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Sechzehntes Kapitel
Kampf ohne Abschied

Hella, die schöne Löwin, schritt ruhelos in ihrem Käfig umher.

Burri und Barri, die kleinen Söhne, wußten nicht, warum die Mutter solche Erregung zeigte.

Barri sprang scherzend an ihrem Hals hoch und biß sich unter dem Kinn fest. Hella schüttelte sich leicht im Gehen, Barri fiel zu Boden, kugelte zur Seite, ohne daß Hella seiner achtete.

Burri hatte eine besondere Geschicklichkeit, sich der Schreitenden in den Weg zu legen, sich im allerletzten Moment dicht vor ihre Füße zu schleudern. Sie mußte innehalten, wenn sie nicht auf ihn treten wollte. Immer gelang dieses Manöver. Die Löwin glitt augenblicklich nieder, um sich mit holder spielerischer Liebkosung dem anmutigen Treiben der Kinder preiszugeben.

Heute aber wich sie in geschmeidigem Wenden des Körpers Burri aus. Das nächste Mal sprang sie über ihn hinweg, so sanft, so behutsam und mühelos, als sei in ihrer großen, kraftvollen Gestalt kaum Schwere.

Dann setzte sie ihren Weg fort, unruhig, nervös, bedrückt und gereizt.

»Sie sind nicht mehr da ... ich bin allein«, dachte sie.

Und sie dachte: »Was fang' ich an, wenn mir das wieder geschieht? Was? Wenn man sie mir wieder nimmt?« Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Burri und Barri, meine Lieblinge!« dachte sie weiter. »Nie hab' ich die anderen Kinder, die man mir stahl, vergessen, nie! Nur daß mir Burri und Barri jetzt ein Trost waren, ein Trost und eine Freude. Oh! Was für eine Freude! Oh! Was für ein ungeheures Glück!«

Sie grübelte: »Wenn die zwei Kinder mir jetzt ein Gram werden, eine Verzweiflung? Wie könnte ich das überleben? Wäre es nicht besser, ich versuche, mich ihrer jetzt schon zu entwöhnen? Jetzt, solange sie noch bei mir sind?«

Sorgenvoll wanderte sie umher, längs des Außengitters, dann die eine Wand hin bis zur Rückwand, wo die eiserne verschlossene Tür war, dann auf der anderen Seite zurück an das Außengitter.

Unaufhörlich.

Immer den gleichen Weg.

Burri und Barri hatten es aufgegeben, die Mutter ins Spiel zu ziehen.

Sie kümmerten sich überhaupt nicht um die düstere Stimmung der Mutter, achteten gar nicht mehr auf Hella. Sie war da, war bei ihnen. Das genügte.

Beide balgten miteinander in der Mitte des Käfigs, kugelten pfotenschlagend umher, sprangen hoch, rollten zum Spaß ineinander verbissen auf dem Boden.

Sie sahen entzückend aus.

Hella warf im Schreiten kurze Blicke zu ihnen. Kurze, liebende, bezauberte Blicke.

Plötzlich kam es wie ein Rausch über die Löwin: »Ich hab' sie noch! Ich hab' sie noch! Vielleicht darf ich ... nein ... gewiß werde ich sie behalten!«

Da lag sie auch schon am Boden, da krabbelten auch schon Barri und Burri an ihren Flanken, schlugen ihr die kleinen, samtigen Pfoten in die Augen, um die Ohren, überpurzelten sich auf ihrem Rücken, bliesen ihren heißen, keuchenden Atem lachend, jubelnd in Hellas Antlitz, daß ihr die Schnurrhaare bebten.

Hella aber schnurrte und gurrte laut vor Wonne.

Ehe sie ihn recht bemerkten, stand der Wärter am Außengitter.

Jetzt klopfte er an das Eisen und schrie: »Holla! Heh!«

Wütend fuhr die Löwin auf, sauste mit einem einzigen Sprung zu ihm, stellte sich quer vor die Stäbe und schlug mit der Pranke nach dem Störenfried.

Der Mann trat rasch und erschrocken zurück. »Bestie!« murmelte er. »Beinahe hätt' sie mich erwischt!«

Grollend blieb die Löwin ans Gitter gepreßt, ließ den Mann nicht aus den Augen.

Er ging an ihr vorbei, um in den Käfig schauen zu können. Wie der Blitz machte die Löwin kehrt, daß er sich wieder ihrem fauchend geöffneten Rachen, wieder ihren wutsprühenden Blicken gegenüber befand.

Er wollte sie beruhigen. »Na, na, Alte,« sagte er sanft, »warum denn heute so unwirsch? Was ist denn los mit dir? Na, Alte, sei nett. Wir sind doch sonst immer gute Freunde ...«

Er genierte sich ein wenig vor den Zuschauern, die umherstanden und die auf das eigentümlich kurze, drohende Brüllen herbeigerannt kamen.

Sein Zureden half jedoch gar nichts. Die Löwin belauerte jede seiner Bewegungen, sie wurde zorniger, wilder, sie knurrte ununterbrochen.

Das war nicht die Stunde, um die man die Kleinen zum Spaziergang holte. Die Löwin fühlte es, sie hatte seit dem frühen Morgen schon Unheil geahnt, sie war nervös, war erregt gewesen und nun stand der Wärter da, zur ungewohnten Stunde.

Als er den langen Eisenstab vorsichtig in den Käfig stecken wollte, hieb die Löwin ihre Pranken darauf, biß in das kalte, harte Metall und hielt es fest.

»Laß, sei gut, Alte,« beschwichtigte sie der Mann, »laß doch!« Und ein Schuldbewußtsein regte sich in ihm. Er mochte das prächtige Tier gerne leiden, hatte dessen Zutrauen besessen, selbst dann noch, als die Jungen zur Welt kamen und Hella niemanden in ihrer Nähe duldete. Ihm zeigte sie sich sanft, wenn sie dalag und ihre Kleinen sättigte, die noch blind waren. Dem Wärter war sie dankbar, weil er das Gitter mit Brettern verlegte, um Hella und ihren Wurf vor der Neugier der Menge zu schützen. Sie schnurrte behaglich, wenn er zu ihr kam. Und in dem Mann war ein Empfinden wach von Ehrfurcht und Rührung vor Hellas Mutterschaft.

Erst seit er Burri und Barri täglich von ihr wegzulocken begann, erst als er Tag für Tag mit den zwei Löwenjungen abzog, stundenlang fern blieb, erst da hatte sich Hellas Freundschaft mehr und mehr gelockert. Die Erinnerung an die vorigen Male wachte in Hella auf. Sie dachte immer heftiger daran, wie sie zweimal ihre Kinder verloren hatte, auf Nimmerwiedersehen, und ihr Vertrauen zu diesem Wärter war nun auch dahingeschwunden.

Sie hielt mit Pranken und Zähnen den Eisenstab fest. Doch unter dem starken Stoß des Mannes rutschte die glatte Stange an ihr vorbei.

Hella brüllte kurz und warf sich wieder auf den Stab, der aber jetzt weiterglitt.

Der Mann wandte sich an das Publikum, dem er, mühsam lächelnd, erklärte: »Ich weiß wirklich nicht, was mit ihr los ist! So'n Tier hat eben Launen, genau wie'n Mensch. Na, und die Damen besonders, was die für Launen haben. Da hat's der Mann eben schwer. Das wissen Sie ja selbst, meine Herrschaften, nicht wahr?«

Ein dünnes Gelächter erhob sich, halb echt, halb aus höflicher Bereitwilligkeit. Dazwischen tönte das wütende Brüllen, Fauchen und Knurren der verzweifelten Mutter.

»Diese Dame da ist wahrscheinlich heute mit dem linken Fuß aufgestanden«, sagte der Wärter noch, und weil neues Lachen erscholl, fügte er hinzu: »Oder sie hat Ärger mit den Kleinen gehabt.«

Es war ihm aber nicht wohl dabei.

Er versuchte immer wieder, den Schieber der Trennungswand zu öffnen, damit Burri und Barri hinaus in den kleinen leeren Nebenkäfig laufen könnten.

Das gab einen richtigen Kampf zwischen ihm und der Löwin.

Der Mann geriet nun gleichfalls in Rage. Einmal vollführte er mit der Eisenstange einen kräftigen Stoß gegen die Löwin und traf sie an der Bauchflanke. Rasch aufjaulend knickte sie zusammen. Er benützte das gewonnene Tempo und schob schnell das Türchen zur Seite, so daß sich ein kleiner Spalt ergab.

Nun aber begann die Schwierigkeit erst recht.

Burri und Barri, die sonst immer so gern gehorchten, wollten heute nicht heraus. Sie hatten sich in die fernste Ecke des Käfigs zusammengeknäult, erschreckt und gewarnt durch das Toben der Mutter.

Der Wärter mußte sie aufstöbern, mußte dabei die Löwin abwehren. Er konnte sich nicht helfen, er rannte den eisernen Stab einige Male gegen den Leib, einmal sogar gegen die Nase der Löwin.

Ihr wiederholter Schmerzlaut hatte sonderbare Wirkung.

Burri und Barri gingen miteinander still zur Seitenwand und schlüpften plötzlich eilig durch die Spalte.

Als der Wärter sie aus dem Nebenkäfig holte, verhielten sie sich sanft und ergeben. Doch kaum hatte er sie ein paar Schritte weit getragen, kratzten und bissen sie mit solch kindlichem Zorneifer, daß er sie los und ins Gras lassen mußte.

Die Löwin war von dem Entschluß ihrer Kinder überrascht worden, sie wollte sich als Hindernis vor die Mauerspalte werfen, aber Burri und Barri befanden sich schon jenseits im kleinen Käfig und die Öffnung an der Wand klappte zu.

Der Wärter kümmerte sich nicht mehr um Hella. Sie hörte ihn, wie er nebenan mit den Kleinen sprach.

Sie sah ihre Kinder nicht mehr.

Der Kampf war vorbei und war vergebens gewesen. Wie immer.

Hella brüllte und das klang wie ein großes Stöhnen. Das hörte sich an, wie wenn wildes, zorniges Leid ihr die Brust tief innen zerrisse.

Wieder und wieder drang dieser tobende Klagelaut aus ihr hervor. Aber niemand beachtete sie jetzt. Die Leute rannten hinter dem Wärter her. Sie umgaben ihn so dicht, daß sie der Löwin die Aussicht auf die davonziehenden Kinder deckten. Sie mochte brüllen, klagen, stöhnen. Das war nun für keinen Menschen interessant.

Hella setzte sich zu Boden. Die Vorderpfoten gerade hingestreckt. Das Haupt erhoben, den Blick in die Richtung, in der sich Burri und Barri entfernt hatten.

Sie schwieg jetzt.

Ihre Weichen flogen, bewegt vom fieberhaften Zug des Atems, die Zunge lappte weit heraus.

Hella wartete. Stunde um Stunde. Wartete bis zur Erschöpfung. Wartete bis zum Dumpfwerden aller ihrer Sinne. Dazwischen flackerte manchmal schmerzhafte Sehnsucht, flammte brennender Jähzorn, glühte verführerische Hoffnung abwechselnd in ihr auf.

Burri und Barri werden wiederkommen ... werden nicht wiederkommen ... werden wieder bei ihr sein ... werden nicht wieder bei ihr sein ... nicht wieder ... unerträglich das zu erleben ... unerträglich!

Sie wartete. Preisgegeben einem fremden, übermächtigen, rätselhaften Willen, einem erbarmungslosen Schicksal.

Hella wartete. Gebändigt vom Bewußtsein völliger Wehrlosigkeit, gefoltert von wahnsinnig einander widersprechenden Vermutungen, zermartert von Herzweh und von einem dunkeln, fernen, unerklärlichen Schuldgefühl, das sich im Grund ihres Wesens leise meldete.

Als die Zeit, um welche Barri und Burri heimzukehren pflegten, verstrichen war, erhob sich Hella und wanderte im Kreis umher. Ohne Rast. Jaulen der Ungeduld entfuhr ihr. Jeden Augenblick. Jaulen schmerzlich-zärtlicher Bitten, irgendwohin gerichtet, ins Unbekannte. Ihre Aufregung wuchs von Minute zu Minute. Jetzt wanderte sie nicht mehr, lief nicht mehr im Kreis. Sie sprang gegen das Gitter, sie sprang und stieß gegen die Wände. Sie heulte und wimmerte dabei. Sie war toll.

Dämmerung sank nieder. Die Amseln, die noch oben auf den letzten Zweigspitzen der Baumwipfel und auf den höchsten Firsten der Dächer ihr Abendlied gesungen hatten, verstummten.

Der Garten war menschenleer. Es wurde finster.

Hella sprang nun und sprang. Bald hierhin, bald dorthin. Ihre Kehle war beintrocken, ein heißer, trockener Streifen zog sich von ihrem Rachen über den Gaumen bis zum Rand der Lippen. Ihre Nase war gleichfalls trocken und heiß.

Plötzlich sagte eine feine, traurige Stimme: »Sie sind fort ...«

Hella stand augenblicklich still und horchte.

Die Stimme wiederholte: »Sie sind fort ...«

Es war Vasta, die Maus.

»Ich hab' sie gesehen,« berichtete Vasta, »dort bei dem großen Haus, wo Er wohnt, der Herr des Gartens.«

Hella stand, lauschte und ein Zittern rann über ihren Leib, rann über Schultern und Beine nieder.

»Man hat sie in weiße, frische Hölzer verpackt ... ja, beide zusammen ... und ein Wagen hat sie weggeführt. Ja. Ewig schade um die lieben Kinder ... ewig schade.«

Lautlos brach die Löwin zusammen.


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