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Fünftes Kapitel.
Das Wrack

Es lag eine poetische Wahrheit in jener Bemerkung der Mrs. Storr, daß ein einsamer Gegenstand, dem man inmitten des weiten Meeres begegnet, sei es ein Schiff unter vollen Segeln, sei es ein Wrack oder ein treibendes Boot, das ganze Bild der See insofern verändert, als er demselben einen melancholischen Charakter verleiht, weil die unermeßliche Oede dadurch erst recht zum Ausdruck gelangt.

Als die acht Glasenschläge durch das Schiff vibrierten, war das Wrack noch ungefähr drei Seemeilen entfernt.

Das große Teleskop ging aus einer Hand in die andere; alle kamen überein, daß sich kein lebendes Wesen mehr an Bord des verunglückten Fahrzeuges befinde.

»Der Kasten dort käme uns eigentlich wie gerufen,« sagte Mark Davenire zu Trollop, mit dem er bei den Besanswanten stand.

»Ich verstehe,« nickte der Hauptmann, seinen scharfen Blick über das Vordeck der Bark gleiten lassend, als folge dem einen Gedanken ein anderer. »Der Kasten – es ist oder war ja wohl eine Brigg – kommt aber etwas zu früh. Uebrigens habe ich Ihnen etwas zu sagen,« fuhr er mit ganz gedämpfter Stimme fort. »Wir müssen auf der Hut sein, und zwar besser, als bisher; wir dürfen besonders bei Tische nicht so viel schwatzen, wenn wir uns nicht eines schönen Tages verraten wollen. Wir sind erst zwei Tage unterwegs; ich bin Passagier erster Klasse, sehe aus wie ein Gentleman erster Klasse, und doch – bei meinem Herzblut! wie mein alter Oberst zu sagen pflegte – hat dieser alte luchsäugige Schiffer mich schon ein paarmal so unverschämt wegwerfend, so beleidigend und argwöhnisch behandelt, als wäre ich ein vagabundierender Strolch und von den Matrosen als blinder Passagier im Hellegatt aufgestöbert worden.«

»Was ich immer behauptet habe – wir sind unserer zuviel,« versetzte Davenire.

»Jawohl; wären wir weniger, schafften wir's ebensogut.«

»Da ist der Masters, ein ganz guter Kerl, aber der Schnaps hat ihm die Eitelkeit noch nicht austreiben können. Jetzt schmachtet er die Miß Mansel an, und da ist gar bald ein Wort gesprochen, eine unwillkürliche Andeutung gegeben – das Mädchen aber sieht ihm mit ihren schwarzen Augen bis in die Seele, und ihre Ohren sind immer auf dem ›Qui vive‹.«

»Wieso?«

»Sie beobachtet uns.«

Trollop schwieg. Eine Minute später ertönte die Frühstücksglocke. Das Wrack mußte in einer halben Stunde erreicht sein; die Passagiere eilten in die Kajüte, um zu rechter Zeit wieder an Deck sein zu können.

Als alle um die Tafel versammelt waren, wendete sich Mrs. Peacock an den Kapitän.

»Ich bin schon wieder ganz ängstlich,« sagte sie; »man muß mein Herz förmlich klopfen hören.«

»Warum, Madam,« sagte der Schiffer trocken.

»Mein Gott, weil uns eine neue und vielleicht wieder recht schreckliche Aufregung bevorsteht!« rief die Dame.

»Davon weiß ich nichts,« antwortete Benson, sich mit seinem Teller beschäftigend.

»Für mich kann es gar nicht genug Aufregungen geben,« fiel Miß Holroyd ein, eine junge Dame von zweiundzwanzig Jahren, aber ohne persönliche Vorzüge.

»Sie dürfen nicht vergessen, meine Liebe, daß ich diese Reise zur Kräftigung meiner angegriffenen Gesundheit unternommen habe,« entgegnete Mrs. Peacock ein wenig vorwurfsvoll und zurechtweisend.

Der Hauptmann Trollop wischte sich den Schnurrbart, stand vom Tische auf und ging an Deck; drei oder vier folgten seinem Beispiel, und dann erhob sich die ganze Tafelrunde. Das Wrack befand sich jetzt ganz in der Nähe.

Dasselbe mochte ein australischer oder neuseeländischer Küstenfahrer gewesen sein; seine lange Ruderpinne schwankte von einer Seite zur andern, einem Menschenarm vergleichbar, der verzweifelt um Hilfe winkt. Die noch weißen Bruchstellen in dem zersplitterten Holzwerk zeugten dafür, daß das Unglück erst vor ganz kurzer Zeit über das Fahrzeug gekommen sein konnte. Im Wasser unter seinem Heck gewahrte man eine dichte, wolkenähnliche Masse, aus tausend weiß und bläulich schimmernden und blitzenden Lichtern gebildet; das Ganze hob und senkte sich in brillantem Gefunkel mit der Dünung der See und der Bewegung des Wracks.

»Sehen Sie doch, wie wunderbar schön,« rief Mrs. Holroyd. »Was mag das nur sein, Kapitän Benson?«

»Fische, Madam,« antwortete der Schiffer, der Dame ein Opernglas in die Hand gebend.

»Und Fische waren's, der größte von der Länge eines kleinen Fingers; wer aber vermochte zu sagen, was sie an jener Stelle fesselte und zusammenhielt? An der Bekupferung des Fahrzeuges wuchsen weder Muscheln noch Tang oder sonstige Pflanzen, nichts, was den Tausenden von Fischen hätte Nahrung bieten können. Sie standen wie eine Wolke in dem blauen Wasser im Schatten des Wracks, sie leuchteten und funkelten wie Krystallprismen und freuten sich ihres Lebens und ihres wundervollen Glanzes. Der liebliche Anblick war allen neu, den Passagieren sowohl, wie auch den Seeleuten; die letzteren hielten die Reeling besetzt und staunten die prächtige Erscheinung an.

Mr. Poole trat zum Kapitän.

»Ich glaube, da drüben ist noch jemand an Bord,« sagte er leise. »Ich sehe einen dünnen Rauch aus dem Schornsteine der Kombüse steigen, als wenn das Feuer eben im Ausgehen wäre.«

Benson ließ sich von Mrs. Holroyd das Glas reichen.

»Sie haben recht,« sagte er. »Gehen Sie und überholen Sie das Fahrzeug.«

Man brachte ein Boot zu Wasser und Mr. Poole und vier Matrosen machten sich auf den Weg. Gerade als das Boot abstieß, zeigte sich der gebogene Rücken eines Delphins über dem Wasser zwischen der Bark und dem Wrack, und im Nu war die leuchtende Wolke unter dem Heck des Fahrzeuges versunken und verschwunden.

Drei von der Genossenschaft der ›Zehn‹ standen rauchend und in gedämpfter Unterhaltung am Fallreep. Das Ruder der ›Queen‹ war niedergedreht, die leichten oberen Segel schüttelten wechselnd in Licht und Schatten, das Wasser um den Vordersteven lag regungslos; aus der Kombüse trat der Koch, erhitzt und mißlaunig, und leerte einen Eimer voll von Küchenabfällen über die Reeling aus; teils sank das Zeug, teils blieb es unbeweglich auf der Stelle liegen.

»Wenn wir etwas später auf das Wrack gestoßen wären,« sagte Caldwell, einer der drei am Fallreep, zu Masters, »dann hätte es uns den schlimmsten Teil der Arbeit erspart.«

»Davon hätte keine Rede sein können,« entgegnete Masters. »Es ist fest ausgemacht, daß keinerlei Grausamkeit verübt werden soll; sperrt man aber eine Anzahl Menschen auch nur vierzehn Tage lang in solch einen Kasten, wie der da, ein, dann gäbe das eine Hölle.«

Caldwell sah den Sprecher finster und nachdenklich an; er hatte eins jener unheimlichen orientalischen Gesichter, die bei geringem Anlaß einen Ausdruck fanatischer, tierischer Wildheit anzunehmen vermögen; von den Zehn war er der Abstoßendste.

»Auf welchem Ozean schwimmen wir jetzt wohl, Masters?« fragte Mr. Peter Johnson, der dritte Mann.

»Da fragen Sie mich zu viel; auf dem Pacific doch wahrscheinlich.«

»Richtig geraten,« sagte Johnson, »und zwar befinden wir uns gerade in dem Teil des Pacific, der von Walfischfängern am meisten aufgesucht wird. Wie lange kann das Wrack dort in seinem jetzigen Zustande sein? Kaum drei Tage. Und doch ist bereits ein Schiff, diese unsere Bark, bei ihm angelangt, willig und bereit, alles zu thun, was im Namen der Menschlichkeit gefordert werden kann. Nun also! Wo sollte da die Grausamkeit stecken? Ich mache mich anheischig, an Bord dieses Wracks zu gehen und hundert Pfund darauf zu wetten, daß ich binnen vierundzwanzig Stunden von einem des Weges kommenden Schiffe aufgenommen werde. Bei diesem schwachen Winde kann's allerdings auch ein paar Tage länger dauern,« setzte er mit einem Blick auf das stille heitere Firmament hinzu.

»Wo hat man denn Burn untergebracht?« fragte Masters nach einer kurzen Pause.

»Er liegt jetzt mit Shannon zusammen,« antwortete Caldwell. »Davenire hat seine Kammer bezogen. Shannon wird immer einen Eimer Wasser zur Hand haben, um dem Schreihals das nächtliche Deklamieren abzugewöhnen.«

Inzwischen war das Boot, verfolgt von dem gespanntesten Interesse der Zuschauer, bei dem Wrack angelangt. Poole schwang sich in die Rüsten und stieg an Deck, ein Matrose folgte ihm. Die im Boot Gebliebenen stießen wieder ab und blieben eine Schiffslänge entfernt liegen.

Das kleine Fahrzeug hatte allem Anschein nach Brigantinen-Takelung gehabt. Ein Teil seiner Reeling war weggeschlagen, von Booten war nichts mehr zu sehen.

Poole und der Matrose gingen über das kahle Deck zur Kombüse, die wie ein Schilderhaus dastand. Es war merkwürdig, daß sie nicht mit den Masten über Bord gerissen worden war. Noch war eine Spur von Glut in der Asche der Maschine.

Im vorderen Deckhaus fand sich niemand. Einige Hängematten hingen noch unter den Balken und hier und dort einige Kleidungsstücke an der Wand.

Der zweite Steuermann setzte die Hände an den Mund.

»Queen ahoy!« rief er.

»Hallo!« antwortete der alte Benson.

»Das Feuer in der Kombüse ist noch nicht aus. Wenn Sie einen Mann mit dem Teleskop nach oben schicken wollen – vielleicht ist da noch ein Boot in Sicht!«

Der Schiffer erhob als Zeichen der Zusage die Hand, und Poole schlug mit dem Matrosen den Weg zum Achterdeck ein.

Sie mochten ungefähr zwölf Schritte von dem hinteren Deckhause entfernt sein, als sie plötzlich wie gebannt stehen blieben. In der offenen Thür zeigte sich eine Gestalt, ein Mann von etwa dreißig Jahren, nackt bis zum Gürtel und barfuß. Sein Haar war lang und wirr, sein Gesicht hager, leichenhaft, der Blick seiner dunkeln Augen brennend, unstet, scheu und wild.

»Allmächtiger!« sagte Poole. »Wen haben wir hier?«

Der Mann verzerrte seine Züge zu einem Lächeln, das seine weißen Zähne bloßlegte; zugleich winkte er den beiden, näher zu kommen. Poole ging herzu.

»Sind da noch mehr von euch an Bord?« fragte er.

»Es ist gut, daß Sie gekommen sind,« versetzte der Mann mit harter, tonloser Stimme. »Ich habe auf Sie gewartet. Treten Sie näher.«

Er ging rückwärts, und der Steuermann trat in das Innere, nicht ohne die Befürchtung, hier auf Leichen, oder, was noch schlimmer gewesen wäre, auf noch mehr Wahnsinnige zu stoßen. Auf dem Tische der kleinen Kajüte lag eine Seekarte. Der Halbnackte beugte sich darüber, setzte den Finger auf einen Punkt und sah dann Poole mit seinen unheimlichen Augen ins Gesicht.

»Nach meiner Berechnung befindet dieses Schiff sich jetzt hier,« sagte er. »Ist das richtig, oder nicht?«

Der Steuermann blickte auf die Karte; es war eine Karte der Nordsee.

»Das wollen wir nachher feststellen,« versetzte er begütigend. »Jetzt ist keine Zeit zu verlieren, da mein Schiff nicht zu lange warten darf. Sind hier noch mehr Leute an Bord?«

»Ich will meine Antwort haben!« rief der Wahnsinnige. »Drei Tage lang rechne ich schon und finde kein Resultat. Die Länge ist falsch, und die Breite stimmt auch nicht. Bin ich nicht ein Steuermann so gut wie der beste? Habe ich mein Certifikat etwa nicht in der Tasche? Aber wenn die ganze Nacht die Sonne nicht scheint, wie soll ich da die Mittagshöhe finden? Antworten Sie mir, Kapitän!«

»Lassen Sie mich mit ihm reden, Steuermann,« raunte der Matrose dem betroffenen Poole ins Ohr. »Ich habe einen Schwager im Irrenhause, ich verstehe mich auf solche Leute.«

»Nur zu,« nickte der Steuermann und trat zurück.

»Um Vergebung,« sagte der Matrose zu dem Halbnackten, der noch immer den Finger in die Karte bohrte, »lassen Sie mich mal sehen.« Er brachte seine Nase dicht auf das Papier, obgleich er weder lesen, noch schreiben, noch rechnen konnte. »Wo sagten Sie? Hier? Ei freilich, das stimmt ja aufs Haar! Das hier ist genau die Stelle, wo dieser Kasten jetzt schwimmt.«

»Um aber ganz sicher zu gehen,« fuhr der Matrose mit wichtiger Miene fort, »müssen Sie mit zu uns an Bord kommen; wir haben da einen berühmten Navigator, mit Namen Kapitän Benson, der sich freuen würde, wenn er seine Karte mit der Ihren vergleichen könnte. Das ist eine Gelegenheit für Sie, wie sie sobald nicht wiederkommt.«

Die Blicke des armen Irren wanderten zuerst über die Gesichter der beiden Seeleute, dann über die Wände der Kajüte und endlich an seinem nackten Oberkörper hinunter.

»Wo finde ich Ihr Zeug?« fragte Poole.

Ohne hierauf zu achten wies der Mann von neuem auf die Karte.

»Wird der berühmte Navigator sich in diesem Gradnetz auch zurechtfinden?« fragte er den Matrosen.

»Wie in seiner Tasche,« versicherte dieser. »Er ist in Navigationssachen so gelehrt, daß die Admiralität ihm Unsummen von Pfunden wöchentlich geboten hat, damit er die Berechnungen für sämtliche englische Flotten übernähme; aber er thut's nicht, aus dem einfachen Grunde, weil er keine Uniform tragen will.«

Der Irre nickte nachdenklich. Der Steuermann zog seinen Rock ab und hing ihm denselben über die Schultern.

»Kommen Sie,« sagte er, den obersten Knopf zuknöpfend und dann den Unglücklichen sanft beim Arme nehmend, »ich will Sie dem Kapitän Benson vorstellen.«

»Ohne meine Karte?« rief der Irre ängstlich.

Poole rollte die Nordsee zusammen und schob sie ihm wie ein Teleskop unter den Arm.

Die Passagiere hatten mit bloßen Augen die Vorgänge auf dem Wrack beobachten können. Jetzt sahen sie, wie der arme Schiffbrüchige ins Boot gebracht wurde; sie sahen ihn mit seinen nackten Armen gestikulieren und winken, und sie hörten ihn mit kreischender Stimme unzusammenhängende Worte herüberschreien.

»Hatte ich nicht recht, als ich fürchtete, daß uns noch mehr Schrecken und Aufregungen bevorständen?« sagte Mrs. Peacock in vorwurfsvollem Tone zu dem alten Schiffer.

Der aber wischte sein mahagonifarbenes Antlitz mit einem roten Taschentuch von der Größe einer Bootsflagge und entgegnete unwirsch:

»In der Rettung eines Menschenlebens sehe ich keine Schrecken, Madam.«

»Das ist ja ein Wahnsinniger, den sie da bringen,« rief die Dame entsetzt, als das Boot herankam.

»Dafür kann ich doch nicht,« knurrte der Alte grimmig.

»Ich finde es ganz erklärlich, daß der arme Kerl in dem Kasten da drüben verrückt geworden ist,« sagte Johnson zu Burn. »Mir wär's ebenso ergangen. Sehen Sie doch, wie das Ding rollt, regelmäßig, unaufhörlich, hin und her, hin und her. Da muß ja schließlich der Verstand im Hirnkasten locker werden und von einer Seite zur andern gegen die Schädelwand rollen, wie loser Ballast im Schiffsraum. Ich sage Ihnen, nach wenigen Stunden hockte ich und grinste und schnatterte, wie der da im Boot.«

»Er wäre beinahe nackt, wenn Poole ihm nicht seinen Rock übergeworfen hätte,« bemerkte Burn. »Woher kommt es wohl, daß Leute, die den Verstand verlieren, fast immer zunächst das Bestreben haben, sich die Kleider vom Leibe zu reißen? Sollte es sein, weil der Irrsinn den Menschen wieder seinem Urzustande näher bringt?«

»Jetzt kommt er an Bord,« sagte Johnson. »Geben Sie acht, wie die Damen fliehen werden.«

Der Irre hatte sich wie ein Aal den Händen der Matrosen entwunden und mit unglaublicher Behendigkeit über die Reeling geschwungen. Bei dem kurzen Ringen war ihm des Steuermanns Rock von den Schultern gefallen.

»Wo ist der Kapitän?« schrie er, die Kartenrolle hoch empor schwenkend.

Der Schiffer trat an die Vorderkante des Achterdecks.

»Achteraus hier, einige von euch,« rief er den Matrosen zu; »nehmt den armen Menschen fest!«

Ehe dieser Befehl jedoch ausgeführt werden konnte, stand der Wahnsinnige bereits neben ihm.

»Hier!« schrie derselbe, »das ist die Karte!«

Während er das Papier in bebender Hast entrollte, flüchteten sämtliche Damen die Kampanjetreppe hinab. Mr. Dent und Mr. Storr standen in vorsichtiger Entfernung gleichfalls zu schleunigem Rückzuge bereit.

»Man sagte mir, Sie seien ein berühmter Navigator,« fuhr der Irre fort. »Ich habe mich vergebens bemüht, den Ort des Schiffes heraus zu rechnen. Jetzt sollen Sie mir helfen.«

Benson sah, daß die Karte die Nordsee darstellte.

»Die Sonne,« hier schaute der Irre mit dem ungeblendeten Blick des Adlers zu dem brennenden Tagesgestirn auf – »die Sonne giebt uns den einzigen Anhalt für die Zeitbestimmung; ich aber bringe sie mit meinem Sextanten nicht mehr auf den Horizont herunter. Versuchen Sie es mit Ihrem Astrolabium – –«

Er endete mit einem fürchterlichen Aufschrei. Auf einen Wink des Schiffers war der zweite Steuermann mit dem Doktor und zwei Matrosen herbeigekommen; sie ergriffen den Aermsten und schafften ihn eiligst nach vorn. Hier mußte die halbe Mannschaft aufgeboten werden, den sich rasend zur Wehr Setzenden zu fesseln und in eine Koje zu legen, wo ihm ein Matrose als Wärter beigegeben wurde.

Den Passagieren, die sich in der Kajüte über dieses neue Abenteuer unterhielten, wollte es unwillkürlich scheinen, als befänden sie sich bereits eine lange, lange Zeit auf dieser Reise. Thatsächlich hatte man den Hafen von Sydney erst vor wenigen Dutzend Stunden verlassen, allein in dieser kurzen Spanne hatten die Ereignisse einander so gedrängt, daß man es kaum für möglich hielt, soviel Außerordentliches in so kurzer Zeit erlebt zu haben.

Das aber ist eine der Eigentümlichkeiten des Seelebens. Mannigfaltig und zahllos sind die Erscheinungen und Offenbarungen, die der unendliche Ozean denen bietet, die ihn durchschiffen.

Die Bark wurde wieder auf ihren Kurs gebracht; die Segel füllten sich mit dem leichten Winde, und das Wrack blieb im Kielwasser zurück.

»Sie sind sicher, daß sonst niemand an Bord gewesen ist?« sagte der Schiffer zu dem zweiten Steuermann.

»Ganz sicher, Kapitän.«

»Wer ist dieser arme Verrückte?«

»Der Steuermann, wie ich aus seinen Reden vernahm. Wer weiß, was da vorgegangen ist, das ihm den Verstand geraubt hat.«

»Wer weiß,« nickte Benson, die Augen auf den Arzt gerichtet, der die Achterdeckstreppe heraufkam. »Nun, Doktor, wie steht's mit ihm?«

Der Doktor schüttelte den Kopf.

»Er heult und wütet und will sich nicht beruhigen lassen,« berichtete er. »Er verlangt nach seinem Wrack. Dort hätte er vielleicht auch noch acht oder zehn Tage leben können, hier aber wird er die Sonne nicht wieder aufgehen sehen.«

»O Lord!« sagte der alte Kapitän und stieg in seine Kammer hinunter.

Es geschah, wie der Doktor prophezeit hatte.

Kurz vor dem ersten Läuten der Mittagsglocke sah man den dem Kranken als Wärter bestellten Matrosen in Aufregung aus der Seitenkammer herauskommen, und gleich darauf meldete der Doktor dem Kapitän, daß der Patient verschieden sei.

»Er soll sogleich eingenäht werden,« befahl Benson, indem er sich anschickte, den letzten Passagieren hinab in den Salon zu folgen. »Morgen früh wollen wir ihn bestatten.«

Während in der Kajüte getafelt wurde, waren zwei Matrosen auf der Vorluke damit beschäftigt, den Verstorbenen in sein letztes Gewand, ein Stück Segeltuch, das ihm zugleich als Sarg zu dienen hatte, einzuhüllen. Einer der beiden war der Mann, der vorhin Wärterdienste geleistet hatte. Er führte die Nadel mit leicht bebender Hand, sein Gesicht war bleich und sein Mund zusammengepreßt.

»Bill,« begann er, als das Antlitz des Toten bedeckt war, »haben solche wie dieser auch unsterbliche Seelen?«

Bill rollte sein Auge langsam nach der Seite, wo der Fragende saß. Er war ein Mensch von saurem, cynischem Temperament.

»Wenn er ein Seefahrer, ich meine, wenn er einer von vor dem Mast gewesen ist wie wir,« sagte er, »dann hat er keine gehabt, ganz gleich, ob er verrückt gewesen ist oder nicht.«

Tom hielt mit seiner Arbeit inne. Die blanke Nadel in seinen Fingern glühte im Schein der Abendsonne wie ein Feuerstrahl.

»Was?« versetzte er in düsterer Erregung, indem er seine harte große Hand nicht ohne Ehrfurcht auf den Leichnam legte. »Willst du behaupten und soll ich glauben, daß der Mann hier keine Seele hatte, damit vor seinen Gott zu treten?«

»Du kannst glauben, was du willst,« entgegnete der andere, »soviel aber sage ich dir, je mehr du glaubst, desto mehr steuerst du in das Fahrwasser hinein, in dem der arme Junge hier zu Grunde gegangen ist. Komm, daß wir fertig werden.«

Schweigend arbeiteten sie weiter, und als sie eine Art von langem Paket hergestellt hatten, legten sie dasselbe auf der Luke zurecht, und Tom ging nach hinten, um eine Flagge zum Bedecken desselben zu holen.

Es war die Zeit der sogenannten zweiten Hundswache, sechs bis acht Uhr abends; die niedergehende Sonne verwandelte den ganzen westlichen Himmel in eine düsterrote Lohe. Der Koch kam aus der Kombüse heraus geschlendert, die Pfeife im Munde und den Hut stutzerhaft über das linke Auge gedrückt. Er stellte sich mit gespreizten Beinen vor den Leichnam, sah zu, wie Tom die Flagge über denselben deckte, und fragte, wann das Ding über Bord gehievt werden sollte. Der Matrose antwortete durch stummes Kopfschütteln.

»Ich möchte wohl wissen,« fing der Koch an, nachdem er sich durch einen vorsichtigen Rundblick von der Art seiner Zuhörerschaft überzeugt hatte, »warum alles so was nach vorn gebracht wird. Alles, was schlecht und schauderhaft und widerwärtig ist, bringen sie zu uns nach vorn. Was es auch sein mag – ein Toter, oder ungenießbares Fleisch, oder verdorbenes Mehl, aus dem einem die Würmer entgegenlachen, oder was sie sonst hinten nicht haben wollen, alles kommt nach vorn.«

Einige der Matrosen kamen langsam herbei und lehnten sich an die Reeling, um die Rede des Kochs mit anzuhören.

»Ist's nicht genug,« fuhr dieser fort, sich gelegentlich durch einen Zug aus der Pfeife unterbrechend, »ist's nicht genug, daß Janmaat sich beim Anmustern verpflichtet, täglich vierundzwanzig Stunden zu arbeiten? Muß auch noch alles, was nichts nütze ist, nach vorn gebracht werden? Zum Beispiel hier« – er wies mit dem Fuß auf den Leichnam – »es heißt, der sei ein Steuermann gewesen; warum behalten sie ihn dann nicht hinten? Steuerleute wohnen und essen hinten, achter dem Großmast, wenn sie lebendig sind; warum behält man sie nicht auch hinten, wenn sie gestorben sind? Nein, dann werden sie nach vorn gebracht. Erst wenn sie das geworden sind, was jeder tote Hund ist, erst dann sind sie geeignet, mit Janmaat in nähere Berührung zu kommen.«

Die Matrosen murmelten im Einverständnis.

»Hängen will ich,« sagte einer, »wenn nicht jedes Wort wahr ist.«

Vom Ruder her ertönten acht Glasen. Der Koch schloß seine Kombüse zu, und die erste Nachtwache nahm ihren Anfang. Die Bark, die auf der Steuerseite Leesegel stehen hatte, glitt schimmernd wie ein Eisberg durch die mondhelle Atmosphäre, und die großen, über der Kimmung funkelnden Sterne brannten wie ferne Leuchtfeuer in der klaren Luft. Auf der Back schritt der Ausguckmann auf und ab. Die übrigen Leute der Wache lagerten, um sich verbotenem Schlaf hinzugeben, teils im Lee des Großbootes, teils in dem schwarzen Schatten der Reeling; sie hatten sich so weit als möglich von dem Leichnam auf der Vorluke abseits gedrückt, und die im Logis sich zur Ruhe begebenden Matrosen fluchten und murrten darüber, daß man ihnen den grausigen Gast so nahe auf den Hals gerückt hatte.

Vom Achterdeck her kamen zwei Männer geschritten. Sie blieben an der Vorluke stehen und betrachteten das lange Paket auf derselben.

»So wäre es mir beinahe auch einmal ergangen,« sagte hierauf Mr. Mark Davenire. »Ein Schub über Bord, ein Platsch im Wasser und dann nichts mehr – nichts!«

»Immerhin besser, als ein Tod im australischen Busch,« entgegnete Mr. Hankey, »wo man, wenn die Vögel unter dem Himmel dies gestatten, zu einer grinsenden Fratze zusammendorrt. Scheußlicher Gedanke, so mit den nackten Gebeinen dazuliegen. Viel besser, man verschwindet gänzlich, wie der da, wenn er morgen über die Reeling geschoben wird. Ich möchte nicht einmal, daß der Mond auf mein Skelett scheint –« dabei blickte er mit dem zwischen den schwarzen Bartkoteletten leichenfahl erscheinenden Gesicht zu dem Nachtplaneten empor, der in weichem Silberglanze am tiefschwarzen Firmamente stand. Dann begannen die beiden langsam auf und ab zu spazieren.

»Ich möchte wissen, wann unsere Sache ausgeführt werden soll,« redete Hankey ruhig weiter. »Trollop scheint nicht zum Entschluß kommen zu können. Ist das Wetter nicht famos dazu geeignet? Warum gehen wir nicht noch in dieser Nacht ans Werk? Sollen wir vielleicht warten, bis wir beim Kap Horn sind?«

Davenire zischte ihm Schweigen zu. Ein Matrose kroch aus dem Schatten des Großbootes hervor und strich an ihnen vorüber, um sich zu dem Manne auf dem Ausguck zu gesellen.

»Wir müssen zunächst die verabredete Gegend erreichen,« sagte Davenire darauf in dem Tone eines Mannes, der eingeweiht ist und eine gewisse leitende Stellung bekleidet. »Außerdem mutmaßt Trollop, daß der Alte irgend welchen Verdacht geschöpft hat und wachsam ist. Das aber halte ich vorläufig für ausgeschlossen; es ist so die Art des alten Burschen, um sich zu stieren und Leute grob zu behandeln. Zum Kuckuck, auf wen und auf was soll er Verdacht haben? Wenn der rechte Zeitpunkt da ist, dann muß alles gehen wie am Schnürchen – glatt, gründlich, ohne Zerwürfnis und Opposition unter uns, und namentlich auch ohne Blutvergießen. Das müssen wir besonders im Auge behalten. Es darf keine Galgenaffäre werden.«

»Wann geht es an die Waffenkiste?« fragte Hankey.

»Das wird sehr bald geschehen.«

Hankey zuckte die Achseln, pfiff still vor sich hin und schlug den Weg nach dem Achterdeck ein. Davenire folgte ihm.


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