Tränen in Lilis Augen. »Bist du denn traurig?« fragte Ida. »Nein, nicht traurig, aber ich habe noch nie so etwas gehört; o bitte, singt noch mehr!«
Es wurden nun noch einige Lieder gesungen, und Lili hörte mit Entzücken zu.
»Singst du denn nicht auch,« fragte der Vater. »Nein, ich darf nicht; mein Fräulein sagt, es sei nicht gesund, ehe man ausgewachsen ist.«
»Dein Fräulein meint es gut mit dir; aber sie ist gar zu ängstlich. Singe du nur nach Herzenslust, der Doktor erlaubt es.«
»Für heute aber ist's genug,« mahnte die Mutter; »ihr Kinder müßt jetzt ins Bett, es ist neun Uhr.« »Ich gehe erst um zehn Uhr,« sagte Lili. »Aber hier geht man um neun Uhr, damit man morgens früh aufstehen kann,« sagte der Vater ganz bestimmt.
Da sagte Lili: »Gute Nacht« und ging mit Ida hinauf ins Schlafzimmer. Sie war noch ganz erfüllt von der Musik und sagte: »Ich freue mich jetzt schon auf morgen Abend, wenn ihr dann wieder singt, singe ich mit.«
Als Lili am nächsten Morgen erwachte, fand sie es sehr kalt im Zimmer und konnte sich nur schwer entschließen aufzustehen; aber sie wußte nun schon, daß es sein mußte. Als sie sich waschen wollte und ihren Schwamm eintauchte, zog sie die Hand schnell wieder zurück und rief: »Hu, wie ist das Wasser kalt!«
»Komm, ich hole dir warmes aus der Küche,« sagte Ida mitleidig und ging hinunter. Sie traf die Mutter in der Küche: »Ich will nur warmes Wasser holen für Lili,« sagte sie.
»Daraus wird nichts,« antwortete die Mutter und ging hinauf.
»Guten Morgen, Lili; hast du gut geschlafen?« fragte die Mutter. »Ja, viel besser als daheim.«
»Siehst du, das macht das kalte Schlafzimmer, und wenn du dich jetzt noch kalt wäschst, so wirst du dich nachher ganz frisch und wohl fühlen.« »Ich kann nicht, das Wasser ist zu kalt.«
»Aber der Arzt hat es verlangt und wenn wir nicht alles tun, was er sagt, so kommen auch die roten Backen nicht; und die willst du doch!?« »Freilich will ich sie,« sagte Lili und griff herzhaft nach dem Schwamm. Bald war es geschehen, und die Mutter rieb selbst noch die kleine Person, daß sie ganz trocken und warm wurde. Und so wurde es von nun alle Tage gehalten.
An diesem Vormittag, als die Großen in der Schule waren, sagte die Frau Forstmeister: »Komm, wir wollen miteinander gehen und dir eine Schürze kaufen.« »Aber es schneit ja,« sagte Lili.
»Das macht nichts, Kind,« sagte die Frau Forstmeister, und nun ging Lili hinaus, hüllte sich in ihren Mantel und in ihren Pelz, nahm den Schleier und kam so eingemummt herunter, wie wenn sie wieder auf die Reise ginge.
»Das wäre nicht nötig gewesen,« sagte die Frau Forstmeister, »der Kaufmann wohnt ganz nahe.«
Sie gingen nun miteinander, und unterwegs hatte Lili die größte Freude an den dicken Schneeflocken, die bald ihren Mantel bedeckten. Als der Kaufmann das kleine Fräulein sah, brachte er seine schönsten Stoffe herbei; aber die Frau Forstmeister sagte: »Nein, wir wollen eine ganz einfache Hausschürze, nicht wahr Lili?« »Ja bitte,« sagte Lili, »gerade so eine wie Ida hat.«
Nun wurde ein starker, blau und weiß gestreifter Stoff gewählt. Auf dem Heimweg sagte Lili: »Ich habe geglaubt, wir kaufen eine fertige Schürze.« »Das kann man auf dem Land nicht haben.« »Aber nicht wahr, wir schicken den Stoff gleich heute zur Schneiderin,« bat Lili. Die Frau Forstmeisterin lächelte. »Die Schneiderin wohnt im Forsthaus und sie macht dir sogleich deine Schürze.«
Lili wunderte sich. Als sie heim kamen, ging sie gleich in ihr Zimmer hinauf und legte ihre Kleider ab. Bis sie wieder herunter ins Wohnzimmer kam, stand die Frau Forstmeisterin schon am Tisch und schnitt mit einer großen Schere die Schürze zu.
»Machen Sie denn so etwas auch selbst?« fragte Lili ganz erstaunt. »Freilich, ich bin die Schneiderin und so eine Schürze ist gar kein Kunststück, sieh mir nur zu.« Das tat nun Lili mit großem Interesse. Später half Johanna der Mutter nähen, und so wurde die Schürze noch am selben Tag fertig. Als Lili sie zum erstenmal anzog, sagte sie zur Frau Forstmeister: »Nun will ich Ihnen aber gerade so viel helfen wie Ihre Mädchen.« »Das ist recht von dir,« sagte die Frau Forstmeister.
Nach dem Mittagessen sagte Karl zu den Geschwistern: »Kommt, wir gehen hinaus und machen wieder eine große Schneeballenschlacht!« Alle waren gleich bereit dazu, nur Lili sagte ängstlich: »Da kann ich nicht mit!« »Warum denn nicht?« fragte der kleine Otto und bemühte sich, sie mit hinaus zu ziehen. »Ich fürchte, nasse Füße zu bekommen.«
»Ach, das macht nichts,« riefen nun alle und wollten Lili überreden mit zu tun. Aber die Mutter sagte: »Laßt sie nur!« und Ida erklärte: »Dann bleibe ich auch bei Lili und wir sehen euch vom Fenster aus zu.« Die anderen gingen nun hinaus. Lili und Ida blieben am Fenster.
Es war eine wahre Lust zuzusehen, wie die Kinder sich nun in dem frisch gefallenen Schnee tummelten, wie sie sich duckten, um den Schneeballen auszuweichen, die hin und her flogen, und wie sie lachten, wenn ein weißer Fleck auf dem Rücken verriet, daß der Wurf getroffen hatte. Aber mitten unter die Fröhlichkeit hinein ertönte plötzlich ein Schmerzensschrei, und mit lautem Weinen rieb sich der kleine Otto sein Ohr, das von einem festen Schneeballen getroffen worden war, so daß es feuerrot aussah.
»O wie grausam!« rief Lili entrüstet, »wie kann man so grob nach dem Kleinen werfen!«
»Das hat Paul getan, ich habe es wohl gesehen,« sagte Ida, »dem muß ich's doch heimgeben.« Mit diesen Worten lief Ida in den Hof, hinter das Haus, machte eilig ein paar Schneeballen, brachte sie ins Zimmer und sagte: »Nun, paß auf, ob ich den Paul nicht treffe!« Sie machte das Fenster auf und warf, aber nicht weit genug, der Schneeballen fiel auf den Boden. »Laß mich sehen, ob ich ihn nicht treffe,« sagte nun Lili eifrig und schleuderte mit aller Kraft ihren Schneeballen. Er traf aber ebensowenig.
»Kinder, macht das Fenster zu!« rief nun die Mutter und Ida gehorchte. »Ich gehe doch schnell hinaus und werfe ein paar auf Paul,« sagte Ida. »Ich gehe mit,« rief Lili voll Eifer und dachte nicht mehr an die nassen Füße, die sie gefürchtet hatte. Als Johanna die beiden kommen sah, sagte sie leise zu den Brüdern: »Seht nur, Lili kommt doch; heute werfen wir sie noch nicht!«
»Wenigstens nicht an den Kopf,« meinte Karl. Kaum waren Lili und Ida draußen, als sie schon einige Schneeballen gemacht hatten und aus nächster Nähe so fest auf Paul warfen, daß er von beiden getroffen wurde. »So, das war für Otto,« sagte Ida und alle lachten. Auch Otto war nun getröstet, und bald war das Vergnügen wieder im besten Gang. Lilis Gesichtchen erglühte von ungewohnter Lust, und als nach einiger Zeit die Mutter rief: »Kinder, es ist Zeit in die Schule!« stimmte sie von Herzen mit ein in das allgemeine »O weh!« Als sie wieder im Zimmer waren, sagte Lili, indem sie sich die Hände rieb: »Die Schneeballen sind aber doch recht kalt!« »Mußt sie dir ein anderesmal im Ofen wärmen,« sagte Paul spöttisch.
Da lachten alle, und Lili nahm sich vor, so etwas künftig nimmer zu sagen. Von da an wurden täglich Schneeballenschlachten aufgeführt, bis der letzte Schnee schmolz.
Lili hatte an diesem Tag wieder fast nichts zu Mittag gegessen, nun kam ihr ein ganz ungewohntes Gefühl: die frische Luft und die lebhafte Bewegung hatten ihr Hunger gemacht! Leise sagte sie zu Ida: »Ida, mich hungert so sehr!« »So?« rief Ida ganz überrascht, »komm doch zur Mutter und laß dir etwas geben.« Sie zog Lili mit sich fort zur Mutter und sagte: »Mutter, die Lili hat Hunger.«
»Das glaube ich gerne, Kind, du hast ja zu Mittag so wenig gegessen, komm nur mit mir in die Küche.«
Dort führte die Mutter sie an den Brotkasten und sagte: »Sieh, in diesem Kasten liegt immer der Brotlaib, so oft du Hunger hast, kannst du dir davon herunterschneiden, so viel du willst; und hier steht die Milchkanne, aus der schenkst du dir ein, so oft du Lust hast, ohne zu fragen.«
»Ich danke,« sagte Lili ganz vergnügt, ließ sich's schmecken wie schon lange nimmer, und von diesem Tage an suchte sie so manchesmal den Brotkasten und die Milchkanne auf.
An diesem Abend schrieb der Forstmeister noch eine Karte an den Doktor, auf der nichts stand als: »Sie macht Schneeballen und hat Hunger!« Worauf vom Doktor ebenfalls eine Karte kam mit den Worten: »Dann ist's gewonnen!«
Auch Lili schrieb in den nächsten Tagen einen Brief nach Hause, erkundigte sich, wie es dem Vater und dem Fräulein gehe und bat, ihr bald ihre Bücher und Spielsachen nachzuschicken. Von sich selbst erzählte sie wenig, denn sie dachte: »Mein Fräulein kann sich doch nicht vorstellen, wie hier alles so ganz anders ist.« Bald kam auch eine freundliche Antwort, der Vater schrieb, das Fräulein werde ihr bald einen ganzen Koffer voll Sachen schicken. Er fragte auch, ob Lili schon dicke, rote Backen habe?
Lili sah in den Spiegel und sagte zu Ida: »Sie sind noch nicht dick und rot, aber eigentlich ist es mir recht, denn ich möchte nicht so schnell wieder nach Hause!«
»So gefällt es dir also bei uns?« fragte Ida.
»Freilich, es ist ja so lustig bei euch und bei mir daheim so still. Ich habe keine Schwester und keine Freundin in der Stadt, und hier habe ich dich!« »Könnten wir nur immer beisammen bleiben!« seufzte Ida.
Eines Tages sagte Lili: »Ich möchte zu gerne einmal sehen, wie es in eurer Schule aussieht!« »So komm doch mit mir,« sagte Ida eifrig, »nicht wahr, Mutter, Lili darf wohl einmal mitgehen?«
»Ja,« antwortete die Mutter, »richte du heute Morgen einen Gruß von mir an deinen Lehrer aus und ich lasse fragen, ob unser kleiner Gast heute Nachmittag mit dir in die Schule kommen dürfe?«
Lili wartete an diesem Mittag begierig auf Idas Rückkehr, sie ging ihr sogar ein Stück weit allein entgegen und fragte sie: »Hat es der Lehrer erlaubt?« »Ja freilich, du sollst kommen, so oft du willst.«
Am Nachmittag machte sich also Lili mit Ida auf den Schulweg. Sie trafen mit vielen Schulkindern zusammen, die Lili neugierig anstaunten, und als sie in das Schulzimmer traten, wurde es Lili ganz schwindelig vor all den Blicken, die auf sie gerichtet waren. Ida half ihr den Mantel ausziehen und wollte Lili gleich neben sich an ihren Platz führen. Aber Lili flüsterte ihr zu: »Ich muß doch wohl dem Lehrer guten Tag sagen,« und obwohl Ida das nicht für nötig gehalten hätte, ging sie doch mit Lili zu dem Lehrer, der am Katheder stand. Lili machte eine kleine Verbeugung und sagte: »Weil Sie es erlaubt haben, bin ich so frei und komme.«
Der Lehrer war in seiner Dorfschule an solche Höflichkeit nicht gewöhnt. Er nickte und sagte: »Ida, führe sie in deine Bank.« Es war heiß in der Schulstube, und da der Unterricht noch nicht begonnen hatte, machten die vielen Kinder einen solchen Lärm, daß es Lili angst und bang wurde. Auf einmal klopfte der Lehrer mit seinem Stecken so fest auf den Pult, daß Lili ganz zusammenfuhr. Im Zimmer wurde es jetzt ganz stille und der Unterricht begann. Die Kinder mußten die Sprüche hersagen, die sie aufbekommen hatten. Gleich die erste Schülerin, die aufgerufen wurde, konnte ihren Spruch nicht recht, und als nun die Zweite, die an die Reihe kam, ihre Sache noch schlechter machte, wurde der Lehrer zornig und ging mit erhobenem Stecken und drohenden Worten auf das Mädchen zu, das gerade vor Lili saß. Ganz außer sich vor Furcht und Grauen fuhr Lili von ihrem Platz auf und mit dem Ruf: »Er schlägt sie, er schlägt sie!« verließ sie ihre Bank und stürzte zur Türe hinaus. Der Lehrer ließ seinen Stecken sinken. So lange er Schullehrer war, war ihm so etwas noch nicht vorgekommen.
Ida wäre gerne der Freundin nachgeeilt, aber sie traute sich nicht. Da fiel ihr ein, daß Lili ihren Mantel in der Schule gelassen hatte, sie stand auf und fragte: »Herr Lehrer, darf ich der Lili ihren Mantel bringen?« »Ja, lauf ihr nach und gib ihr ihre Kleider, aber bringe mir das Kind nie mehr in die Schule, solche Damen passen nicht hierher!« Schnell nahm Ida Lilis Kleider und ging hinaus. Sie fand Lili nicht mehr auf dem Vorplatz, auch auf der Treppe nicht. Als sie aber zum Schulhaus hinaus wollte, streckte Lili ihr Köpfchen hinter der Türe hervor und rief ängstlich; »Ida, bist du's? O, wie gut, daß du kommst, ich habe mich nicht ohne Mantel auf die Straße getraut. Was hat der Lehrer gesagt? Hat er das Mädchen geschlagen?« »Nein, er hat es ganz vergessen über deinem Fortgehen!«
»O, was ist das für ein schrecklicher Mann!«
»Er ist nicht so arg als du meinst.«
Lili hatte nun ihren Mantel angezogen. »Findest du den Heimweg?« fragte Ida. »Ich finde ihn wohl, aber noch nie bin ich allein so weit gegangen.« »Soll ich dich begleiten?« fragte Ida.
»Hat es der Lehrer erlaubt?«
»Nein, er hat bloß gesagt, ich soll dir den Mantel bringen.«
»Nein, nein, dann darfst du nicht mit mir gehen, der schlimme Mann könnte dir etwas tun, geh schnell hinauf!« sagte Lili und verließ das Schulhaus. Mit klopfendem Herzen kam sie im Forsthaus an, Vater und Mutter saßen eben am Kaffee. »Schon wieder da?« fragten beide verwundert. Lili erzählte ihr Erlebnis, und als sie aus dem Zimmer gegangen war, sagte die Mutter: »Ich habe mir wohl gedacht, daß sie nicht in diese Schule paßt. Was machen wir nur, sie kann doch nicht ganz ohne Unterricht bleiben, sie würde ja alles vergessen, was sie gelernt hat.«
»Wie wäre es, wenn wir deine Schwester bitten würden, für den Sommer zu uns zu kommen?« fragte der Vater.
»Ja, das wäre freilich herrlich, wenn meine Schwester Helene käme,« antwortete die Mutter.
»Sie könnte Lili unterrichten und sich überhaupt des Kindes annehmen, wenn ich keine Zeit habe. Wir wollen doch gleich bei ihr anfragen, ob sie kommen kann.« Noch am selben Tage wurde ein Brief abgeschickt, und als die Mutter den Kindern erzählte, sie habe Tante Helene gebeten, zu kommen, freuten sich alle, und begierig wurde nun jeden Tag der Postwagen erwartet, der die Antwort von der Tante und der auch Lilis ersehnten Koffer bringen sollte. Der Koffer kam denn auch bald.
Der Mittagstisch war gerade abgedeckt worden, die Kinder tummelten sich im Hof und Garten, Lili mitten unter ihnen, als Karl rief: »Ich sehe eine Kutsche kommen!« und bald fügte Johanna hinzu, »und ich sehe einen schönen, großen Koffer darauf!«
»Der Koffer kommt, der Koffer kommt!« jubelten nun alle wie aus einem Munde, und sie sprangen dem Wagen entgegen, der eben vor dem Forsthaus anfuhr. Alle Blicke waren auf den Koffer gerichtet, da ließ sich plötzlich Lilis Stimme hören: »Mein Fräulein kommt!« und wirklich sah das Gesicht eines alten Fräuleins aus dem Wagen heraus.
»Das Fräulein kommt, das Fräulein kommt!« ging es nun von Mund zu Munde, aber nicht in lautem Jubel, wie bei dem Koffer, sondern mit ängstlicher Scheu.
Sogar die Mutter geriet einen Augenblick aus der Fassung, als Johanna zu ihr ins Zimmer stürzte und rief: »Lilis Fräulein kommt!«
Doch faßte sie sich schnell, rief Johanna im Vorbeigehen zu: »Wasche du die Kleinen!« und eilte hinaus an den Wagen. Lili allein empfand nichts von dem allgemeinen Schrecken. Ihr Gesichtchen strahlte von fröhlicher Erregung, als sie die wohlbekannte Gestalt ihres Fräuleins wieder sah und sie rief ihr zu: »Liebes Fräulein, wie gütig, daß Sie kommen!« Aber das Fräulein kam nur mit Mühe und Not aus dem Wagen heraus. Der Forstmeister, der nun auch herbeigekommen war, und seine Frau, mußten sie stützen und ins Haus führen.
»Entschuldigen Sie nur,« sagte das Fräulein, »meine Füße sind steif geworden von der langen Fahrt, der Wagen stößt furchtbar und die Straße war so schlecht.« Seufzend und stöhnend gelangte das Fräulein ins Zimmer, ihr folgte Lili mit Ida und den zwei großen Brüdern.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie so überfalle,« sagte das Fräulein. »Aber ich habe keine ruhige Stunde mehr gehabt, seitdem mir das Kind so plötzlich genommen wurde, das Kind, das ich seit neun Jahren keinen Tag von mir gelassen habe!«
»Ich begreife Ihre Sorge,« sagte der Forstmeister. »Sie sind herzlich willkommen bei uns. Wie Sie sehen, ist Lili frischer und wohler als bei ihrer Ankunft.« Das Fräulein betrachtete Lili genau und sagte: »Ich kann es nicht leugnen, daß ihr ganzes Aussehen sich gebessert hat. Aber Lili, mein Kind, halte dich gerade.« Lili streckte sich und die anderen bemerkten jetzt erst, wie das Fräulein sich trotz ihres Alters und ihrer Schwäche musterhaft gerade hielt.
»Sind das Ihre Kinder?« fragte jetzt das Fräulein, indem sie auf Karl und Paul zeigte, die sich etwas in der Ferne hielten und hinter denen sich Ida halb verbarg. »Ja, das sind drei von unsern Kindern,« sagte die Frau Forstmeister, »kommt her, ihr Buben.« Karl und Paul kamen näher und das Fräulein sprach ein paar Worte mit ihnen; so bald es aber anging, machten sich die beiden aus dem Zimmer und die Mutter hatte nichts dagegen, denn es war ihr vorgekommen, als ob das Fräulein immer ihre Blicke auf Karls verflickte Jacke und auf Pauls beschmutzte Stiefel gerichtet hätte und als ob sie mit Mühe die Worte unterdrückte: »Das ist nicht sein!«
Nun holte Lili Ida herbei und sagte: »Sehen Sie Fräulein, das ist Ida, meine liebe, gute Freundin.«
Das Fräulein nahm ihre Brille aus der Tasche, setzte sie auf und sah Ida so prüfend an, daß diese über und über errötete. Da lächelte der Forstmeister und sagte: »Ja, sehen Sie ihr nur bis ins Herz hinein, aufs Herz kommt's ja doch vor allem an!«
»Gewiß, gewiß. Sie haben recht, Herr Forstmeister; aber Lili, mein Kind, halte dich gerade, die rechte Schulter nicht so hoch!«
In diesem Augenblick ging die Türe auf und Johanna erschien mit den Kleinen. Sie hatte Emma und Otto in aller Eile gewaschen und gekämmt und ihnen sogar die Sonntagskleidchen angezogen. Sie selbst hatte sich eine frische weiße Schürze umgebunden, und als sie nun so zur Türe hereinkam, die beiden sauberen, rotbackigen Kinder zum Fräulein hinführend, da war es deutlich zu sehen, daß sogar das Fräulein nichts auszusetzen hatte.
»Das ist unsere älteste Tochter Johanna mit den zwei Kleinsten,« sagte die Mutter. »Wie hübsch, wie allerliebst,« sagte das Fräulein, »und welch vorzügliche Haltung! Lili, mein Kind, nimm dir ein Beispiel an Fräulein Johanna.«
Johanna war sehr stolz über dies Lob und so lange das Fräulein da war, hielt sie sich steif wie ein Stecken.
Während nun die Mutter dem Fräulein Kaffee vorsetzte, gingen die kleinen Kinder ins Nebenzimmer und spielten. Otto erwischte unglücklicherweise gerade seine Trommel und schlug so herzhaft darauf, daß das Fräulein sich entsetzt beide Ohren zuhielt. Aber Lili sprang sogleich von ihrem Stuhl auf, ging ins Nebenzimmer und bat Otto freundlich, so lange das Fräulein hier sei, nur ruhige Spiele zu spielen. Otto versprach es und langte nach seinem Bausteinkasten.
»Ach, die großen Steine machen auch Lärm, wenn sie umfallen,« sagte Lili. »Was ist denn ruhig?« fragte der Kleine. »Bei dir ist nichts ruhig,« sagte Emma, »komm nur, wir gehen miteinander hinauf in die Bodenkammer und spielen Verstecken.« »Ja, das ist lieb von euch,« sagte Lili, die sehr besorgt für ihr Fräulein war, »ich will euch aber gewiß etwas schönes schenken, wenn ich meinen Koffer auspacke.«
Die Kleinen gingen vergnügt miteinander hinaus, und Lili eilte wieder auf ihren vorigen Platz zurück neben ihr Fräulein.
»Lili, mein Kind, nicht so rasch, es ist nicht fein, sich so schnell zu bewegen,«, mahnte das Fräulein. Lili mußte nun genau erzählen, wie sie von morgens bis abends ihre Tage zubringe, und es war wohl zu bemerken, daß dem Fräulein manches ganz wunderlich vorkam, aber sie war zu höflich, um dies auszusprechen. »Wollen Sie nicht auch mein Zimmer ansehen,« fragte Lili, »es hat eine so schöne Aussicht auf den Wald.« Aber das Fräulein schüttelte den Kopf. »Lili, mein Kind, ich möchte wohl gerne, aber ich kann heute keine Treppe mehr steigen, ich bin sehr angegriffen, auch wird bald mein Wagen wieder vorfahren.«
»Was sagen Sie, Fräulein,« riefen beide Eltern erstaunt, »Sie denken doch nicht daran, heute schon wieder heim zu fahren? Sie übernachten natürlich bei uns.«
»Übernachten? Nein, wie können Sie denken, daß ich Ihnen solche Mühe machen würde, ohne mich nur vorher anzusagen!« »O bitte, bleiben Sie doch bis morgen,« sagte Lili, aber das Fräulein unterbrach sie: »Lili, mein Kind, keinen Widerspruch, ich muß fort!«
Niemand traute sich nun, dem Fräulein weiter zuzureden, aber Lili winkte Johanna und Ida, ging mit ihnen hinaus und sagte: »Ich möchte so gerne, daß mein Fräulein euch singen hört, ehe sie geht; ich weiß gewiß, es würde sie freuen.«
»Nun, dann will ich die Brüder holen,« sagte Johanna, »und du, Ida, suche die Kleinen.« »Die sind in der Bodenkammer,« sagte Lili. Bald war der ganze Sängerchor im Nebenzimmer versammelt, wo das Klavier stand. Karl und Paul wollten aber nicht. »Unser Gesang ist nicht fein genug für dein Fräulein,« sagten sie zu Lili. »Wir wollen hören, was der Vater meint,« entschied Johanna, ging zum Vater und bat ihn heraus zu kommen. Der Vater war mit Lilis Vorschlag einverstanden, machte gleich das Klavier auf und sagte: »Wir fangen gleich an und überraschen das Fräulein.« Karl und Paul widersprachen nicht mehr und alle Kinder stellten sich um den Vater herum. Lili schlug das Notenheft auf und sagte: »Bitte, dieses Lied.« Lili machte die Türe zum Fräulein auf und nun ertönte der Gesang, und überrascht lauschte das Fräulein dem unvermuteten Klang der lieblichen Kinderstimmen:
Es ist bestimmt in Gottes Rat,
Daß man vom Liebsten was man hat
Muß scheiden.
Wiewohl doch nichts im Lauf der Welt
Dem Herzen, ach, so sauer fällt
Als Scheiden, ja Scheiden!
Leise kam das Fräulein ins Zimmer und horchte in sichtlicher Bewegung auf das schöne Lied, bis die letzten Worte: »Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn« verklungen waren. Dann sprach sie voll Wehmut zu den Eltern: »Ich danke Ihnen und Ihren lieben Kindern für diesen schönen Abschiedsgruß. Ich weiß nicht, ob ich Sie und ob ich mein liebes Kind je wieder sehen werde, denn ich bin alt und fühle mich sehr schwach. Aber ich gehe ganz getrost von Ihnen, denn ich habe gesehen, daß mein Kind gut aufgehoben ist bei Ihnen, ja besser als bei mir. Es war vielleicht manches nicht richtig, wie ich es gemacht habe, ich habe viel darüber nachgedacht, seit Lili fort ist. Nun, wie Gott will!«
Bei diesen Abschiedsworten kamen Lili die Tränen in die Augen, aber das Fräulein wehrte ihr: »Lili, mein Kind, nicht weinen, es schadet den Augen!« Da unterdrückte Lili ihre Tränen.
Der Wagen war vorgefahren, das Fräulein ließ sich nimmer halten. Unter tausend Entschuldigungen über die Störung, die sie gemacht habe, stieg sie ein. Alle standen um den Wagen herum und sagten ihr noch Lebewohl, und als der Wagen schon in Bewegung war, winkte das Fräulein noch Lili zu und reckte sich, wie wenn sie sagen wollte: »Lili, mein Kind, halte dich gerade!«
Die Kinder alle bemühten sich, an diesem Abend besonders freundlich gegen Lili zu sein, denn sie merkten, daß ihr der Abschied recht nahe gegangen war. Der kleine Otto sogar wollte sie trösten und sagte zu ihr: »Sei doch lustig, du hast ja einen großen Koffer voll schöner Sachen!« »Ja so, mein Koffer,« rief nun Lili und die Mutter sagte: »Das ist nun gerade für den heutigen Abend ein passendes Geschäft, geh du in dein Zimmer und packe deine Schätze aus!« »Dürfen wir mit?« fragten die Kinder. »Ihr müßt alle dabei sein,« erklärte Lili und nun polterte die ganze Gesellschaft die Treppe hinauf.
Das war nun ein Fest! Noch nie hatten die Forstmeisterskinder so feine Spiele und Bücher, so hübsche Putz- und Schmucksachen, so verlockende Bonbons gesehen, wie Lili sie besaß, und sie staunten über all die Herrlichkeiten, die aus dem Koffer herauskamen. Fast noch mehr aber bewunderten sie Lilis Freigebigkeit. Mit vollen Händen teilte diese aus, und hätte nicht die Mutter Einhalt getan, so hätte sie wohl alles weggegeben. Zum erstenmal in ihrem Leben durfte Lili empfinden, welche Wonne es ist, andere zu beschenken, und ihr liebliches Gesichtchen strahlte von reinster Freude.
Im untersten Grunde ihres Koffers fand Lili ihre Bücher und Hefte, und als am nächsten Tage die größeren Kinder alle in ihre Schule gegangen waren, nahm Lili einige Bücher mit herunter in das Wohnzimmer und sagte zu der Frau Forstmeister: »Mein Fräulein hat mich ermahnt, nicht alles zu vergessen, was sie mich gelehrt hat, ich möchte auch selbst gerne weiter lernen, aber wie soll ich das nun machen?«
»Ja, liebes Kind,« sagte die Frau Forstmeister, »ich habe eben gar keine Zeit, mich damit abzugeben! Du mußt sehen, was du allein zustande bringst, und vielleicht kommt ja meine Schwester, dann wärest du gut versorgt. Sie gibt immer Unterricht, ist auch sehr musikalisch, kurz, bei ihr könntest du lernen, was du nur wolltest.«.
Lili machte sich nun allein an die Arbeit, aber das ging nicht gut. Sie saß noch an ihren Büchern, als der Briefträger einen Brief an die Frau Forstmeister brachte. »Der ist von meiner Schwester,« sagte die Frau Forstmeister und las ihn sogleich, während Lili sie gespannt ansah. »Sie kommt, und zwar noch diese Woche, und bis zum Herbst kann sie bei uns bleiben,« verkündigte nun die Frau Forstmeister.
Lili freute sich und wartete ungeduldig, bis die anderen Kinder von der Schule heimkamen, um ihnen auch die frohe Botschaft mitzuteilen, die von allen mit Jubel aufgenommen wurde. Als Lili und Ida an diesem Abend im Bett lagen, erzählte Ida noch viel von Tante Helene, so daß Lili ganz begierig wurde, sie kennen zu lernen.
Und die Tante kam und mit ihrem Kommen begann eine glückliche Zeit für Lili. Nur ein einziges Mal hatte sie »Fräulein Helene« zur Tante gesagt, dann aber hatte diese ihr erklärt, sie müsse auch »Tante« zu ihr sagen und bald war es Lili, als stünde sie ihr gerade so nahe wie die anderen Kinder. Die Tante war noch jung und frisch und konnte nun ihre ganze Zeit Lili widmen. Wenn die anderen Kinder in die Schule gingen, so holte auch Lili ihre Bücher und Hefte herbei und lernte bei der Tante. Aber wenn sie im besten Eifer war, schlug die Tante die Bücher zu und sagte: »So, jetzt ist's genug, jetzt wollen wir uns auch Bewegung machen!« Dann wurden Emma und Otto herbeigeholt und mit diesen wurde geturnt und gesprungen, geballt und gespielt, daß es eine Lust war. Niemand kam dann mit besserem Appetit zum Essen als Lili, und mit großer Freude bemerkte die Tante, die ihren Pflegling innig lieb gewonnen hatte, wie Lili zunahm an Kraft und Frische. Die schönsten Stunden waren aber für Lili die, wenn die Tante ihr ein Lied vorsang und sie selbst singen lehrte, so daß sie nun auch mittun konnte, wenn sich abends der kleine Sängerchor um den Vater versammelte.
Der Schnee war längst geschmolzen, das Frühjahr hatte sich eingestellt, die Kinder hatten Schulvakanz. Da fuhr eines Morgens ein großer Wagen Holz vor das Forsthaus, mehrere Holzhacker kamen und spalteten es und die Frau Forstmeister sagte: »Kinder, helft alle zusammen, daß wir bei dem guten Wetter das Holz noch hinüber bringen in den großen Holzstall!« Nun wurde eine ganze Anzahl Körbe herbeigeschafft, die Kinder zogen ihre groben Schürzen an und machten sich alle über den großen Holzhaufen her, füllten ihre Körbe und leerten das Holz in den Holzstall. Lili hatte längst gelernt mit anzupacken, wenn die anderen fleißig waren, und diesmal, wo es so lustig wie in einem Ameisenhaufen durcheinander wimmelte, wollte sie auch nicht zurückbleiben. Die Tante, die die Arbeit beaufsichtigte, nickte ihr freundlich zu, als sie eben wieder mit einem vollen Korb an ihr vorbeikam, und fragte: »Der wievielte Korb ist's?« »Schon der sechste,« antwortete Lili stolz. »So ist's recht, da wird heute das Essen schmecken, ich will nur in die Küche gehen und sorgen, daß auch gehörige Portionen gekocht werden.« Mit diesen Worten wandte sich die Tante, um ins Haus zu gehen, und sah, daß ein fremder Herr auf sie zukam. »Es kommt Besuch,« sagte die Tante. Lili sah sich um, bemerkte den Herrn und im Nu hatte sie ihren Holzkorb auf den Boden gestellt, sprang mit lautem Jubel auf den Fremden zu, fiel ihm um den Hals und rief: »Papa, lieber Papa!« Es war Herr Palmer, der zum erstenmal sein Töchterchen besuchte und sie nun voll Zärtlichkeit ans Herz drückte. »Lili, ich kenne dich ja gar nicht mehr, bist du es denn wirklich, mein Liebling?« rief er und sah sie erstaunt an. Dann ging er auf die Tante zu, indem er zu Lili sagte: »Ist das die Frau Forstmeister?« »Nein, das ist ja meine liebe, gute Tante Helene,« rief Lili und umarmte in ihrer Herzensfreude die Tante ebenso innig wie vorher den Vater. Die anderen Kinder waren nun auch herbeigekommen, die Tante führte Herrn Palmer ins Zimmer, die Kinder riefen die Eltern herbei, und bald war die ganze Familie bekannt gemacht mit Lilis Vater.
»Ich habe wirklich Mühe gehabt, meine Kleine wieder zu erkennen,« sagte Herr Palmer. »Sie sieht ja ganz verändert aus; als sie von mir Abschied nahm, hatte sie kaum die Kraft, bis an den Wagen zu gehen, in dem sie fortfahren sollte, und jetzt springt sie mir entgegen wie ein junges Reh!« »Aber so rotbackig ist sie doch noch nicht, daß sie schon wieder in die Stadt zurück könnte,« sagte Ida, der schon angst wurde, der Vater möchte ihr die Freundin gleich heute wegnehmen. »Nein, nein,« sagte der Vater freundlich, »mit euren schönen, roten Backen kann sie es noch immer nicht aufnehmen; ich bin ohnedies recht dankbar, wenn sie den Sommer noch hier bleiben darf, denn bei uns steht es recht traurig. Das Fräulein wird alle Tage schwächer. Die anstrengende Reise hieher hat ihr geschadet, sie ist seitdem ernstlich leidend. Dennoch sagt sie immer: »Es ist gut, daß ich dort war, ich bin nun beruhigt über Lili.« Mit besonderer Rührung spricht sie oft von dem schönen Lied, das ihr zum Abschied hier gesungen worden ist.« Mit großer Teilnahme hörte Lili diese Nachrichten von ihrem Fräulein und trug dem Vater viele Grüße an sie auf.
Nach dem Mittagessen gingen die Kinder wieder an das Holzgeschäft und auch Lili wollte sich wieder die Hausschürze umbinden. Aber die Frau Forstmeister sagte: »Du bist heute frei, Lili, und sollst nicht Holz tragen, wenn dein Vater hier ist.« »Aber ich möchte dem Vater zeigen, daß ich auch etwas leisten kann,« sagte Lili. »Das habe ich schon gesehen, liebes Kind,« antwortete der Vater, »ich habe euch eine gute Weile beobachtet, ehe ihr mich bemerkt habt. Nicht wahr, sechs Körbe voll hast du getragen, ich habe wohl gehört, wie dich die Tante darum gelobt hat.« Lili lachte vergnügt. »Und nicht viel weniger hast du heute beim Mittagessen geleistet, es sollte mich wundern, wenn es nicht auch sechs Teller voll waren!« Unter solchen heiteren Reden begleitete der Vater Lili hinauf in ihr Zimmer, wo sie lange allein mit ihm blieb und ihm alles erzählte, was sie im Forsthaus erlebt hatte, vor allem aber ihm immer wiederholte, wie glücklich sie mit der guten Ida und mit ihrer lieben Tante Helene sei. Der Vater hörte ihr mit Vergnügen zu und freute sich immer aufs neue wieder an dem frischen Wesen seines Töchterchens. Endlich kam der kleine Otto als Bote herauf, der Vater schlage vor, einen kleinen Waldspaziergang zu machen. Es war ein schöner Frühlingstag, und Herr Palmer war gleich bereit dazu. Die Kinder durften alle mit und bald machte sich die ganze fröhliche Gesellschaft auf den Weg. Die Kinder sprangen, lachten und spielten, und Herr Palmer dachte: »Das ist freilich für meine Lili ein anderes Leben als in meinem stillen Haus daheim!« Auf dem Rückwege stimmten die Tante und Lili ein zweistimmiges Lied an, das sie miteinander eingeübt hatten; Herr Palmer, der sein Kind zum erstenmal singen hörte, freute sich sehr über ihre liebliche Stimme. Es war deutlich zu merken, wie schwer er sich am Abend von der fröhlichen Gesellschaft trennte, um wieder in die Stadt zurückzukehren, und er versprach, recht bald wieder zu kommen.
Nicht lange nach diesem Besuch, als Lili eben der Tante im Garten half, Blumen zu setzen, rief die Frau Forstmeister Lili zu sich ins Zimmer und sagte zu ihr: »Kind, ich habe eine traurige Nachricht bekommen, die ich dir mitteilen muß.«
»Was ist es?« fragte Lili besorgt. »Du weißt, dein Fräulein war in der letzten Zeit immer leidend und nun schreibt mir dein Vater, daß sie gestern sanft gestorben sei.« Lili brach in Tränen aus. Die Frau Forstmeister tröstete sie und sagte: »Deinem armen Fräulein war es zu gönnen, daß sie nicht länger leiden mußte!« Aber Lili konnte sich gar nicht fassen und ging hinaus in den Garten, um die Tante aufzusuchen, der sie die traurige Nachricht mitteilte. »Du armes, armes Kind!« sagte die Tante und es kamen ihr selbst Tränen in die Augen. Sie zog Lili an sich, und an ihrem Herzen konnte sich das arme Kind ausweinen. »Wie wird es so einsam sein, wenn ich wieder heimkomme,« klagte Lili der Tante. »Ich mag gar nicht daran denken und doch muß ich im Herbst heim, denn sonst ist mein Papa gar zu verlassen.« »Gewiß kommt dein Papa bald zu uns, dann kannst du alles mit ihm besprechen, liebes Kind,« tröstete die Tante.
Als die andern Kinder die Nachricht erfuhren und sahen, wie traurig Lili war, sagte Karl zur Tante, die gerade allein war: »Ich kann nicht begreifen, wie Lili so betrübt sein kann. Das Fräulein war doch so streng gegen sie, und wie langweilig hat es Lili bei ihr gehabt.« »Allerdings,« sagte die Tante, »aber das Fräulein hatte sie doch lieb und war immer besorgt für sie. Nun aber hat sie gar niemand mehr außer ihrem Vater, der so wenig zu Hause ist. Mir tut das Herz weh, wenn ich daran denke, wie vereinsamt sich das Kind fühlen muß.« Die Kinder begriffen nun Lilis Trauer und waren voll Liebe und Teilnahme gegen sie.
Am nächsten Sonntag kam schon früh am Morgen Lilis Vater. Er erzählte noch viel von dem Fräulein und daß ihre letzten Worte gewesen seien: »Grüßen Sie Lili, mein Kind. Sie ist gut geborgen, ich kann getrost abscheiden.« Es war eine wehmütige Stimmung an diesem Sonntag, aber doch war es Herrn Palmer im Forsthaus wohler als in seiner verödeten Wohnung, und es wurde an diesem Abend verabredet, daß Lilis Vater von nun an jeden Sonntag kommen sollte. Er wurde bald ganz heimisch in dem einfachen Forsthause, und die köstlichen Waldspaziergänge an den Sonntagen taten ihm selbst fast so wohl als seinem Kind, das täglich frischer und kräftiger wurde und den herrlichen Sommer auf dem Lande mit Wonne genoß. Aber der Sommer verging und mit Bangen sahen alle dem Herbst entgegen. Im September schon sollte die Tante wieder zurück in ihre vorige Stelle und dann sollte auch Lili nicht länger bleiben, sondern in die Stadt zurückkehren und dort eine Schule besuchen. »Eine Schule, in der keine Schläge ausgeteilt werden,« sagte die Frau Forstmeister beruhigend, als sie Lilis Schrecken bei dem Wort »Schule« bemerkte. Lili wich der Tante gar nimmer von der Seite, und als die Zeit des Abschieds heranrückte, sah man sie oft in Tränen.
Endlich kam der letzte Sonntag, den die Tante im Forsthaus zubringen sollte. Ihr Koffer war schon gepackt und alles zur Abreise für den nächsten Tag gerüstet. Lilis Vater war auch zum letztenmal gekommen. »Wir wollen zum Abschied noch einmal einen Waldspaziergang machen,« schlug die Tante vor und alle waren damit einverstanden. »Aber wo steckt denn Lili?« hieß es nun, man rief im ganzen Haus, sie war aber nirgends zu sehen. »Ich kann mir schon denken, wo sie ist,« sagte Ida und ging hinaus in den Garten bis zu dem hintersten Eckchen, in dem eine kleine Bank stand, ein Lieblingsplätzchen von Lili und Ida. Richtig, da saß Lili ganz allein. »Lili, komm doch,« rief Ida, »wir machen noch einen lustigen Waldspaziergang.« »Einen lustigen?« fragte Lili, »wer kann heute lustig sein, wenn morgen die Tante geht?« Ida sah mitleidig in Lilis trauriges Gesichtchen. »Ich glaube, du hast unsere Tante noch lieber als wir sie haben,« sagte sie. »Ihr habt eben eine Mutter, und ich habe keine!« antwortete Lili.
»Ida, Lili, wo bleibt ihr denn?« riefen nun mehrere Stimmen, und die beiden Mädchen eilten ins Haus zurück, wo alle schon zum Spaziergang gerichtet waren. Lili suchte gleich die Hand der Tante und ließ sie nimmer los, bis sich alle im Wald am Saume einer großen Waldwiese gelagert hatten. »Die Tante und Lili sollen uns noch einmal ihr Lied zusammen singen,« schlug der Forstmeister vor. Sie waren gerne bereit dazu, aber als sie mitten darin waren, versagte Lili die Stimme und es kamen Tränen. »Ihr ist heute zu traurig zu Mute,« sagte Lilis Vater. »Armer Tropf,« sagte mitleidig der Forstmeister. »Pflückt ihr lieber der Tante zum Abschied noch einen recht schönen Waldstrauß,« schlug die Frau Forstmeister vor. Dazu war auch Lili gerne bereit und nun zerstreuten sich alle im Wald herum, bis die Mutter zum Aufbruch mahnte.
»Wo ist der Vater?« fragte Lili. »Er will der Tante noch danken für alles, was sie dir Gutes erwiesen hat, er ist schon vorausgegangen mit der Tante.« Die anderen folgten nun nach. Als sie daheim angekommen waren, ging die Tante Lili entgegen und sagte: »Lili, komm mit mir ins Gartenhäuschen, dein Vater ist dort und will dir etwas sagen.« Lili folgte der Tante zum Vater. Der Vater zog sein Kind an sich. »Lili, ich habe dir ein großes Glück zu verkündigen!«
»O Vater, sage, was meinst du?« »Wenn du heim kommst zu mir, sollst du nicht allein mit mir sein!« »Bekomme ich ein Fräulein?« »Etwas Besseres!« Lili sah fragend in das glückliche Gesicht der Tante. »Eine Tante?« fragte sie. »Noch etwas Besseres,« sagte der Vater; aber Lili schüttelte den Kopf. »Etwas Besseres gibt es nicht!« »Eine Mutter, eine Mutter sollst du bekommen; die Tante hat mir versprochen, deine Mutter zu werden!« Und nun zog die Tante Lili an ihr Herz und sagte: »Ja, deine Mutter will ich werden, ich habe dich ja längst schon so lieb wie ein Kind!« »Mutter, meine liebe, gute Mutter,« rief Lili und Glückseligkeit strahlte aus ihren Augen. Plötzlich aber machte sie sich los aus den Armen ihrer neuen Mutter, sprang durch den Garten und rief: »Ida, Ida, wo bist du?« Bald hatte sie die treue Freundin gefunden, der sie nun vor allen andern ihr Glück mitteilte, dann aber kam auch die übrige Familie herbei und alle freuten sich mit Lili, die so lange Jahre die Mutterliebe hatte entbehren müssen. So schloß denn dieser wehmütige Tag mit einem fröhlichen Abend, und als Lili, ganz gegen die sonstige Ordnung, erst um zehn Uhr ins Bett kam, konnte sie vor lauter Glück und Wonne noch lange nicht einschlafen.
Das war nun am nächsten Tag ein fröhliches Erwachen und wie viel gab es jetzt zu besprechen! Die Tante mußte zwar abreisen, weil sie erwartet wurde, aber sie versprach, ihre Sachen in wenigen Tagen zu ordnen und dann wieder zu kommen. Herr Palmer vertraute vor seiner Abreise dem Töchterchen an, daß er ein Haus mit großem Garten am Ende der Stadt kaufen wolle, damit sie und die neue Mutter eine schöne, gesunde Wohnung vorfänden. Es wurde bestimmt, daß die Hochzeit noch im Herbst und zwar im Forsthaus gefeiert würde, bis dahin sollte Lili noch bleiben. Das waren lauter fröhliche Aussichten und so gab es keinen schweren Abschied.
Die Wochen bis zur Hochzeit flogen schnell dahin. Alles wurde gerüstet zu dem schönen Familienfest, das die Kinder mit Ungeduld erwarteten. Endlich kam der langersehnte Tag, der auch den Doktor und manche andere Gäste ins Forsthaus brachte. Als nach der Trauung alle beim fröhlichen Hochzeitsmahle saßen, fragte der Forstmeister: »Wer von uns allen ist nun heute am vergnügtesten?« »Der Vater!« rief Lili. »Falsch geraten!« »Die Tante!« riefen einige, »die Lili!« riefen andere. »Ich bin's!« schrie der kleine Otto voll Übermut. »Alles falsch, alles falsch,« sagte der Forstmeister, »der Doktor ist's, mein lieber Bruder, der Doktor, der das alles so geschickt angestiftet hat, der Doktor soll leben!« Da stießen alle an und riefen: »Der Doktor lebe hoch!«
Am selben Abend noch nahm Lili Abschied vom Forsthaus; aber sie durfte ja mitnehmen, was ihr das Liebste gewesen war, die Tante Helene und außer ihr auch noch Ida, die ein Jahr bei Lili in der Stadt zubringen sollte. So sagte sie in glücklicher, dankbarer Stimmung Lebewohl, und alle riefen ihr nach: »Auf Wiedersehen!«
So fuhren Lili und Ida mit den Eltern nach der Stadt. Von nun an hatte Lili ein glückliches Leben. Sie war gesund und frisch, sie durfte mit Ida in eine Schule gehen, wo sie viel lernte und manche gute Kameradin fand, und wenn sie aus der Schule heim kam, so war ihre allzeit fröhliche, liebevolle Mutter da und auch viel öfter als früher der Vater, dem es nach langen, einsamen Jahren gar wohl war in seinem heiteren Familienkreis. Und auch als Ida im nächsten Jahre wieder fort ging, war Lili nicht einsam, denn in derselben Wiege, in der sie einst als mutterloses Kindchen gelegen hatte, lag nun ein kleines, allerliebstes Schwesterchen, die kleine Rosa, die schon Lilis ganzes Herz gewonnen hatte.
»Wie froh bin ich nun an meiner großen Tochter, die mir helfen kann, die Kleine zu pflegen,« sagte die Mutter, und Lili fühlte sich sehr stolz. Sie beugte sich über die Wiege und wollte die Kleine küssen. Diese aber hatte gerade ihr Däumchen im Munde. »Schwesterchen, das ist nicht fein, so bekommst du kein Küßlein,« sagte Lili und zog ihr sachte das Däumchen aus dem Munde. Aber die Kleine schob nun das ganze Fäustchen in den Mund. Da lachte Lili, küßte das Kind auf die kleine Stirne und sagte: »Es geht auch so!«