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Die Frühsonne leuchtete in das Haus der Orangs. Helle Sonne des Maimonds. Stark, warm und Blüten weckend.
Yppa saß und hielt Tikki, ihr Kind, an der Brust.
Von der Sonne kam nur das helle Licht zu Yppa herein, kam durch die Scheiben des gläsernen Daches, der verglasten Wände. Und war davon in seiner Kraft schon zerbrochen.
Hier innen lag der feuchte Dunst, den die jetzt freilich schon etwas gedrosselte Heizung erzeugte. Damit wollte man die Schwüle des Dschungels nachahmen und ersetzen. Doch der leere Raum, von festen Gitterstangen umhegt, glich nicht entfernt dem Dschungel und blieb mit all seiner Größe nur ein enger Käfig. Die dumpfe Wärme bewirkte bloß, daß weder Yppa noch der zarte kleine Tikki frieren mußten. Sonst hatte die Luft, die ja gleichfalls eingesperrt war, kaum etwas mit der Tropenhitze des heimatlichen Urwalds gemein.
Die Sonne aber, ja, Yppa kannte einen tieferen Glanz, ein dolchartig blitzendes Leuchten, das ihr einst in fernen Tagen Sonne gewesen. Was sollte ihr nun der blasse Schimmer?
Allein jetzt beachtete Yppa diese Unterschiede gar nicht. Ein Gefühl davon saß ihr in den Nerven, wühlte ihr im Blut, umschleierte ihre ganze Existenz. Doch selbst dieses Gefühl war jetzt tief verschleiert, so daß sie kaum eine Qual davon litt.
Sie dachte nur an Tikki, den sie in ihren Armen hielt. Sie lebte nur für Tikki. Sie war so glücklich, als es die Schleier, die um ihr Herz lagen, erlaubten.
Zuweilen fiel ihr Zato ein, der Gefährte hier im Käfig, der Gatte, der Vater ihres Tikki.
Er war seit jener Nacht verschwunden, an deren dämmerndem Morgen Tikki geboren wurde.
Daß er in der Nähe weilen müsse, vermutete Yppa, denn sie hatte im Lauf der Tage, im Gang der Nächte manchmal Zatos Witterung gespürt.
Sie wußte nicht, was mit ihm geschehen sei. Darüber sorgte sie sich hie und da, ganz flüchtig, denn ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Kleinen an ihrer Brust. Wenn sie sich jedoch eine Begegnung zwischen Zato und Tikki vorstellte, bekam sie zitternde Angst.
Nun saß sie in nachlässiger Stellung, ließ ihre Blicke träumend umherwandern, während das Kindchen trank. Immer, wenn sie den Kleinen nährte, wenn sie das Saugen seines winzigen Mundes fühlte, geriet sie in einen Dämmerzustand, war so sehr beschwichtigt, daß man beinahe hätte sagen können, sie sei glücklich.
Diesen Eindruck empfing auch Vasta, die Maus, von Yppa, der Mutter.
Vasta kauerte in der winzigen Schrunde, darin sie immer zu hocken pflegte, so oft sie hierher kam.
Yppa hatte die Maus noch nie bemerkt und Vasta hatte noch nie gewagt, Yppa anzureden.
Sie fürchtete die Hände des Orangweibchens, die den entsetzlichen Händen der Menschen so ähnlich schienen. Sie bebte vor diesen Fingern, die so geschickt zugreifen konnten und sicherlich fähig waren, hier in die Mauerritze herein zu langen. Doch heute schaute sie mit den dunklen Stecknadelköpfen ihrer Augen neugierig auf Yppa. Die spinnwebdünnen aber straffen Schnurrhaare der Maus vibrierten nervös, als sie nun endlich ihren ganzen Mut zusammenraffte und Yppa mit der Frage ansprach: »Bist du glücklich?«
Keine Antwort kam.
Yppa hörte wohl, das hatte ein leises Zucken ihres Gesichtes verraten. Sie schwieg.
Vasta wartete eine Weile. Dann flüsterte sie: »Ich hab' gesehen, wie verzweifelt du warst. Du hast mir sehr leid getan ... sehr leid ...«
Die Orang-Mutter hob den Blick zur Glasdecke, während ihre Hände Tikki bedeckten. Es war, als hörte sie nichts.
Die Maus geriet in Eifer: »So lange schaue ich dir zu ... so lange ... ich weiß, daß ich nur gering bin neben dir ... ein Druck deiner Finger kann mich töten ... aber mein Mitgefühl ...« Sie verstummte erschrocken.
Die Innenwand hatte sich lautlos verschoben.
Zato war eingetreten. Groß, gewaltig und in seiner Haltung unergründlich geheimnisvoll.
Yppa regte sich nicht.
Auch Vasta, von Neugier überwältigt, wich nicht von ihrem Platz.
Die Innentüre öffnete sich noch weiter, tauchte in die Mauer. Der Käfig lag in seinem ganzen Umfang wieder frei vor den Blicken.
Mit den Armen griff Zato in die kahlen Äste des starken, toten Baumes, schwang sich vorwärts und stand nun vor Yppa. Er blickte sie an. Vielleicht war Zärtlichkeit in seinen Augen und in seinen Mienen. Nur er selbst wußte das und es mag sein, daß auch Yppa etwas davon erriet.
Sie rührte sich nicht. Doch sie schlug den Blick nieder.
Zato setzte sich ihr gegenüber. Ganz still. So blieb er eine Stunde, zwei Stunden.
Das dauerte der unruhigen kleinen Vasta zu lange und sie schlüpfte davon. Sie war ein wenig gekränkt, denn so verächtliche Abweisung wie von Yppa hatte sie noch nie erfahren.
Es dauerte Stunden, bis Yppa die Fassung erlangte, ihrem Gatten in die Augen zu schauen.
Nun fürchtete sie nichts mehr für Tikki und für sich.
Eine ganze Weile verharrten die beiden so einander gegenüber. Taub allen Lockrufen der Wärter, dem dargebotenen Obst und anderen Leckerbissen gleichgültig, wie blind.
Zato raffte ein wenig von dem Stroh auf, das den Boden deckte, zog die Halme in achtlosem Spiel durch die Finger und ließ sie wieder fallen.
Ebenso verfuhr Yppa. Doch nur mit einer Hand. In der anderen hielt sie Tikki fest. Der schlief.
Endlich, gegen Mittag, als das Haus, das den Käfig barg, von Besuchern leer wurde, nahm Zato eine der Bananen auf, die man hereingeworfen hatte, und reichte sie Yppa. Mit langsamer Gebärde. Beinahe feierlich.
Langsam und feierlich empfing Yppa die Frucht.
Da erwachte Tikki und kletterte der Mutter auf die Schulter. Unbeholfen, kindlich. Sein Greisenantlitz wendete sich Zato zu und bekam sofort die verzerrte Grimasse maßlosen Erstaunens.
Jetzt griff Zato nach ihm. Behutsam. Hob ihn von der Mutter weg, die es ruhig duldete, hielt den schmalen, mageren Leib wie lehnend in den Händen, neigte sich drüber und liebkoste Tikki, vorsichtig, doch voll leidenschaftlicher Inbrunst.
Nach kurzen Minuten stand Zato auf, hatte den Kleinen in einer Hand dicht bei seinem Gesicht, während er mit der anderen Hand sich in den Ästen stützte und mit einem Riesenschwung die andere, entfernteste Ecke des Käfigs erreichte.
Yppa blieb sitzen, verfolgte nur mit emsigen Beobachterblicken jeden Schritt und jede Gebärde Zatos.
Der saß in seiner Ecke und drehte Tikki mit ausgestreckten Armen, wie man einen Tuchlappen hin- und herwendet, den man untersucht.
Dieses Spiel dauerte und dauerte. Tikki, der gar nichts begriff, schien sich dabei ganz wohl zu fühlen, überließ sich willig den Vaterhänden, hatte Vertrauen zu Zato, der ihn sofort wieder an sein Gesicht hielt, als Tikki seine Ärmchen nach ihm reckte und ihm entgegenstrebte.
Zuletzt freilich wurde Tikki unruhig. Er hatte Hunger, wollte zur Mutter.
Zato ließ ihn nicht frei.
Yppa merkte, daß den Kleinen der Hunger plagte. Sie erhob sich und ging zu ihm. Doch sie war noch nicht dort, als Zato aufsprang und an ihr vorbei die andere Ecke des Käfigs gewann.
Er tat das ganz sanft, gab kein Zeichen von Unmut oder Erregung. Nur eine unbedingte Entschlossenheit sprach sein Gebaren aus. Er wollte Tikki nicht hergeben. Er wollte und wollte nicht.
Eine kurze Zeit ließ ihn Yppa in Ruhe. Dann näherte sie sich ihm. Vergeblich. Schon bei ihren ersten Schritten wechselte Zato den Platz, vollführte geschickt einen Bogen um Yppa und hockte sich, so weit wie möglich entfernt, in eine Ecke.
Dieses Spiel wiederholte sich viele Male. Die beiden gigantischen Orangs wanderten ruhelos im Käfig umher. Beständig aneinander vorbei. Beständig ernst alle beide, gelassen, beinahe feierlich.
Die Leute, die nachmittags gekommen waren, betrachteten diese Vorgänge amüsiert und nahmen sie erheitert wirklich als neckisches Spiel.
Einmal schaute Tikki über die Schulter Zatos zu Yppa, die eben vorbei kam, streckte sehnsüchtig die dünnen Arme nach ihr aus. Zato bedeckte den Kopf des Jungen mit mächtiger, sanfter Hand, barg den Kleinen an der Brust, dicht unter seinem Hals, und flüchtete in eine Ecke.
Die Leute lachten.
»Familien-Idyll«, sagten sie.
Aber das war kein Idyll.
Als man an jenem Abend, an welchem die Geburt bevorstand, Zato durch List von Yppa trennte, hatte auch Zato gewußt, daß die schwere Stunde für Yppa nahe sei. Die beiden waren in Erwartung, in Bangen, in Furcht und Hoffen einander eng verbunden. Dann jedoch sah sich Zato plötzlich allein und wurde davon ganz verstört.
So viel begriff er, daß Yppa daran keine Schuld traf.
So viel wurde ihm in seinem Gefühl deutlich, daß sich Yppa ebenso wie er selbst ganz in jener Gewalt befand, die sie beide hierhergebracht hatte und sie in diesem Käfig gefangen hielt.
Seine Natur war von allem bisher Durchlebten so geknickt, daß er die Vergeblichkeit einer Auflehnung empfand. Er war auch innerlich zu scheu und zu schwächlich geworden, um einen Wutanfall zu bekommen oder sich einem Ausbruch des Zornes hinzugeben.
Sanft und gefügig saß er all die Tage in seiner Einsamkeit. Und wartete.
Manchmal glaubte er, nun sei alles vorbei und er werde Yppa nie mehr sehen. Dann versank er in Traurigkeit.
Augenblicke gab es, da ein leises Quietschen Tikkis das angespannte Horchen Zatos erreichte. Dadurch wurde er aufgemuntert und wartete geduldig.
Geduld, heroische, unendliche Geduld verließ ja die beiden Orangs niemals.
Endlich ließ man Zato wieder in den großen Käfig. Aus dem schmalen Gehäuse, dahin er gelockt und getrieben worden war und wo er, durch eine Mauer getrennt von Yppa, allein war, konnte er wieder in den großen Käfig. Das so lange verschlossene Loch war geöffnet. Zato schlüpfte sofort hindurch. Aber da war noch im großen Käfig die eiserne Türwand, die den Raum in zwei Kammern teilte. Zato stand davor, bebend in Gespanntheit, rührte sich nicht vom Fleck, starrte ununterbrochen auf die kaffeebraune Eisenfläche. Das währte nur kurz. Dann hob sich auch dieses unbarmherzige Hindernis, entschwand spurlos und Zato sah Yppa, sah, zum erstenmal, seinen Sohn Tikki.
Jetzt ergriff er ihn, jetzt nahm er Tikki an sich, jetzt erfüllte ihn nur eine einzige Absicht: was immer auch geschehen mag, von Tikki würden sie ihn nie mehr trennen können, nie mehr, den behielt er ganz bei sich, den ließ er keine einzige Sekunde aus den Armen.
Yppa gab es auf, geraden Wegs zu Zato hinzugehen. An einen offenen Kampf mit ihm dachte sie keinen Augenblick. Sie wußte, Zato war der Stärkere. Außerdem sagte ihr der Instinkt, daß sie Tikki in die schwerste Gefahr bringe, wenn sie den Versuch unternahm, sich seiner gewaltsam zu bemächtigen.
Nun rückte sie ganz langsam, rückte, wie sie glaubte, kaum merklich in Zatos Nähe. Aber er merkte es dennoch. Er ließ sie immer auf eine bestimmte Distanz herankommen und zeigte ihr dann, daß alles vergeblich blieb, indem er wieder entwich.
Yppa blieb nun sitzen und barg verzweifelt ihr Gesicht in die Hände.
Wenn es doch endlich Nacht würde! Wenn wir allein wären!, dachte Zato.
Sie blieben nicht allein.
Dämmerung sank allmählich nieder und die Besucher mußten das Haus der Orangs, mußten den Garten verlassen.
Trotzdem blieben Zato und Yppa nicht allein.
Der Wärter hatte längst schon bemerkt, was vorging, hatte längst schon den Direktor geholt. Nun standen die zwei Männer vor dem Gitter.
»Sei gut, mein Lieber,« redete der Direktor in Schmeicheltönen, »sei nett, ja? Du bist so ein sanfter Bursche, ja ... und du hast dein Söhnchen lieb ... ja ... man sieht's, wie sehr du ihn liebst, aber, begreife doch, von deiner Liebe kann der Kleine nicht leben. Er verhungert. Er muß zur Mutter. Sei nett, mein Guter ... laß das Kind zur Mutter ...«
Der Direktor unterbrach sich, wartete ein Weilchen und begann von neuem. Er sprach viel, er sprach zärtlich.
Das Mißtrauen Zatos wuchs mit jedem Wort, das er hörte, ohne es zu verstehen. Höher und höher stieg das Mißtrauen Zatos.
Er drehte den zwei Menschen, die draußen vor dem Gitter standen, seinen Rücken zu, kehrte sich mit dem Gesicht ganz gegen die Ecke, verhielt sich still und lauerte.
»Wenn wir dem Kerl eine Schlinge ...« meinte der Wärter.
»Unmöglich!« erwiderte der Direktor. »Er würde das Junge schwer verletzen oder töten.« Und auf einen zweifelnden Blick des Wärters sagte er: »O nein ... keineswegs absichtlich ... nur in der ersten Abwehr, wenn er die Schlinge spürt ... nur mit einer Zufallsbewegung ...«
»Man müßte seine Hände fangen ...« riet der Wärter.
»Nicht zu machen.« Der Direktor winkte ab. »Das wäre etwas, wenn es gleich beim erstenmal gelingen könnte. Und wer garantiert mir dafür?«
Er schritt zur Türe. »Räumen Sie jedes Stückchen Obst aus dem Käfig und passen Sie unterdessen gut auf, aber verhalten Sie sich ruhig, Andreas.«
Damit ging er. Inzwischen holte Andreas die Trauben, Orangen und Bananen, die im Stroh umherlagen, mit der langgestielten Holzschaufel sacht hervor.
Als der Direktor wieder das Haus der Orangs betrat, saß Zato, umgewendet, an die Gitterstangen gelehnt, hielt Tikki unter sein Kinn und schien ganz in sich versunken. Tikki hing vollständig erschöpft, halb ohnmächtig in den Händen seines Vaters. Zato hatte alles wahrgenommen. Der Eindruck versunkener Schläfrigkeit, den er übte, war Täuschung. Niemals lauerte sein Mißtrauen so angespannt wie jetzt. Doch er hatte Hunger und sein Magen krampfte sich vor Leere zusammen.
Der Direktor trug ein Bündel frischer Bananen.
Ohne eine Silbe zu sprechen, trat er an das Gitter und reichte Zato eine der gelben Früchte. Er klopfte leicht damit an die Eisenstange und hielt dann die Banane hoch.
»Ach – Essen!« dachte Zato. »Ja – Essen ... dann werden wir allein bleiben ... dann ...«
Er reckte den einen Arm aus, ergriff die Banane, schälte sie mit Fingern und Zähnen, verschlang sie auf einen einzigen Bissen, reckte wieder den Arm und dieses stumme Begehren sagte: »Noch!«
Eine zweite aß er, eine dritte.
Plötzlich hatte sein Arm keine Kraft mehr, fiel, kaum erhoben, wie gelähmt herab. Auch die Hand, die Tikki hielt, löste sich und sank nieder. Zatos Haupt neigte sich tief zur Brust. Seine ganze Gestalt sackte in sich zusammen, glitt von der Wand, daran sie lehnte, und Zato lag hingestreckt in tiefer Bewußtlosigkeit auf dem Stroh.
Der Direktor flüsterte: »Es hat gewirkt! Höchste Zeit!«
Er wies mit dem nur wenig erhobenen Finger zu Tikki hin.
Der war apathisch neben Zato ins Stroh gerollt und bewegte sich kaum. Er schien matt vor Hunger und halb erstickt von Zatos Liebkosungen.
Jetzt schlich Yppa herbei. Vorsichtig, angstvoll und getrieben von Muttersorge. Sie nahm Tikki, behutsam, zögernd, als fürchte sie, Zato werde sich erheben und ihr den Kleinen entreißen.
Als nichts dergleichen geschah, seufzte sie erleichtert, barg das Junge an ihrem Herzen. Und flüchtete.