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Heiß und staubig war es in den Straßen der Stadt, glühend brannte die Sonne auf die Mauern der Häuser. Die Schulkinder schlichen müde in ihre Schulen und waren träge bei der Arbeit. Auch in der Töchterschule von Fräulein von Zimmern machte sich die Schlaffheit fühlbar, bei Lehrern und Lehrerinnen ließ die Frische nach. In der Klasse der Großen freute man sich nicht mehr an dem Sonnenschein, den man im Herbst, im Winter und Frühjahr so gern zum Fenster hereingelassen hatte. Die Läden waren so weit geschlossen, daß kaum mehr die nötige Helligkeit hineindrang. Heute war Handarbeitsstunde. Das Nähen wollte nicht recht vorwärts gehen, die Finger waren feucht und die Nadeln rutschten nicht durch den Stoff. Aber Fräulein Weber wollte nicht nachgeben; ihr Ehrgeiz war, daß jede der Schülerinnen die zwei Nachtjacken, die sie unter ihrer Leitung angefangen hatten, bis Schluß des Schuljahres vollenden sollte. Eine kleine Ausstellung der angefertigten Arbeiten war jedes Jahr das wichtigste Ereignis in dem Leben dieser Lehrerin, und zwar war es ihr Ehrgeiz, daß sich nicht nur einige Mädchen durch besonders hübsche Arbeiten hervortun sollten, sondern daß auch die weniger Begabten gute Leistungen aufzuweisen hätten. Elise Schönlein war auch in diesem Fach die geringste Schülerin; denn es fehlte ihr an Fleiß und sie legte gern ein Viertelstündchen die Hände in den Schoß. Aber auch Gretchen war in dieser Hinsicht keine gute Schülerin, sie machte oft etwas Ungeschicktes.
Heute war wieder ein Unglückstag für sie. Sie hatte das oberste Knopfloch zu groß geschnitten und mußte wieder ein Stückchen davon zunähen. Daß sie nun zu viel zunähte und die Hälfte davon wieder auftrennen mußte, gab dem Knopfloch ein trübes, zerzaustes Aussehen, das auch nicht besser wurde, als Gretchen sich in den Finger stach und ein Tröpfchen Blut darauf floß. Fräulein Weber war ärgerlich und Gretchen unglücklich. Hermine tröstete sie freundlich: »Es ist ja die erste Nachtjacke,« sagte sie, »die ist nicht so wichtig, wenn nur die zweite gut ausfällt, dann legst du bei der Ausstellung die schöne obenauf und niemand sieht die verunglückte.«
»Ich werde gar nicht fertig mit der zweiten bis zum Schulschluß, ihr seid fast alle weiter als ich.«
»Wir werden auch früher fertig als nötig, du wirst sehen, es reicht dir noch.«
Gretchen war froh, als die Stunde vorüber war, in der es ihr immer heißer wurde als in allen andern. Langsamer als sonst schlenderte sie heim durch die heißen Straßen. Als sie später als gewöhnlich nach Hause kam, sagte Franziska: »Es ist ein Mann im Besuchzimmer, es muß Sie auch angehen, er hat auch nach Ihnen gefragt.«
»Groß und breit, ein Vierziger, denke ich; schwarz gekleidet, fast wie ein Herr, aber doch kein Herr, meine ich.« Als Gretchen ins Zimmer trat, erhob sich der Mann, der kein Herr war, und Gretchen sagte erstaunt: »Ach, Sie sind's, Herr Bauer, wie geht es Lene und der Kleinen?«
»Ich danke für die Nachfrage,« sagte der Kutscher, »es geht gottlob gut. Ich habe Ihrer Frau Mutter die Bitte vorgetragen, die ich und meine Frau haben, ob Sie nicht unserem kleinen Mädel zu Gevatter stehen wollten?«
»Die Mutter? Ach, wie nett!« rief Gretchen.
»Nein, nicht ich, du bist zu Gevatter gebeten,« sagte Frau Reinwald. »Ich?« rief Gretchen in höchstem Erstaunen, »ich, Patin? Und bei Lenes herziger Kleinen? O Mutter, das ist zu schön!« und im Übermaß der Freude umarmte sie ihre Mutter und frug halb im Scherz und doch halb im Ernst: »Bist du nicht neidisch auf mich?« »Fast,« sagte Frau Reinwald freundlich, »aber nun gib doch auch deinem Herrn Gevatter ordentlich Antwort auf seine Anfrage!« »Ist bereits nicht mehr nötig,« entgegnete der Kutscher; »soviel habe ich schon heraus, daß es Fräulein Gretchen gern tut.« »O freilich, und wie gern!« rief Gretchen; »ich kann's gar nicht erwarten, bis ich mein Patenkind sehe. Wie soll's denn heißen?« »Wenn's Ihnen recht ist, so möchten wir's halt auch Gretchen heißen.« »Ach, das wird ja immer netter; meinen Namen soll die Kleine bekommen!« »Das ist ja fast zu viel Ehre für eine so junge Patin wie du,« sagte Frau Reinwald; »am Ende haben Sie noch eine ältere Patin, die es übel nimmt.«
»Wir haben weiter keine Patin, nur einen Paten. Lene meint, er werde Fräulein Gretchen schon recht sein, nämlich der Hofkutscher Plitt.« »Den kenne ich ja schon, das wird wunderschön! Wann soll die Taufe sein?«
»Wir haben noch nicht mit dem Pfarrer gesprochen.«
»Welcher Pfarrer ist's,« fragte Gretchen begierig; »am Ende unser Pfarrer Kern?«
»Ich kann's nicht sagen. Herr Pfarrer Kern gehört schon auch in unseren Bezirk, aber die Herren wechseln ab mit den Taufen, und da weiß man nicht so, wer die Woche hat.«
»Das kann ich erfragen und nicht wahr, dann richten wir's doch so ein, daß die Taufe ist, wenn unser Pfarrer die Woche hat?«
»Wenn's nicht gar zu lang dauert. Ich kann's nicht leiden, so alte Täuflinge, die fast schon dreinschwätzen.«
»Gleich morgen frage ich und bringe der Lene Antwort, rief Gretchen ganz im Eifer.
Der Kutscher empfahl sich. Zu seiner Frau daheim sagte er: »Ungern genug bin ich mit meiner Bitte in ein so vornehmes Haus gegangen, aber jetzt ist mir's recht, daß ich droben war. Wie hätte ich das auch denken können, daß sich das Fräulein so über die Patensache freut!«
»Ich hab' dir's doch vorher gesagt!«
»Ich hab's halt nicht geglaubt. Ihr Weiber schwätzt gar viel, da kann einer nicht alles glauben.«
*
Am nächsten Morgen ging Gretchen frühzeitig in die Schule. Sie wartete im Vorplatz des ersten Stocks auf Pfarrer Kern, der in der dritten Klasse Unterricht geben sollte. Nach und nach kamen all die Schülerinnen dieser Klasse an ihr vorbei, eine der letzten war Ruth Holland, die sichtlich erfreut war, als sie Gretchen da traf, und herzlich grüßte.
Gretchen hielt sie auf. »Bleibe bei mir,« sagte sie, »ich erzähle dir etwas.« Und nun erfuhr Ruth zuallererst, daß Gretchen Patin werden sollte und wegen der Taufe den Pfarrer sprechen müsse. Die Kleine sah mit noch mehr Achtung als bisher zu ihr auf. »Ich bleibe bei Ihnen stehen, bis unser Pfarrer die Treppe heraufkommt,« sagte sie.
Die beiden lehnten am Treppengeländer und sahen hinunter, Gretchen in wachsender Ungeduld, Ruth in voller Teilnahme. Aber der Pfarrer kam nicht und war auch jetzt noch nicht in Sicht, als das Zeichen zum Beginn des Unterrichts gegeben wurde. Miß Hampton, die englische Lehrerin, war schon längst die Treppe hinaufgegangen; Gretchen konnte nicht mehr länger zögern, sie mußte unverrichteter Dinge hinaufeilen.
Ruth hatte nicht recht verstanden, was Gretchen mit dem Pfarrer besprechen wollte; sie fürchtete, daß nun die Taufe und Patenschaft gar nicht zustande komme, und war ganz unglücklich, daß gerade heute der Pfarrer später als gewöhnlich kam. Und wie ärgerlich – kaum eine Minute später hörte sie seinen raschen Tritt auf der Treppe. Im Bewußtsein, daß sie auch zu spät daran war, ging sie rasch durch den Gang bis an die Türe des Schulzimmers. Aber vor dieser machte sie Halt. Sollte sie nicht dem Pfarrer sagen, daß Gretchen ihn so gern gesprochen hätte? Er konnte es dann gewiß nach der Stunde möglich machen. Den Pfarrer aufzuhalten und anzusprechen, war ein heldenmütiger Entschluß für die schüchterne Kleine, aber für ihr Fräulein wollte sie das schon tun. Mit klopfendem Herzen ging sie dem Pfarrer ein paar Schritte entgegen. Er gab ihr die Hand und sagte: »Heute sind wir spät daran, nicht wahr?« Und Ruth? Ruth sagte kein Wörtchen und ging tiefbetrübt über ihr Schweigen hinter dem Pfarrer in die Klasse.
Zum Glück war Gretchen nicht so ängstlich. Ein paar Minuten vor Schluß der englischen Stunde bat sie Miß Hampton, sie zu entlassen, und erhielt die Erlaubnis. Gretchen lauschte vor der Türe der zweiten Klasse.
»Nun wollen wir Schluß machen für heute,« hörte sie den Pfarrer sagen, und kurz darauf stand er vor ihr und sagte freundlich: »Hast du auf mich gewartet oder wolltest du zu den Kleinen?«
»Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Komm mit mir ans Fenster.«
»Ich soll Sie fragen, in welcher Woche Sie die Taufen in der Altstadt haben. Der Kutscher Bauer und seine Frau möchten gern, daß ihr Kind von Ihnen getauft wird.«
»Das wollen wir gleich nachsehen.« Der Pfarrer nahm seinen Taschenkalender zur Hand. »In der nächsten Woche ist die Reihe an mir.«
»O, das ist recht,« rief Gretchen, und nun wollte sie erzählen, daß sie zu Gevatter gebeten sei. Daheim hatte sie sich gefreut, es ihm mitzuteilen, aber jetzt, da sie ihm gegenüberstand, kam es ihr plötzlich in den Sinn, daß sie für solche Würde eigentlich zu jung sei. Er, der solche Verpflichtungen so ernst nahm, konnte es gewiß nicht gut heißen, wenn man ein Schulmädchen wie sie zu Gevatter bat.
Während sie sich darüber Gedanken machte, hatte der Pfarrer gefragt: »Kennst du diese Familie?« und Gretchen hatte ganz geistesabwesend geantwortet: »Ich kenne die Familie.« Der Pfarrer sah seine Schülerin erstaunt an; er kannte sie ja so genau und merkte wohl, daß sie etwas in ihren Gedanken bewegte, etwas Peinliches, wie ihm schien. Nun aber sagte sich Gretchen: Erfahren muß er's doch, also lieber gleich, und ganz unvermittelt kam es nun heraus: »Ich bin zu Gevatter gebeten bei dem Kind.« »Du, Gretchen?« fragte der Pfarrer überrascht. »Du sollst Patin werden, und du sagst mir das, wie wenn es dir gar keine Freude wäre, daß man dir dies Vertrauen erweist und dir ein solch kleines Menschenkind ans Herz legen will? Sieh, ich hätte gedacht, das müßte dir eine wahre Wonne sein!« »O, dann ist's mir gleich eine,« rief Gretchen wieder in ihrem natürlichen, fröhlichen Ton. »Ich habe nur Angst gehabt, es möchte Ihnen nicht recht sein, weil ich noch so jung bin.«
»Du bleibst ja nicht immer jung; bis das kleine Kindchen zu Verstand kommt, bist du schon kein Kind mehr, und ich glaube ganz gewiß, daß du ihm eine treue Patin wirst und schon jetzt im Gebet sein kannst. Also gratuliere ich dir, und nun mußt du mir auch sagen, woher du die Leute so gut kennst.«
»Die Frau ist ja unsere Lene, die schon immer bei uns war; Sie haben sie auch einmal bei uns besucht, wie sie krank war.«
»Ja, ja, deiner Lene kann ich mich wohl noch erinnern, und den Kutscher Bauer sollte ich auch kennen. Ist Lene nicht seine zweite Frau? Ja, die erste habe ich während ihres langen Leidens manchmal besucht. Der Mann war sehr gut gegen sie.«
»Wie schön, daß Sie beide schon kennen!« rief Gretchen freudig.
»Es war auch eine alte Verwandte im Haus, die schien mir weniger angenehm.«
»Das ist die Bas; ja, die ist viel weniger angenehm,« bestätigte Gretchen.
»Soll denn die Taufe im Haus sein?«
»Ja, es muß eine Haustaufe sein, weil der Pate nicht frei ist um die Zeit, wo in der Kirche getauft wird. Er ist nämlich Hofkutscher.«
»Ach so, das ist am Ende dein Hoftkutscher, der sich bei der Königin für dich verwendet hat?«
»Ja, das ist mein Hofkutscher,« sagte Gretchen vergnügt, »und darum wird's eben so schön bei der Taufe, weil sich alle schon ein wenig kennen. Und das Kindchen ist auch ein besonders nettes.«
»Das weiß ich,« sagte der Pfarrer.
»Kennen Sie denn die Kleine auch schon?«
»Nein, aber was wird denn dein Patchen nicht ein besonders nettes sein!« Gretchen hatte den Pfarrer bis zur Haustüre begleitet, und als sie umkehrte, war sie so glücklich, daß sie laut singend an Fräulein von Zimmerns Türe vorbeiging. Es war ihr ja nur lieb, daß Fräulein von Zimmern herauskam, die kleine Ungehörigkeit zu rügen, und daß sie auf diese Weise noch ein teilnehmendes Herz fand für ihre Mitteilung und ihre Freude.
An diesem Abend wanderte Gretchen zu Lene. Es kam ihr ganz wunderlich und verkehrt vor, als Lene ihr dankte; sie hatte ja danken wollen. Die Brüder zeigten mit Stolz ihr Schwesterchen und fuhren es so sanft hin und her, daß Gretchen sich darüber wunderte. »Ja, sie haben das Kleine lieb,« sagte Lene, »und sie waren auch gut gegen mich die ganze Zeit.« Nach einer Weile traulichen Plauderns sagte Gretchen: »Ich muß noch hinauf zur Base, die Mutter will's, sie hat mir ein Stück Kaffeekuchen für sie mitgegeben. Gehst du nicht mit mir hinauf, Lene?«
»Nein, Gretchen, es ist mir leid, ich kann jetzt nicht fort. Aber das muß ich dir noch vorher sagen, die Bas zieht nun wirklich zu uns.«
»Aber doch nicht vor der Taufe?«
»Nein, so schnell geht das nicht. In einem Monat von heute ab kommt sie.«
»Also hast du's ihr angeboten?«
»Ja, siehst du, ich wollte es ja eigentlich nicht. Aber wie die Kleine auf die Welt gekommen und die erste Nacht neben mir gelegen ist, da habe ich mir so meine Gedanken gemacht, was einmal aus dem Kinde werden wird. Ob's eine Frau wird oder nicht, und da ist mir's auf einmal gekommen, vielleicht ist es in seinen alten Tagen auch so verlassen wie die Bas da drüben, und kein Mensch will's zu sich nehmen.«
»O nein, Lene, wie kannst du so etwas denken! Wir lassen's doch nicht so widerwärtig werden, daß es kein Mensch mag!«
»Nun ja, es war mir eben weich zumut, und ich habe gesagt, es ist nicht recht, wenn man sich um die alten, einsamen Leute nicht annimmt, und dann habe ich mir's vorgenommen, mein erster Ausgang soll sein zu der Bas und zu ihren Hausleuten zum Kündigen. Gestern war ich drüben.«
»Was hat sie gesagt, Lene, ist sie jetzt recht glücklich und dankbar?«
»Nun ja, weißt du, in ihrer Art schon, man muß sie eben verstehen. Aber das habe ich ihr gesagt, das Schnapstrinken müsse sie dann bleiben lassen; wenigstens dürfe sie nur so viel trinken, als ich ihr selbst hole, ein Gläschen alle Tage, und durch die Buben dürfe sie's nicht mehr holen lassen.«
»Was hat sie dazu gesagt?«
»Ach, sie ist halt nicht so, wie sie sein sollte. Sie hat gesagt, sie trinke überhaupt nie Schnaps, und wenn sie trinke, dann lasse sie ihn nicht durch die Buben holen.«
»Aber Lene, wenn die Base so lügt und unsere Kleine wächst neben ihr auf und hört das?«
»So weit hinaus wollen wir halt nicht sorgen, Gretchen, ich hab's ja gut gemeint, es wird schon recht werden.« Gretchen ging zur Vase. Jetzt, nachdem Lene so edelmütig gehandelt hatte, war Gretchen wenigstens sicher, daß die alte Frau nicht über sie schelten würde. Im Lehnstuhl saß die Base und heftete gleich bei Gretchens Eintritt verlangende Blicke auf den Kaffeekuchen. Als ihn Gretchen vor sich auf den Tisch stellte, dankte sie zwar nicht eigentlich, aber sie sagte doch: »Das tut wohl, wenn man auch einmal etwas anderes zu sehen bekommt als das trockene Brot. Mir sucht ja doch der Bäcker immer das schlechteste heraus.« Gretchen fragte nach dem Befinden der Alten. Da wurde diese redselig und erzählte von ihrem Gichtleiden so lang und ausführlich, daß es für Gretchens Geduld schon viel war, um so mehr, als sie gerne von etwas anderem hören wollte. Endlich machte die Base eine Pause, und Gretchen fiel schnell ein: »Jetzt werden Sie ja bald nicht mehr allein sein; Lene hat mir gesagt, daß Sie zu ihr ziehen.«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Es ist doch recht gut von der Lene, daß sie Sie jetzt ins Haus nimmt, wo sie so viel Arbeit hat mit dem kleinen Kind, und wo sie auch das Stübchen gut selber brauchen könnte.«
»Ja, ja, sie weiß schon, was sie tut, die Lene!« sagte die Alte mit einem hämischen Lächeln. Gretchen wußte sich das nicht zu deuten, fragend sah sie auf die alte Frau. »Wenn sie sich nur nicht verrechnet, die Lene! Es hat schon manches auf eine Erbschaft gerechnet und ist dann zu kurz gekommen.« Gretchen verstand nicht genau den Sinn dieser Worte, aber sie empfand die gemeine Gesinnung, aus der sie hervorgegangen waren, die häßliche Verdächtigung gegen ihre Lene. Sie sprang vom Stuhl auf. Keinen Augenblick mochte sie mehr hier bleiben, kein Wort mochte sie sagen gegen solche boshafte Anschuldigung, aber Rache mußte sie nehmen, Strafe mußte sein: Mit einem raschen Griff nahm sie den Kaffeekuchen vom Tisch weg und unbarmherzig mit sich zur Türe hinaus, während die Alte stöhnte: »Mein Kuchen, halt, mein Kuchen!« In größter Erregung sprang Gretchen die vielen Treppen hinunter.
Drunten überlegte sie, ob sie Lene den Kuchen bringen sollte. Aber dann würde diese fragen, warum sie ihn der Base nicht gegeben habe, und um keinen Preis hätte Gretchen ihr die häßlichen Worte wieder sagen mögen, die sie so empört hatten. Sie mußte den Kuchen wohl mit nach Hause nehmen, aber der Mutter würde es nicht recht sein. Sie hatte der Kranken eine Freude machen wollen, nicht eine Enttäuschung bereiten. Bei Gretchen rührte sich schon wieder das gute Herz. Wie lange würde sich die Frau in ihrer Einsamkeit und Langeweile noch um den Kuchen grämen, der schon in ihrem Zimmer war, ja, ihr schon gehört hatte! »Mein Kuchen, halt, mein Kuchen!« tönte es noch in Gretchens Ohr. Unschlüssig stand sie noch eine Weile am Eingang vor Lenes Hof, dann siegte das Erbarmen über den Zorn.
Sie ging noch einmal zu Lene. Die stand in ihrer Küche. Gretchen legte rasch den Kuchen auf den Tisch, kehrte gleich wieder unter die Küchentüre zurück und sagte hastig von der Schwelle aus: »Lene, ich habe der Base den Kuchen weggenommen, weil sie mich geärgert hat; jetzt dauert sie mich aber doch, sei so gut und schicke ihn durch die Buben hinauf. Ich muß heim, so schnell ich kann und lernen, lernen den ganzen Abend.« Ehe Lene die Frage tun konnte, die ihr auf den Lippen schwebte: Warum hast du dich über die Bas geärgert? war Gretchen schon draußen im Hof und auf dem Heimweg.
Die Alte hatte von ihrem Fenster aus beobachtet, wie Gretchen mit dem Kuchen zu Lene hinein und ohne Kuchen von Lene herausgekommen war, und vor Neid und Schmerz darüber, daß nun Lene genießen sollte, was eigentlich für sie bestimmt war, weinte sie bitterlich.
Lene hätte gar gerne gewußt, womit die Base Gretchen so erzürnt hatte. Am Abend, als die Kleine schlief, empfahl sie dieselbe der Obhut der Brüder, nahm den Kuchen unter ihre Schürze und trug ihn selbst hinüber. Als die Base Lene erblickte, erschrak sie. Entweder kam Lene, um ihr Vorwürfe zu machen oder um das Versprechen zurückzunehmen, daß sie zu ihr ziehen dürfe. Aber Lene zog unter ihrer Schürze den Kuchen hervor, gab ihn der Base und fragte ganz wie sonst: »Wie geht's Euch heute?«
Zuerst brachte die Base den Kuchen in Sicherheit, dann sagte sie: »Schlecht geht's, und was man so in seinen Schmerzen sagt, das darf man einem auch nicht gleich so übel nehmen.«
»Was war's denn, was habt Ihr gesagt?«
»Ihr wißt's ja schon; ich habe wohl gesehen, daß das Fräulein zu Euch hineingegangen ist.«
»Dann habt Ihr wohl auch gesehen, daß sie gleich wieder herausgekommen ist. Sie hat mir nicht erzählt, was es gegeben hat. Sagt Ihr mir's.«
»Was wird's gegeben haben? Wenn's was gewesen wäre, so hätte sie's wohl gesagt; ich weiß ja auch von nichts.«
Lene merkte, daß nichts aus der alten Frau herauszubringen war. »Ich muß wieder hinüber zu meiner Kleinen,« sagte sie, »es ist ein schönes Kind und wird Euch auch gefallen, wenn Ihr es seht. Wenn Ihr Schmerzen habt und allein seid, so denkt halt daran, daß wir Euch herüberholen in vier Wochen, und wenn die Taufe ist, schicke ich Euch auch vom Kuchen und Wein.« Lene reichte der Bas freundlich die Hand, die nahm sie, und dabei überkam sie doch etwas wie Reue, und sie sagte: »Ihr seid gut gegen mich, Gott lohn's Euch.«
Gretchen hatte keine leeren Ausreden gebraucht, als sie zu Lene gesagt hatte, sie müsse eilends heim, um zu lernen. Sie hatte sich mit Ottilie und Elise in den Stoff geteilt, den sie bis zum Schulschluß bewältigen wollten, und da Elise von manchem erklärte, es sei ihr viel zu schwer, und von vielem, es sei nicht wichtig, so mußten die beiden andern die Hauptsache übernehmen. Ottilie war das ganz recht, da gab es für sie wieder eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Sie hatte mehr zu lernen übernommen als Gretchen und gedachte im stillen, ohne Verabredung, auch noch ein Stück aus dem »Abfall der Niederlande« zu lernen und mit dieser schwierigen Leistung sich hervorzutun.
Gretchen hingegen wollte Elise ordentlich mit heranziehen, und als sie herausfand, daß diese nicht einmal mit dem Wenigen Ernst machte, das sie zu lernen versprochen hatte, redete sie ihr ins Gewissen. »Elise,« sagte sie, »du verdirbst die ganze Freude, wenn du dein Teil nicht lernst. Denke nur, wie schlecht sich das machen wird, wenn alle anderen so viel können und du gar nichts zu sagen weißt. Komm mit mir heim nach der Schule, dann lernen wir zusammen!« Elise machte allerlei Einwände, aber Gretchen gab nicht nach, und nachdem sie erst einmal zusammen gelernt hatten, widerstrebte sie nicht mehr; sie kam öfter, und Gretchen hatte eine so rührende Freude an dem, was Elise zustande brachte, daß diese selbst allmählich der Sache nicht mehr so gleichgültig gegenüberstand. Es war Gretchen gelungen, ihr etwas von dem eigenen Eifer einzublasen.
Inzwischen war der Tag herangekommen, auf den die Taufe festgesetzt war. Auf zwei Uhr zum Kaffee, lautete die Einladung; denn später hatte der Hofkutscher Dienst. So saß Gretchen schon beim Mittagessen in ihrem schwarzen Konfirmationskleid dem Vater gegenüber.
»Sie sieht ganz würdig aus,« sagte Herr Reinwald zu seiner Frau, »man merkt schon von ferne, daß sie Patin werden soll.«
»Weißt du, Vater, daß ich im Wagen abgeholt werde? Herr Bauer hat es angeboten und Lene hat gesagt: ›Er weiß wohl, was sich schickt.‹ Ist das nicht nett?«
»Freilich; wer klug ist, wählt darum sein Patchen immer unter den Kutscherskindern.«
Kurz darauf saß Gretchen in dem Wagen, der vor dem Haus hielt, grüßte zu Franziska hinauf, die zum Fenster heruntersah, und der Gevatter kutschierte.
Gar sauber und freundlich hatte Lene ihre Stube zur Feier hergerichtet. Ein kleines Tischchen, weiß bedeckt, mit Blumenstöcken geschmückt, war zur Taufhandlung gerichtet, und nun kam auch schon der Kirchendiener und brachte das silberne Becken. Die drei Brüder sahen in ihren besten Gewändern ordentlich aus und waren in gehobener Stimmung. Der große Tisch in der Mitte des Zimmers war als Kaffeetisch gedeckt, und an der ganzen Art war wohl zu merken, daß die Hausfrau wußte, was guter Geschmack war. Und nun ging die Türe weit auf und der Hofkutscher Plitt in seinem scharlachroten, mit silbernen Tressen besetzten Anzug trat ein, bescheiden hinter ihm seine einfach gekleidete Frau. Ehe sie noch die Anwesenden begrüßt hatten, kam schon Pfarrer Kern. Lene brachte ihren Täufling herein, der ruhig weiterschlief, und alle scharten sich um den kleinen Tisch, an dem der Geistliche stand.
Der Taufrede, die er nun hielt, war wohl anzumerken, daß der Pfarrer schon vorher gewußt hatte, wer anwesend sein würde; denn sie schien auf jedes einzelne Glied der kleinen Versammlung berechnet. Er sprach vom Vater des Kindchens, dem nach schweren Jahren neues Glück erblüht sei, von der Mutter, die schon in fremdem Dienst sich in treuer Fürsorge für die Tochter bewährt habe, die nun als junge Patin dem Kindchen alle diese Liebe heimgeben wolle. Er wandte sich an die drei Brüder und sagte ihnen, das Schwesterchen werde ihrem Beispiel folgen; wenn es immer Liebes und Gutes von ihnen sähe, so würde es auch lieb und gut werden. – Nach der Ansprache während des Gebets legte Lene das Kind in die Arme des Paten. Der schien aber mehr Erfahrung mit Rossen als mit Wickelkindern zu haben; er blickte immer in die Ferne statt auf das Kind und hielt das Köpfchen so abwärts, daß Lene jeden Augenblick fürchtete, es würde aus seinem Kissen herausrutschen. Da nahm sie es bald wieder von den Armen des Paten und übergab es Gretchen; die hielt es liebevoll an sich, während es zum erstenmal mit ihrem Namen genannt und als Christenkindlein getauft wurde. Die Kleine, die bisher so musterhaft geruht hatte, rührte sich nun, und es war gut, daß die Taufhandlung zu Ende war.
Bald darauf saß die kleine Gesellschaft um den Tisch und Lene schenkte den Kaffee ein. Der Pfarrer saß zwischen den zwei Kutschern, ihm gegenüber Gretchen zwischen den Kutscherfrauen, oben und unten die Buben. Der Pfarrer nickte seinem Gegenüber freundlich zu und sagte: »Ich erinnere mich nicht, schon einmal eine so junge Patin bei der Taufe gehabt zu haben und ebensowenig,« sagte er, sich an den Hofkutscher wendend, »habe ich jemals einen so schönen, scharlachroten Paten gesehen.«
»Das glaube ich,« sagte Plitt, »ich habe es auch schlau anstellen müssen, um die Erlaubnis zu erhalten, daß ich meine herrschaftliche Tracht bei dieser Gelegenheit tragen darf. Es ist für gewöhnlich nicht erlaubt.«
»Das dachte ich mir. Was haben Sie denn für Gründe vorgebracht?«
»Ich habe mir erlaubt, mich gelegentlich einer Ausfahrt an Ihre Majestät die Königin selbst zu wenden. Ich habe gehorsamst vorgebracht, daß doppelte Beziehungen zwischen Ihrer Majestät und der Familie des Täuflings bestehen, nämlich erstens: daß Majestät die Gnade hatte, der Mutter des Kindes, der Frau Lene Bauer, vor einigen Jahren die Denkmünze für langjährige, treue Dienstzeit zu verleihen. Zweitens habe ich mir gehorsamst erlaubt zu unterbreiten –«
»Laß jetzt deine Sprüch',« unterbrach ihn Bauer, »und red' wie unsereins.«
»Und zweitens?« frug der Pfarrer.
»Und zweitens habe ich vorgebracht, daß Fräulein Reinwald, die Patin, schon eine Audienz bei der Prinzessin gehabt habe.«
»Und darauf haben Sie die Erlaubnis bekommen, am Tauffest Ihre Dienstkleidung zu tragen? Sie schmückt auch wirklich unsere Tafel, es wäre ja sonst die ganze Gesellschaft schwarz.«
Frau Plitt, die sich bis dahin mehr schweigend verhalten hatte, wollte jetzt auch noch etwas zur Sache sprechen: »Sein schwarzer Anzug ist nämlich nimmer gut,« sagte sie zum Pfarrer.
Der Pfarrer und sein Gegenüber lächelten, aber der Kutscher wehrte: »Was brauchst du das zu sagen, das gehört doch nicht daher.« Damit machte er's nur schlimmer; denn jetzt geriet seine Frau in Eifer: »Es ist doch aber wahr! Er spiegelt schon!« »So schweig' doch!« rief der Hofkutscher ärgerlich; aber der Pfarrer ging ganz freundlich auf die Worte der Frau ein.
»Ja, ja, Frau Plitt« sagte er, »das schlimme Spiegeln, das kennen wir Pfarrer auch an unseren schwarzen Röcken, wenn das nur nicht wäre.«
Fröhlich ging das Gespräch hin und her, der Kutscher Bauer hatte inzwischen Wein eingeschenkt und der Pfarrer erhob sich jetzt und sagte, er müsse sich verabschieden. Aber in demselben Augenblick wurde stürmisch die Türe aufgerissen und die Buben, die den Kuchen zur Base getragen hatten, stürzten herein mit dem Ruf: »Die Bas stirbt!«
In wenigen Minuten war die ganze fröhliche Gesellschaft auseinandergesprengt. Zuerst ging der Kutscher Bauer, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Man sah ihn durch den Hof eilen, die drei Kinder folgten ihm. Der Pfarrer erbot sich, mit Lene hinaufzugehen zu der Base. »Bleibe du so lange bei dem Kind, Gretchen,« bat Lene. »Ja, sei nur ganz ruhig,« antwortete diese, »ich gehe nicht fort, ehe du wiederkommst.« Der Hofkutscher und seine Frau verabschiedeten sich von Gretchen; er trank ordnungshalber noch die halbvollen Gläser aus und das Ehepaar verließ das Haus.
So blieb Gretchen ganz allein zurück. Es hat etwas Erschütterndes, wenn die Botschaft vom Tode plötzlich eindringt in den Kreis fröhlich feiernder Menschen, und so war auch Gretchen tief ergriffen. Sie stand in Gedanken versunken am Fenster und sah durch den Hof hinüber nach dem Haus, wo die alte Frau ihren letzten Kampf auskämpfte.
Eine Weile war alles still im Haus, dann machte mit leisem Stimmchen das junge Leben seine Ansprüche geltend. Drüben das Erlöschen, hüben das Erwachen. Das kleine Gretchen fing an zu schreien, und das große Gretchen ging in die Kammer, in der ihr Patenkind lag. Sie trug es heraus und wiegte es sanft in den Armen, da gab es sich wieder zufrieden. Sie setzte sich auf ein Kinderstühlchen, hielt die Kleine im Schoß und spielte mit den winzigen Fingerchen.
»Du mein Gretchen, mein Herzblättchen,« sagte sie bewegt vor sich hin, »dich will ich lieb haben, für dich will ich tun, was ich kann.« Sie nahm die kleinen Händchen zwischen die ihrigen und sagte leise: »Lieber Gott, mach uns beide fromm, daß wir beide zu dir in den Himmel kommen.«
Nach einer halben Stunde kam Lene mit verweinten Augen zurück.
»Ist sie wirklich gestorben?« fragte Gretchen.
»Ach ja, sie ist tot, aber wir sind doch noch zu rechter Zeit gekommen, sie hat uns alle noch angeschaut und ein paar Worte gesprochen. Der Herr Pfarrer meinte, es sei wohl ein Herzschlag, der Doktor werde nicht mehr helfen können. Wir haben aber doch nach ihm geschickt, aber bis er gekommen ist, war alles vorbei.«
»Es ist doch traurig, daß sie gerade am Tauftag gestorben ist.«
»Ich kann mir schon denken, wie das gekommen ist,« sagte Lene. »Sie hat heute morgen zu mir gesagt: ›Dem Tauftag zu Ehren könntet Ihr mir wohl ein Schnäpschen holen.‹ Da wollte ich auch nicht Nein sagen und habe es ihr gebracht. Nachher aber hat sie zu jedem von den Buben ebenso gesagt, und jeder hat ihr eins geholt, und sie hat alles getrunken, und das war zu viel.«
»Wie schrecklich, so zu sterben!« sagte Gretchen. »Ach, Lene, ich bin doch froh, daß sie nicht zu Euch gezogen ist.«
»Und ich bin froh, daß ich es ihr doch noch angeboten habe, und dafür war sie mir auch dankbar.« Gretchen entgegnete nichts; aber sie hatte über diese Dankbarkeit so ihre eigenen Gedanken.
»Gretchen, deine Mutter hat mich damals überredet, den Stuhl hinüberzubringen, und das danke ich ihr. Hätte ich mich nicht um die arme Person angenommen, so müßte ich mir jetzt bittere Vorwürfe machen.«
Lene drückte ihr Kindchen ans Herz und sah wieder fröhlich aus den verweinten Augen.
Zwei Tage später waren dieselben Menschen, die um die Wiege gestanden hatten, um den Sarg der alten Frau versammelt.