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Neunzehntes Kapitel
Er will nicht mehr

Zato, der Orang, erwachte aus langem Betäubungsschlaf.

Als Yppa gewahrte, daß ihr Gatte sich zu regen begann, barg sie Tikki fester in ihren Armen und flüchtete in die fernste Ecke des Käfigs. Viele Stunden hatte sie angstvoll auf Zatos Munterwerden gelauert. Sie fürchtete eine Gewalttat, sie war oft und oft schon bei dem Gedanken erschrocken, Zato werde ihr den kleinen Sohn wieder entreißen, werde in einem Wutausbruch über sie herfallen und sie mißhandeln.

Jetzt hatte sich Zato geregt. Yppa war geflohen, so weit sie konnte, und saß nun zitternd in die Ecke gekauert, guckte aus halbverschlossenen, blinzelnden Augen scheu zu dem am Boden Ausgestreckten hinüber. Ihre Arme, ihre Hände versteckten Tikki, so gut es ging.

Warum hatte man Zato nicht entfernt? dachte sie. Warum nicht die Wand vorgeschoben, die ihn verborgen hätte, wie früher, als Tikki zur Welt kam?

Zato dort drüben stöhnte leise. Nach einer Weile griffen seine Arme langsam und des Zieles unsicher in die Luft.

Dann richtete er sich auf.

Mit Augen, vor denen noch alles verschleiert zu schweben schien, mit den verhängten Augen eines Trunkenen oder Schlafsüchtigen stierte er vor sich hin.

Stunde um Stunde verharrte er so.

Er rührte sich nicht, als der Wärter kam und ihm Früchte vorwarf. Er blieb ohne Bewegung, als der Direktor herantrat und durch das Gitter mit ihm redete.

»Na, mein Bursche,« sagte der Direktor freundlich, »ausgeschlafen? Gut geruht?«

Zato saß da, als habe er nichts gehört und nichts gesehen.

»Du mußt verstehen, mein Freund,« fuhr der Direktor fort, »das war notwendig, damit dein Söhnchen nicht verhungert ... Du warst so eigensinnig ... es gab kein anderes Mittel ... Jetzt sei nett zu deiner Familie und wir werden zu dir nett sein.« Der Direktor wandte sich an den Wärter: »Gehen wir. Über Nacht wird er schon frischer werden. Auch ein Mensch hat einen verdösten Kopf, wenn er aus so tiefem und langem Veronaltaumel aufwacht.«

Yppa jedoch bebte vor der Nacht. Ihr war es eine furchtbare Gewißheit, daß Zato nur deshalb so still und teilnahmslos dasitze, weil er sich verstellte und beherrschte. Sie fühlte sich voll Grauen überzeugt, Zato erwarte nur die Finsternis und das Alleinsein mit ihr. Dann wird er über sie, über das Kind herstürzen, wird sie erdrosseln, sicherlich den armen Tikki umbringen. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, und sie nahm es als winzigen Trost, daß Tikki an ihrer Brust schlummerte, also verursachte er keinen Lärm, der Zato reizen könnte.

Vom Einbruch der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung verharrte sie zuerst in einer Panik, die ihr den Atem raubte, dann in immer schlaffer und schlaffer werdender Bangigkeit.

Zato hatte seine Haltung kein einziges Mal geändert. Kein Laut von ihm war zu hören.

Als das erste, schwache Frühlicht annähernd erlaubte, etwas zu sehen, blinzelte Yppa zu dem Gatten hinüber. Er saß an seinem Platz und rührte sich nicht. Als es heller wurde und der Sonnenaufgang bevorstand, wagte Yppa behutsam ihren Kopf zu wenden und sah Zato mit heißer Neugier an. Sein Antlitz war ihm zur Brust niedergesunken. Er hielt, ganz nach der Art betrübter Orangs, beide Hände über den Scheitel gelegt. Es schien, als schlafe er. Doch Yppa wußte, daß Zato wach sei.

Sie war nun schmerzhaft müde. In dem Zustand von totaler Erschöpfung, der sie umfangen hielt, blieb ihr keine Kraft, sich zu ängstigen. Ihr war es vollkommen gleich, was mit ihr oder mit Tikki geschehen werde.

So schlich der Vormittag hin und der halbe Nachmittag.

Tikki wurde munter, begann zu spielen und Yppa ließ ihn gewähren.

Als sie bemerkt hatte, daß der Kleine den Vater mied, gab sie ihn frei.

Die zweite Nacht verstrich, ohne daß sich etwas änderte.

Zato schien tiefer und tiefer in sich zu versinken, nahm von der Gegenwart Yppas, nahm von Tikki nicht die geringste Kenntnis. Das Obst, das ihm vorgeworfen worden war, lag welk und verdorben. Er hatte es keines Blickes gewürdigt.

Mit der Zeit erregte sein Zustand die Sorge des Direktors. Der stand lange vor dem Gitter, redete gütige Worte zu dem Orang. Doch die beiden blieben innerlich zu weltenfern von einander. Zato hörte den Menschen nicht und wenn er ihn hörte, verstand er ihn nicht. Er kümmerte sich nicht um ihn.

Der Direktor breitete kostbare, verlockende Früchte vor dem Orang aus. Zato ließ alles unberührt.

Einmal trat Yppa zaghaft und zärtlich zu Zato heran. Sie hielt ihm Tikki hin. Zaghaft und opferwillig.

Zato rührte sich nicht.

»Tikki ist da ... bei dir,« flüsterte sie, »Tikki, den du so sehr liebst ...«

Vergebens. Sie redete zu tauben Ohren.

Der Kleine widerstrebte heftig, scheute des Vaters Nähe, klammerte sich an die Mutter mit allen Zeichen des Entsetzens.

Nach Stunden ging Yppa wieder zu dem Reglosen, ließ sich an seiner Seite nieder, schlang ihm ihren Arm um die Schulter und saß so ganz still neben ihm. Die Erstarrung Zatos löste sich keine Sekunde. Yppa hätte ebenso einen Holzklotz umfangen können. Ihr wurde bange. Sie griff nach dem Obst, hob Stück für Stück vom Boden und hielt es Zato vor den Mund. Er wich nicht aus, er wehrte sie nicht ab. Er war unzugänglich, hart und fremd, war leblos wie eine Wand. Yppa begann ein wenig zu essen, um seine Lust zu erregen. Er sah das gar nicht.

Diese Nacht schlief sie bei ihm, drückte ihren Leib sanft an den seinigen, streichelte, liebkoste ihn. Doch sie bekam kein Zeichen der Erwiderung, nicht einmal das kleinste Zeichen, daß er ihrer gewahr wurde. Ihre sanften Bitten blieben ohne Antwort. Nur seiner einen Körperseite konnte sie habhaft werden, nur an seine Rippe, an seine Lende sich schmiegen. Er blieb in seiner Haltung. Sitzend, die Hände auf der Stirne, das Haupt tief zur Brust gesenkt.

Den andern Tag ereignete sich eine Szene, deren Anblick Yppas Grauen erregte. Selbst der Direktor erschrak. Er stand mit Dr. Wollet vor dem Gitter, hatte feines Obst gebracht und redete wieder voll Milde.

Plötzlich erhob sich Zato. Ganz langsam regte er die Glieder. Beinahe feierlich. Seine Augen richteten sich auf den Direktor. Seine großen, dunklen Augen, die auch sonst immer traurig schienen. Aber was für einen Ausdruck hatten sie jetzt! Dieser Blick voll tiefster Schmerzen, voll Märtyrerdulden, dieser Blick des Abschiednehmens, der schon von außerhalb des Daseins, schon aus fernem Jenseits herüberzuglühen schien, erschütterte die zwei Menschen, die ihn empfingen.

Sie schwiegen. Dr. Wollet würgte Tränen nieder, die ihm aufstiegen.

Zato nahm eine Banane auf und schälte sie. Langsam. Feierlich.

»Gott sei Dank,« sagte der Direktor ganz leise, »er wird essen ... endlich.«

Ebenso leise, mit vor Rührung erstickter Stimme, antwortete Dr. Wollet: »Er wird nicht essen.«

Zato führte die Banane zum Mund, dann zerbrach und zerdrückte er sie und ließ sie zu Boden fallen. Er nahm Trauben auf, hielt sie an seine Lippen, als wollte er sie küssen. Dann schloß er seine Faust und zerquetschte die Beeren, daß ihm der Saft durch die Finger tropfte.

Dazu immer dieser Blick, der erfüllt blieb von allem Weh und allem Wissen.

Ein Zittern rann durch Zatos riesenhaften Leib.

Dr. Wollet drehte sich weg, konnte es nicht mitansehen: »Er wird nie mehr essen!« rief er halblaut.

»Unsinn,« entgegnete der Direktor, »selbst der Mensch muß essen, auch wenn er noch so großen Kummer hat! Wie erst ein Tier!«

»Aber, aber,« stieß Dr. Wollet hervor, »wie können Sie das sagen! Denken Sie an die Hunde, die keinen Bissen mehr essen, wenn ihr Herr gestorben ist, und die ihm in den Tod folgen.«

»Hören Sie auf,« unterbrach ihn der Direktor, »ich kenne Ihr Steckenpferd! Das Tier steht höher als der Mensch! Trotz meiner Tierliebe werden Sie mich nie ...«

»Keineswegs höher!« fiel ihm nun wieder Doktor Wollet ins Wort. »Keineswegs höher ... aber auch nicht tiefer! Nicht viel tiefer! Kaum merklich! Lachen Sie nicht! Die niedrigen Eigenschaften bei uns und bei ihnen wiegen einander auf. Und der menschliche Geist? Der erhabene, göttergleiche – es will doch was bedeuten, daß die Tiere dagegen keine Lüge kennen, daß sie aufrichtig sind und ohne jede Schuld.«

Der Direktor hob die Hände, beschwichtigend und zur Abwehr: »Sie galoppieren ins Absurde auf Ihrem Steckenpferd ... Sie müssen ...«

»Lachen Sie nicht!« Dr. Wollet wurde heftig: »Wie können Sie das da erblicken ... und lachen?« Er wies mit einem Kopfnicken in den Käfig.

»Ich lache nicht!« verwahrte sich der Direktor. »Ich habe schon vor Ihnen bemerkt, daß die Sache ernst ist!«

Zato saß nun zusammengekauert da und barg das Haupt in den Händen.

»Solch eine wilde Entschlossenheit, sich aufzugeben,« fuhr Dr. Wollet eindringlich fort, »solch einen grimmigen, andauernden Verzicht auf das eigene Leben finden Sie bei Menschen nur ganz selten ... und findet man's, dann sind es ausnahmsweise elementare Naturen!«

Der Direktor schlug zurück: »Als ob das bei den Tieren so alltäglich wäre!«

»Der ganze Garten hier,« rief Dr. Wollet zornig, »der ganze Garten hier ist voll elementarer, tragischer Figuren! Die ganze Welt ist erfüllt von Tragödien der stummen Geschöpfe, wo immer der Mensch sich des Tieres bemächtigt ...«

Das Achselzucken des Direktors verriet seine Ungeduld.

Dr. Wollet schwieg ein paar Sekunden. Dann sprach er gefaßt in ruhigerem Ton weiter und nur am häufigen Kippen seiner Stimme verriet sich, wie erregt er war.

»Dieser Orang,« sagte er, »den man betäubt und gefangen, den man aus seinem Dschungel hierher geschleppt hat in das schreckliche Gefängnis aus Stein und Eisen ... dieser Orang hatte einen winzigen Rest von Freude, vielleicht von Glück, – jedenfalls, er hatte einen schwachen Trost für alles Verlorene hier gefunden – seine Gefährtin – sein Kind –«

»Das wäre bei ihm verhungert ...« warf der Direktor dazwischen.

»Vielleicht ... wer weiß ... aber er ist wieder betäubt worden, ihm ist sein bißchen Lebensmut, ihm ist sein winziges Vertrauen entschwunden ... ist weg, wie ein kleiner Tropfen Wasser, den Sie mit dem Ärmel spurlos wegwischen ...«

»Das geschah zum Besten des Kleinen, zum Besten der Mutter,« wandte nervös der Direktor ein, »und es geschah zu seinem eigenen Besten, daß wir ihm Veronal gaben.«

»Möglich! Aber er begreift nichts von Ihren Maßregeln, begreift nichts von Veronal. Er schert sich nicht um das, was Sie sein Bestes nennen! Er hat genug von der rätselhaften Tücke, die ihn elend macht. Und jetzt will er nicht mehr.«

Annähernd behielt Dr. Wollet Recht. Zato wollte nicht mehr.

Weder Yppa mit all ihren Zärtlichkeiten und flehentlichen Bitten war für ihn vorhanden, noch Tikki, der possierlich umhersprang. Zato nahm keine Nahrung, blieb fast immer auf seinem Platz und lag eines Tages ausgestreckt, erkaltet am Boden. Ein friedlich Schlafender.

Yppa war mit ihrem Jungen allein.


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