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Fräulein Bertrand zeigte lebhafte Teilnahme für die von den Großen beabsichtigte Schlußfeier und erkundigte sich in jeder französischen Stunde nach den Fortschritten. Sie hatte den feinen Geschmack und Sinn für alles Schöne, der den Französinnen eigen ist, und wie sie früher schon den Rat gegeben hatte, die Mädchen sollten sich in Gruppen im Schulzimmer verteilen, so brachte sie auch heute wieder einen Vorschlag, um der Sache ein festliches Gepräge zu verleihen.
»Jede Gruppe,« sagte sie, »sollte sich eine Büste ihres Dichters verschaffen und diese Büste, mit Grün geschmückt und von Blattpflanzen umgeben, als Mittelpunkt auf einem Tischchen vor sich haben. Das würde dem ganzen Zimmer ein festliches Aussehen verleihen.«
Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall.
»Wir haben eine Schillerbüste, wir Schiller, Goethe und Lessing,« riefen verschiedene der Mädchen. Schiller und Goethe waren mehrfach vorhanden, aber wer hatte einen Uhland, wer einen Rückert?
»Wenn wir in allen Klassen Nachfrage halten, werden wir schon welche bekommen,« meinte die eine.
»Aber dann wird unser Geheimnis leicht ausgeplaudert,« sagte eine andere. Als man so eine Weile beraten hatte, ließ sich Elise Schönlein vernehmen; in ihrem gewohnten, gleichgültigen Ton sagte sie: »Die Büsten könnt ihr von mir haben.« »Von dir? Welche? Rückert? Uhland?« So fragten die verschiedenen Gruppen durcheinander.
»Mir ist's gleich, welche ihr wollt.« »Ach,« sagte Ottilie geringschätzig, »die weiß wieder nicht, was man eine Büste heißt.«
»Wenn ihr sie nicht wollt, braucht ihr sie ja nicht zu nehmen,« entgegnete Elise empfindlich.
»Doch, doch,« beschwichtigte Gretchen, »es wäre ja reizend, wenn du sie uns verschaffen könntest; wie sehen denn deine Büsten aus?«
»Wie werden sie aussehen? Füß' haben sie nicht, aber Köpf'!«
»Wie groß?« »In drei Größen könnt ihr sie haben, zu fünfzehn Zentimeter, zu dreißig und zu fünfzig, vom Sockel an gerechnet, weiß oder bronziert.« Bei diesen fachmännisch genauen Angaben horchten alle erstaunt auf und Ottiliens spöttische Bemerkungen verstummten. Fräulein Bertrand wollte nun wissen, wie Elise zu diesen Büsten käme.
»Mein Onkel hat sie alle in seinem Laden und verleiht sie. Wer eine zerbricht, muß sie eben bezahlen, aber mit Abschlag sind sie nicht teuer.« »Vielleicht könntet ihr die fünf Büsten zu billigem Preis bekommen und Fräulein von Zimmern zur Erinnerung verehren. Wie hübsch würden sie sich auf dem Bücherschrank ausnehmen!« Dieser Vorschlag von Fräulein Bertrand wurde von allen begeistert aufgenommen. Sie wollten heute noch ihre Eltern um Erlaubnis bitten. Elise wurde nun mit Fragen über Preis und Größe bestürmt und zum ersten Male in all ihren Schuljahren war sie der Mittelpunkt, die Hauptperson.
Auch Pfarrer Kern wurde noch einmal zu Rat gezogen. Wie und wann sollte man Fräulein von Zimmern um die Stunde bitten und wie sollte man das Gelernte hersagen? Er riet, nicht bis zu den letzten Schultagen zu warten, wo Fräulein von Zimmern durch die Ausstellung der Handarbeiten mehr als sonst zu tun hatte. Es wurde beschlossen, ihr am Samstag den Plan mitzuteilen und ihr zugleich ein Verzeichnis zu überreichen von allem, was ihr zu Ehren gelernt worden war. So fertigte denn jede Gruppe eine Liste an, und Gretchen und Elise erfuhren zu ihrer Überraschung, daß Ottilie als besonderes Glanzstück noch ein paar Seiten aus dem »Abfall der Niederlande« aufzuweisen hatte.
Nicht ohne Aufregung erwarteten die Mädchen am Samstag um elf Uhr Fräulein von Zimmern zu der gewohnten Literaturstunde. Ottilie war zur Sprecherin gewählt; denn alle wußten, daß sie dies Vorrecht erwartete. Als sich die Vorsteherin an ihren gewohnten Platz gesetzt hatte, sahen die Schülerinnen nicht wie sonst auf sie, sondern alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf Ottilie. Diese stand auf und errötend vor Fräulein von Zimmerns erstauntem Blick begann sie ihre kleine Ansprache: »Wir Schülerinnen der Oberklasse möchten Ihnen am Schluß unserer Schulzeit eine Freude machen, und da wir nichts Besseres wußten, haben wir uns in den letzten Wochen bemüht, unsere Literatur-Kenntnisse zu erweitern. Wir haben uns in fünf Gruppen geteilt und jede Gruppe hat einen Dichter übernommen, seine Lebensgeschichte und seine Werke gelernt. Wir möchten Sie nun bitten, uns einen Nachmittag zu bestimmen, an dem wir Ihnen das Gelernte hersagen dürfen.«
Fünfzehn Augenpaare waren während dieser kleinen Rede auf Fräulein von Zimmern gerichtet. Die sichtliche Überraschung und der freudige Ausdruck auf den Zügen der Vorsteherin ließen deutlich erkennen, daß ihr der Plan nicht vorher verraten war, und daß die Mädchen getroffen hatten, was so recht nach ihrem Sinn war. »Es freut mich herzlich,« sagte sie bewegt, »daß ihr mir zum Abschied noch solch eine Überraschung bereiten wollt, und ihr hättet euch gar nichts Schöneres ausdenken können. Ich bin sehr begierig, was ich zu hören bekommen werde.« Die Mädchen überreichten ihre Verzeichnisse.
Fräulein von Zimmern durchlas sie aufmerksam. »Lauter Stücke, die wir noch nie in der Schule gelernt haben? Sogar Prosa? Das ist ja eine ganz außergewöhnliche Leistung!« Gretchens Gewissenhaftigkeit rührte sich. »Nicht jede aus der Gruppe kann alles, was von ihrem Dichter verzeichnet ist,« sagte sie.
»Ich verstehe wohl, das wäre auch neben eurer andern Arbeit gar nicht möglich gewesen zu lernen. Die Gruppe ist als eine Person zu betrachten, nicht wahr?«
»Ja, ja,« sagte Gretchen, »und nicht wahr, wenn Sie uns ausfragen, dann fragen Sie nicht die einzelne, sondern bloß die Gruppe?« »Du brauchst unsere Sache nicht so herunterzudrücken,« sagte Ottilie halb im Scherz, aber doch ein wenig ärgerlich, »es haben doch alle die ganze Lebensgeschichte gelernt.« »Ja, aber nur für ein Drittel kann jede einstehen.«
»Das darfst du nicht so betonen,« sagte Fräulein von Zimmern lächelnd, »sonst bekommst du böse Blicke von da und dort. Nun wollen wir uns gleich wegen des Tages besprechen.« Der nächste Mittwochnachmittag wurde bestimmt, um drei Uhr sollte die freiwillige Literaturstunde beginnen.
Das war nun noch ein eifriges Lernen und Wiederholen daheim, ein Sorgen und Beraten in der Schule.
Am Montag abend hatte Gretchen eben ihre Bücher weggelegt mit der Empfindung, daß sie für diesen Tag das Lernen satt habe, als unerwartet Ottilie zu ihr kam. »Gretchen,« sagte sie, »du weißt ja, daß ich mehr als du und viel mehr als Elise zu lernen übernommen habe. Aber jetzt habe ich wieder Kopfweh, und wenn ich noch weiter lerne, wird's immer ärger. Nun möchte ich dich bitten, daß du noch ein Stück von meinem Teil übernimmst.« »Jetzt kann ich nichts Neues mehr dazu lernen,« entgegnete Gretchen, »du hast gar zu viel übernommen, laß doch weg, was du nicht mehr zustande bringst.« »Das kann ich nicht, es ist ja schon auf dem Verzeichnis, das wir Fräulein von Zimmern übergeben haben.« »Was ist es denn?« »Die Teilung der Erde.« »Das ist ein schweres Gedicht!« sagte Gretchen sehr bedenklich. »Aber nicht lang,« entgegnete Ottilie, »stelle dir nur vor, wie es werden soll, wenn Fräulein von Zimmern sagt: ›Nun möchte ich die Teilung der Erde hören,‹ und sie fragt gewiß danach, ich weiß, sie hat es gern. Sollen wir dann verstummen?«
»Nein; dann sagen wir: mit dem sind wir nicht mehr fertig geworden. Es ist ja alles freiwillig!«
»Nein, Gretchen, das können wir wirklich nicht sagen, es wäre eine Schande vor allen Gruppen. Kannst du's denn nicht noch lernen? Du lernst doch so leicht und hast nie Kopfweh. Wenn du es nicht übernimmst, dann läßt es mir keine Ruhe, dann zwinge ich mich dazu und lerne die halbe Nacht durch und bekomme rasend Kopfweh.«
»Unsinn, Ottilie, so darf man's doch nicht machen! Ich will es ja lernen, wenn dir gar so viel daran liegt. Aber dann muß ich gleich jetzt anfangen; denn morgen habe ich noch mit Elise zu wiederholen.«
»Ach, laß doch die fallen, die bringt doch nichts zustande.« »Meinst du? Du wirst staunen über sie und Fräulein von Zimmern wird sich über sie vielleicht am allermeisten freuen.« Ottilie ging und Gretchen nahm ein wenig grollend ihren Schiller. Sie hatte geglaubt, fertig zu sein, und nun ging das Lernen noch einmal von vornen an.
Am Mittwoch nachmittag, schon bald nach zwei Uhr, versammelten sich die Großen in ihrem Schulzimmer. Fräulein Bertrand, die versprochen hatte, ihnen beim Herrichten zu helfen, fand sich pünktlich ein. Elise hatte die Büsten richtig herbeigeschafft. Blattpflanzen und Efeuranken waren zur Stelle, und nun wußte Fräulein Bertrand auf fünf Tischchen die Sache sehr nett herzurichten und die Mädchen anmutig zu stellen. Der große Schultisch war hinausgetragen und für Fräulein von Zimmern ein Sessel so aufgestellt worden, daß sie alle Gruppen im Halbkreis um sich hatte.
Als um drei Uhr die Vorsteherin eintrat, war sie höchst überrascht von dem unerwarteten Anblick. Das Zimmer mit dem vielen Grün, den geschmückten Büsten und den hellgekleideten Mädchen sah ganz verwandelt aus. Fräulein Bertrand forderte die Vorsteherin auf, Platz zu nehmen, stellte ihr die Gruppen vor und bat sie, den Vertreterinnen der Dichter Gelegenheit zu geben, ihre Meister vorzuführen.
Die Mädchen hatten nicht anders erwartet, als daß Fräulein von Zimmern eine Gruppe nach der andern schulmäßig abfragen würde. Nun war die Reihe an ihnen, überrascht zu werden. Fräulein von Zimmern hatte sich mit Hilfe des Verzeichnisses ihren Plan gemacht. Ihre erste Frage galt der Kindheit Goethes. Nachdem ihr davon berichtet worden war, wandte sie sich an eine andere Gruppe mit der Frage: »Ist euer Dichter auch in so guten äußeren Verhältnissen aufgewachsen?« und so wußte sie immer die Gruppen zu verbinden, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten hervorzuheben. Auf diese Weise gewann das, was die Mädchen in den letzten Wochen fast zum Überdruß gehört hatten, wieder neuen Reiz für sie. Fräulein von Zimmern war bei diesem ihrem Lieblingsfach immer im Eifer, heute aber noch viel mehr als sonst, und keinen Augenblick schien sie zu vergessen, daß all dieses Wissen freiwillig ihr zuliebe erworben war. Sie sprach immer wieder ihre Freude aus. Ottiliens Stück aus dem »Abfall der Niederlande« war die schwierigste Leistung und ging glänzend. Elise hatte schon drei Gedichte fehlerlos hergesagt, worüber Gretchen stolz war wie eine Mutter über ihr Kind. Nun wollte Fräulein von Zimmern das Gedicht hören, in dem Schiller sich über die Dichter ausspricht: Die Teilung der Erde. Ein rascher Blick wurde zwischen Ottilie und Gretchen gewechselt, dann fing diese frisch an vorzutragen: »Nehmt hin die Welt, rief Zeus.« Im vierten Vers gab es eine kleine Stockung, aber Gretchen fand sich wieder zurecht. Aber im fünften Vers nach der traurigen Frage des Poeten: »Soll ich denn allein von allen vergessen sein?« da blieb die Antwort aus. Gretchen wußte nicht weiter. Noch einmal wiederholte sie die Frage, recht kläglich: »Soll ich denn allein von allen vergessen sein?« Es entstand eine peinliche Pause. Keine der Schülerinnen war so vorsichtig gewesen, ihr Buch mitzubringen, keine konnte nachhelfen. Da sagte Fräulein von Zimmern freundlich: »Dem armen Poeten können wir im Augenblick nicht helfen; wollen wir einmal hören, was Uhland über die Dichter sagt.« So kamen wieder andere an die Reihe, der peinliche Eindruck war bald verwischt, alles ging glatt, und Fräulein von Zimmern erklärte am Schluß, daß ihre Erwartungen weit übertroffen seien. Stolz und glücklich verließen die Mädchen ihre Tischchen und überreichten ihre Büsten zur Erinnerung an diesen Nachmittag. Und Ottilie holte ihr fein gesticktes Deckchen herbei, breitete es zur Überraschung aller, außer Gretchen, über ein Tischchen und bat Fräulein von Zimmern, es als Andenken anzunehmen. Diese schöne Arbeit wurde gebührend bewundert und Ottilie stand auf der Höhe, sie hatte sich heute ausgezeichnet. Dennoch war sie nicht so fröhlicher Stimmung, wie man hätte erwarten können. Sie war überzeugt, Gretchen würde eine Gelegenheit suchen, um zu erzählen, wer eigentlich schuld war an dem schlecht gelernten Gedicht. So beobachtete sie mit Mißtrauen Gretchen, so oft sich diese Fräulein von Zimmern näherte. Aber Gretchen hatte ihr Mißgeschick schon verschmerzt. Das Ganze war doch aufs schönste gelungen.
Fräulein von Zimmern hatte mit jeder der Schülerinnen besonders gesprochen, und nun erbat sie sich einen Augenblick Stille, da sie etwas mitzuteilen habe. Die Mädchen horchten. »Ich denke mir,« sprach die Vorsteherin, daß es euch allen heiß geworden ist bei diesen Leistungen, und ich möchte euch zu einer kleinen Erfrischung in mein Zimmer laden. Wollt ihr, nachdem ihr hier ein wenig Ordnung gemacht habt, zu mir herunterkommen?« Freudig und einstimmig wurde die unerwartete Einladung angenommen.
Nach einer halben Stunde saß die ganze junge Gesellschaft in gehobener Stimmung um einen Tisch, auf dem eine stattliche Torte stand. Fräulein von Zimmern füllte kleine Kelchgläser mit köstlichem Himbeersaft und reichte sie den Mädchen herum, denen es ganz merkwürdig vorkam, von der Vorsteherin bedient zu werden. Ja, die Schulzeit ging stark zur Neige, deutlich kam es jetzt den Schülerinnen zum Bewußtsein. Fräulein von Zimmern ließ die fünf Dichter und ihre wackeren Vertreterinnen leben, und das Gespräch wurde bald lebhaft; die Mädchen erzählten, wie der Pfarrer sie auf diesen Plan gebracht hatte, und auch die kleine Täuschung mit den französischen Spielen wurde eingestanden.
»Wie ist's wohl gekommen, daß dich heute dein sonst so treues Gedächtnis im Stich gelassen hat?« Mit diesen Worten wandte sich Fräulein von Zimmern an Gretchen. Ottilie wurde dunkelrot – nun mußte die Aufklärung kommen und sie gedemütigt dastehen. Gretchens Art war es nicht, eine Frage ausweichend zu beantworten, auch war sie der Meinung, daß jetzt, nachdem die ganze Überraschung so schön gelungen war, alles Vorhergegangene offen erzählt werden könne. Schon hatte sie das Wort auf der Zunge, als sie dem ängstlichen Blick Ottiliens begegnete, der ihr klar machte, was diese fürchtete. Einen Augenblick besann sie sich, dann antwortete sie gutmütig: »Ich habe das Gedicht erst vorgestern angefangen zu lernen, und das war zu spät. Es ist mir recht leid, daß ich unseren Schiller so schlecht vertreten habe.« Nach dieser Antwort entstand eine kleine Stille, Gretchen wußte nicht recht warum. Hermine und die meisten der Mädchen blickten erwartungsvoll auf Ottilie, aber diese schwieg. »Ich weiß übrigens jetzt die Antwort für den armen Poeten,« fuhr Gretchen fort, »darf ich noch den Schluß hersagen?«
Sie hatte kaum die letzten Worte des Gedichts gesprochen, als Ottilie anfing, von der Handarbeitsausstellung zu sprechen. Ihr lag daran, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken, und es gelang ihr. »Wenn ich nur in dieser Woche noch die zweite Nachtjacke fertig brächte,« sagte Gretchen, »damit ich bei der Ausstellung meine erste damit bedecken könnte, denn die sieht oben schrecklich aus; bei meiner zweiten hingegen ist das obere Knopfloch so wunderbar schön geraten; wenn Sie es sehen, Fräulein von Zimmern, werden Sie kaum glauben, daß ich es gemacht habe, es könnte wirklich von Ottilie sein.« Ottilie sah nachdenklich auf Gretchen. Wie konnte diese so neidlos anderer Leute Vorzüge anerkennen! – Sehr befriedigt von diesem Nachmittag verabschiedeten sich die Mädchen von der Vorsteherin. Jeder einzelnen sprach sie noch einmal Dank oder Freude aus. Als Elise sich mit ihrem gewohnten, gleichgültigen Gruß entfernen wollte, faßte Fräulein von Zimmern sie bei der Hand und sagte freundlich: »Es ist mir wirklich leid, daß ich dich gerade jetzt als Schülerin verlieren soll, wo du so fleißig gelernt hast. Richte deinen Eltern aus, daß du dich heute mit Lorbeeren bedeckt habest.« Elise erwiderte ganz ruhig: »Gretchen Reinwald hat mit mir gelernt, sonst hätte ich wieder nichts gekonnt.« Gretchen hatte davon nichts gehört, als sie aber die Hand zum Abschied reichte, sagte Fräulein von Zimmern leise zu ihr: »Laß dich's nicht bekümmern, daß du ein Gedicht nicht gekonnt hast, du weißt: gut sein ist mir wichtiger, als gut können!« Diese freundlichen Worte machten, daß diejenige, deren Leistung am wenigsten gelungen war, fröhlichen Herzens ihre Straße zog, während die, welche sich vor allen ausgezeichnet hatte, bedrückt nach Hause ging in dem Gefühl, nicht ehrenhaft gehandelt zu haben.
Dieser Tag sollte für Gretchen noch besonders schön ausklingen; denn am Nachmittag war der Forstrat dagewesen, und Frau Reinwald hatte alles mit ihm besprochen, so daß der schöne Plan der Ferienreise mit Ruth gleich am ersten Ferientag zur Ausführung kommen konnte. Der Arzt hatte auch Ruths Mutter zu einer Reise überredet, sie sollte in einer Nervenheilanstalt Genesung suchen, während ihr Töchterchen in fröhlicher Umgebung zu kräftigerem Leben erstarken sollte.
Ja, das war eine beglückende Aussicht für Gretchen, aber wie ein Berg lag noch dazwischen die unvollendete Handarbeit, die Ausstellung in der Schule.
Am Freitagnachmittag war die letzte Arbeitsstunde, da wollte Gretchen fertig werden um jeden Preis. Von Montag bis Mittwoch wollte Fräulein Weber die Arbeiten unten im großen Zeichensaal ausstellen. Die meisten Schülerinnen hatten ihre Arbeiten schon abgeliefert, hübsch mit roten Bändchen gebunden lagen sie bereit. Gretchen arbeitete, daß ihr die Wangen glühten, sie nahm sich in ihrem Eifer nicht einmal die Zeit, Fräulein Weber ihre Arbeit zu zeigen, ehe sie den zweiten Ärmel einnähte. Nur vorwärts, vorwärts! Und nun war die Stunde aus, aber auch der Ärmel war eingenäht. »Fertig!« jubelte Gretchen und hob glückstrahlend ihre Nachtjacke in die Höhe. Sie strich mit der Hand darüber hin, der Ärmel wollte sich nicht recht hinunterlegen. »Was hat er denn?« rief Gretchen, »warum starrt er so kurios hinaus!« Mit mißtrauischen Blicken besah sie ihr Werk.
Fräulein Weber warf nur einen Blick darauf und rief aus: »Aber Gretchen, was ist das wieder! Der Ärmel ist ja verkehrt hineingesetzt, die obere Seite sitzt unten. Hättest du es mir vorher doch gezeigt.« Die allgemeine Teilnahme wandte sich nun Gretchen zu. »O Fräulein Weber,« bat Hermine, »lassen Sie doch Gretchen die Arbeit mit heimnehmen, und zu Hause fertig machen, es ist ja die allerletzte Arbeitsstunde!«
»Das kann ich nicht erlauben, es ist ganz gegen die Regel; die beiden andern, die auch nicht fertig sind, würden dann dasselbe Recht beanspruchen. Das siehst du selbst ein, Gretchen, nicht wahr?« Diese nickte nur und packte ganz ergeben ihre Arbeit zusammen. Wehmütig sah sie noch einmal auf das Knopfloch, das so schön geraten war, und zeigte es den teilnehmenden Freundinnen, die ihr die Bewunderung nicht versagten.
Daheim erzählte Gretchen den Eltern ihr Mißgeschick. »Ich habe eben immer Unglück mit der Handarbeit,« schloß sie.
»So, das nennt man Unglück?« sagte Herr Reinwald, »das werde ich mir merken. Wenn ich den nächsten Erlaß für die Regierung ausarbeite, werde ich mir's leicht machen. Fällt er dann so verkehrt aus wie dein Ärmel, so sage ich zum Herrn Regierungspräsidenten: ›Ich habe eben immer Unglück mit den Erlassen.‹ Dann wird mich der Herr Präsident ganz lieb trösten; denn mit dem Unglücklichen soll man doch Mitleid haben.« Gretchen lachte: »Ach Vater, das ist doch etwas anderes!« »Jedenfalls ist's recht bequem,« entgegnete Herr Reinwald, »wenn man sein Ungeschick Unglück nennt. Man schiebt damit ganz sachte die Schuld von sich weg auf ein Verhängnis.« »Du hättest Fräulein Weber deine Arbeit rechtzeitig zeigen sollen,« sagte Frau Reinwald, »übrigens ein wenig Unglück ist doch dabei,« bemerkte sie lächelnd zu ihrem Mann, »sie hätte ja auch zufällig die richtige Seite des Ärmels erwischen können.« »Mag sein, daß ein Unterschied zwischen einem Ärmel und einem Regierungserlaß besteht,« gab Herr Reinwald zu.
Während sich Gretchen im Geist mit ihrer unglückseligen Nachtjacke beschäftigte, ging mit dieser eine Verwandlung vor. Gretchen war gleich nach der Arbeitsstunde heimgegangen, Ottilie hingegen hatte gezögert, und ohne daß es bemerkt wurde, war sie in der Schule zurückgeblieben. Es war vier Uhr. Sie wartete, bis alle Klassen leer waren, und beobachtete von der Treppe aus, daß sich Fräulein von Zimmern in den Zeichensaal begab, wo schon die Tische gestellt waren, auf denen am nächsten Tag die Arbeiten ausgelegt werden sollten. Erstaunt sah die Vorsteherin auf, als nun Ottilie zu ihr trat. »Fräulein von Zimmern,« sagte sie, »Gretchen Reinwald ist nicht fertig geworden mit ihrer Arbeit.«
»Ich weiß es, Fräulein Weber hat es mir erzählt.«
»Ich würde sie gerne fertig machen,« sagte Ottilie in sichtlicher Verlegenheit. Es war ihr etwas ganz Ungewohntes, eine Gefälligkeit anzubieten, sie fühlte, daß es auffallen mußte. »Warum möchtest du das?« fragte Fräulein von Zimmern und sah Ottilie scharf an. »Weil ich ihr auch einmal gern einen Gefallen tun würde,« war die leise Antwort. »Das ist schön von dir, Ottilie, aber du weißt, daß es gegen meine Grundsätze ist; sie kann das nicht als ihre Arbeit ausstellen, was sie nicht ganz und gar selbst gemacht hat.« »Wenn die Nachtjacke gelegt ist, sieht man ja nur die Vorderseite, die Gretchen ganz allein gearbeitet hat.« Fräulein von Zimmern überlegte: »Es ist mir leid, es kann nicht sein.« Ottilie schwieg. Sie kämpfte einen harten Kampf mit ihrem Hochmut; endlich sagte sie: »O bitte, machen Sie heute eine Ausnahme! Ich bin so in Gretchens Schuld, eigentlich schon so lange wir in die Schule gehen. Sie war bis zuletzt so gut gegen mich, erst neulich wieder bei unserer Literaturstunde. Wir kommen außer der Schule nicht zusammen; wenn ich jetzt nicht noch gut machen kann, was ich versäumt habe, dann kann ich's vielleicht im ganzen Leben nimmer!«
Dies demütige Bekenntnis des sonst so hochmütigen Mädchens besiegte Fräulein von Zimmerns Bedenken. »Geh, mein Kind,« sagte sie, »und tue das, wozu dich dein Gewissen treibt.« Ottilie ging durch das stille Schulhaus hinauf bis in den obersten Stock, wo die Kammer lag, in der die Arbeiten aufbewahrt wurden. Die jüngsten Schulkinder hatten ihre Strickkörbchen auf dem untersten Fach des großen Ständers, der die ganze Wand der Kammer einnahm. Auch Ottiliens Körbchen war einst ganz unten gestanden und war im Laufe der Jahre hinaufgerückt bis in das oberste Fach, das die Kleinen nicht mit ihren Händchen erreichen konnten. Als sie so allein in dem stillen Raum war, kam eine weiche Stimmung über sie. War sie wohl zum letztenmal hier? Sie nahm Gretchens Arbeitskorb mit hinüber in das Schulzimmer und setzte sich an den grünen Tisch. Während sie so dasaß, Stich auf Stich auftrennend, blickte sie zurück auf die verflossenen Schuljahre. Das ehrgeizige Streben, die Mißgunst gegen die andern, die Feindseligkeiten, die sie sich durch ihr spöttisches Wesen zugezogen hatte, dieses alles hatte sie zu keiner rechten Ruhe kommen lassen. Und nun dachte sie an die, deren verunglücktes Werk sie in Händen hielt. Sie konnte sich Gretchen nicht anders vorstellen, als fröhlich und friedlich, liebevoll und geliebt, allezeit glücklich trotz manchen Mißgeschicks. Woher kam der große Unterschied?
Fräulein von Zimmern trat ein, um sich nach der einsamen Näherin umzusehen. »Kommst du zurecht?« fragte sie. »Ja,« sagte Ottilie, »ich bin noch am Trennen, das geht langsam, aber es geht doch.« »Wenn wir alles so leicht wieder rückgängig machen könnten, wie eine verkehrte Näherei, so wäre es gut, nicht wahr, Ottilie?« sagte Fräulein von Zimmern und legte ihr freundlich die Hand auf die Schulter. Ottilie senkte den Kopf und sagte: »Ich wollte, ich könnte gerade noch einmal von vornen anfangen, mit dem Strickkörbchen im untersten Fach des Ständers!« »Wenn du das sagst, Ottilie, so hast du schon von vorn angefangen, vom untersten Grund des Herzens aus. Und wenn dich die Schuljahre nur so weit gebracht haben, daß du dich selbst erkennst und nach dem Guten strebst, dann sind sie nicht umsonst gewesen.«
Fräulein von Zimmern ging und ließ Ottilie allein. Es war eine gesegnete Stunde, die das junge Mädchen bei ihrem Liebeswerk zubrachte.
Nun war die Arbeit vollendet, Ottilie legte das Nachtjäckchen hübsch zusammen und brachte es hinunter in den Zeichensaal, wo sie es der Vorsteherin übergab. »Nun wollen wir es so einrichten,« sagte diese, »daß Gretchen erst in der Ausstellung ihr schönes Werk entdeckt. Vorerst soll sie der Meinung bleiben, daß nur ihre unschöne Jacke aufliege.« »O ja,« rief Ottilie, »sie wird dann recht überrascht sein, wenn sie die beiden auf ihrem Platz entdeckt. Niemand kann so strahlen, wie sie, wenn sie sich freut.«
Fräulein von Zimmern sah Ottilie freundlich an. »Jetzt sehe ich auch an dir etwas von diesem Strahlen, das aus einem liebevollen, guten Herzen kommt. Gott behüte dich, Ottilie, und helfe dir weiter.«
*
Von Montag an stand zu erwarten, daß die Ausstellung fleißig besucht würde, und so erhielten je vier und vier der Schülerinnen den Auftrag, stundenweise anwesend zu sein, um die Besucher zu empfangen und auf etwaige Fragen Antwort zu geben. Die ersten vier unter den Großen hatten den Anfang zu machen, um zwei Uhr sollten sie sich einfinden.
Gretchen freute sich nicht darauf. »Ich wollte, ich müßte nicht hin,« sagte sie zu ihrer Mutter, »ich muß mich doch nur schämen wegen meiner Arbeit.«
»Sie wird vielleicht von niemand genau betrachtet,« tröstete Frau Reinwald. »Das wäre gut, Mutter, aber da kommt z. B. alle Jahre Fräulein Schütze. Auf ihr Urteil gibt Fräulein Weber und auch Fräulein von Zimmern am allermeisten. Sie wird immer besonders eingeladen. Sie sieht die Sachen so genau an, daß ihr nicht das Kleinste entgeht, und wenn sie gleich ihr Lob und ihren Tadel mit sanfter Stimme ausspricht, so hören doch alle darauf.«
»Kennt sie dich denn?«
»Sie hat mich schon öfter ermahnt und weiß längst, daß ich nicht viel Schönes zustande bringe, aber so gering wie dieses Jahr hat meine Arbeit in den letzten Jahren nie ausgesehen.«
Als Gretchen in den Saal kam, auf dessen langen Tischen die Arbeiten aller Klassen ausgestellt lagen, waren Hermine, Ottilie und Elsbeth schon anwesend, und sie gesellte sich zu ihnen. Fräulein Weber legte noch da und dort ordnende Hand an, Fräulein von Zimmern ging mit prüfendem Blick den Tisch entlang. Allmählich kamen einige Damen, Mütter und Schwestern der Schülerinnen, sie fragten bald nach dieser, bald nach jener Klasse oder Arbeit, und die Mädchen waren als Führerinnen beschäftigt.
Und nun erschien Fräulein Schütze.
Sie wurde von Fräulein von Zimmern achtungsvoll begrüßt und von Fräulein Weber selbst geleitet. Ja, Gretchen hatte recht gesagt, sie prüfte mit einer Genauigkeit, daß ihr kein Mangel entging; aber sie wußte auch gute Leistungen zu schätzen und hervorzuheben. Mit Unbehagen sah Gretchen die Gefürchtete ihrer Arbeit nahen. Sie stand gegenüber von Fräulein Schütze als Begleiterin einer anderen Dame. Jetzt hörte sie halblaut ihren eigenen Namen, Fräulein Schütze las ihn ab von dem Zettelchen, das auf der Nachtjacke angebracht war. Gretchen traute ihren Ohren nicht, als sie nun Fräulein Schütze sagen hörte: »Das ist sehr sorgfältig gearbeitet, das Knopfloch fadengerade und rein. Ich hätte nicht gedacht, Fräulein Weber, daß Sie es bei dieser Schülerin so weit bringen würden. Ist sie wohl hier? Ich denke, es wird sie nicht eitel machen, wenn ich ihr einmal Lob spende, nachdem ich manches Jahr zu meinem eigenen Bedauern Ungünstiges über ihr Werk sagen mußte.« »Da steht sie eben,« sprach Fräulein Weber lächelnd, und deutete über den Tisch hinüber auf Gretchen, die mit offenen Augen und Ohren bei dieser Unterhaltung war. »Ach ja, da ist sie,« sagte Fräulein Schütze, »wie groß sie geworden ist. So ist's recht, liebes Gretchen, machen Sie mit Gottes Hilfe so weiter.«
Gretchen aber sah sich nach Fräulein von Zimmern um. Oben an der langen Tafel stand sie. »Entschuldigen Sie,« sagte Gretchen zu der Dame, die sie geleiten sollte, »ich komme gleich wieder;« und eiligst schlüpfte sie hinter den Besuchern weg. »Fräulein von Zimmern,« sagte sie halblaut, »ich weiß gar nicht, wie das zugeht, meine schöne Nachtjacke ist jetzt doch ausgestellt, obwohl der Ärmel verkehrt darin ist. Fräulein Schütze hat sie so gelobt, ich kann nichts dafür.« Da lächelte Fräulein von Zimmern und sagte: »Du träumst wohl, die Ärmel sind ganz richtig hineingenäht.« Gretchen schüttelte den Kopf: »Von mir aber nicht.«
»Das behaupte ich auch nicht, vielleicht von einer guten Freundin.«
»Von Hermine?«
»Nein, von der, die dort an deinem Platz steht, um zu hören, wie deine Arbeit gelobt wird, und die jetzt so vergnügt zu uns herübersieht.«
Gretchen blickte hinüber. Hinter Fräulein Schütze stand Ottilie und schaute gespannt auf Fräulein von Zimmern und Gretchen. Im Nu war diese bei ihr; sie hätte unbekümmert um alle Anwesenden Ottilie umarmt oder sie vor Vergnügen und Dankbarkeit im Zimmer herumgewirbelt. Aber Ottilie war auf ihrer Hut. Sie wollte nicht, daß die Sache hier vor Fremden zur Sprache kam. Indem sie Gretchen den Finger auf den Mund legte, sagte sie leise: »Schweig still!« Aber ein Geflüster gab es doch noch zwischen den beiden; denn Gretchen wollte wissen, wie das zugegangen war. Sie war sehr glücklich über diese Wendung der Dinge, am meisten aber über den unverhofften Freundschaftsbeweis einer Mitschülerin, die durch so viele Jahre hindurch gleichgültig, ja beinahe feindselig neben ihr hergegangen war.
Die Ausstellungstage waren vorüber; zum letztenmal hatte die Oberklasse drei Stunden an dem grünen Tisch zugebracht. Pfarrer Kern hatte zum Schluß noch einmal Stunde gegeben und warme Worte zu seinen Schülerinnen gesprochen. Jetzt verabschiedeten sie sich alle von ihm, von den andern Lehrern und Fräulein von Zimmern. Bepackt mit vielen Büchern und Heften überschritten sie zum letztenmal als Schülerinnen die Schwelle des Schulhauses, mit Wehmut und Freude zugleich. Die Schule lag hinter ihnen, das Leben, zu dem sie nun ausgerüstet waren, lag vor ihnen.
Unter der Türe ihres Zimmers stand die Vorsteherin mit dem Pfarrer. Sie hatten den Abziehenden nachgesehen, jetzt war die letzte verschwunden. »Gott behüte die junge Schar,« sagte der Pfarrer. Fräulein von Zimmern schien bewegt. »Ich habe noch nie eine Klasse gehabt,« sagte sie, »in der so wie in dieser fast alle Schülerinnen vom ersten bis zum letzten Schuljahr bei mir waren.« »Und eben deshalb auch keine,« fügte der Pfarrer bei, »in der sich so wie in dieser gezeigt hat, daß sie nicht nur Kenntnisse gesammelt haben, sondern auch im Charakter gebildet worden sind.«
»Die meisten Eltern ahnen gar nichts von diesem Besten, das wir an ihren Kindern leisten; die Charakterbildung steht nicht auf dem Stundenplan, sie entzieht sich der Beobachtung.«
»Ja,« bestätigte der Pfarrer, »viele Eltern verlangen sie gar nicht von uns, sie fordern nur Kenntnisse. Und doch gewährt ein gefestigter Charakter mehr Bürgschaft für wirkliches Glück, auch im irdischen Leben, als alles Wissen und natürliche Begabung.«
Der Pfarrer war mit Fräulein von Zimmern in ihr kleines Stübchen getreten. Auf dem Tisch lag ein großes Buch aufgeschlagen, es zeigte eine leere Seite. Mit einem Seufzer deutete Fräulein von Zimmern darauf: »Hier liegt schon das Buch bereit zur Einzeichnung der Schülerinnen, die sich fürs erste Schuljahr anmelden werden.« Und der Pfarrer beantwortete den Seufzer, indem er sagte: »Fangen Sie getrost wieder mit den Neuen Ihre schwere Arbeit an, es liegt Gottes Segen darauf.«
*
Der Vorabend von Gretchens Reise ins Gebirge war gekommen. Etwas verspätet erschien sie beim Essen, Vater und Mutter saßen schon bei Tisch. »Ich habe noch Abschiedsbesuche gemacht,« sagte sie entschuldigend, »sonst käme ich nicht so spät. Ich mußte doch noch nach Gretchen sehen.«
»Gretchen?« fragte Herr Reinwald. »Was ist denn das für eine neue Freundin?« »Aber Vater,« entgegnete Gretchen vorwurfsvoll, »mein Patchen!« »Ach so, entschuldige nur, daß ich diese wichtige Persönlichkeit einen Augenblick vergessen konnte! übrigens möchte ich doch einen Vorschlag machen. Wenn man einmal so weit ist, daß man sich eines Patchens rühmen kann und auf ein anderes Menschenkind seinen Namen übertragen hat, dann sollte man sich nicht mehr ›Gretchen‹ nennen lassen, sondern Margarete. Oder willst du immer so ein Miniaturmensch bleiben, ewig ein Menschchen, nie ein ganzer, voller Mensch?«
»Nein, nein,« rief Gretchen eifrig, »ein ganzer Mensch möchte ich werden.« – »Was meinst du?« fragten fast gleichzeitig Vater und Tochter die Mutter. »Ich meine, wenn du nun von dieser Reise zurückkommst, so wäre das gerade der richtige Lebensabschnitt, und bis dahin könnte ich mich an den Gedanken gewöhnen, daß mein Gretchen der Vergangenheit angehören soll.« –
Am nächsten Morgen trafen sich zwei Väter mit ihren Töchtern an der Bahn, Herr Reinwald mit Gretchen, der Forstrat mit Ruth. Sie waren zeitig daran. Gretchen wanderte Hand in Hand mit Ruth und die beiden malten sich den zu erwartenden Landaufenthalt in goldenen Farben aus.
Auch die beiden Väter, während sie nebeneinander auf und ab gingen, sahen hoffnungsfroh in die Zukunft. »Meine Frau ist gestern in die Heilanstalt abgereist,« sagte der Forstrat, »und der Arzt hofft, daß sie vollständig wiederhergestellt wird, wenn es auch lange dauern kann.« »Bei Ihrer Kleinen wird es um so schneller gehen,« sagte Herr Reinwald, »sie sieht ja schon ganz rosig aus.« »Das macht die Freude,« sagte der Forstrat. Einige Minuten später saßen die beiden Mädchen in der Bahn, winkten aus dem abfahrenden Zug den Zurückbleibenden zum Gruß, und Gretchen hörte noch ihres Vaters Zuruf: »Auf glückliches Wiedersehen, Margarete!«