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Zweites Kapitel.
Der Kutter

Glühendrot strömten die Strahlen der untergehenden Sonne durch die Fenster und das Oberlicht in die Kajüte hinein, als die Passagiere an der reich besetzten Tafel ihre Plätze einnahmen. Das warme Licht ließ das Tafelgeschirr blitzen und funkeln und umgab die Gestalt des weißköpfigen Schiffers wie mit einer Glorie. Auch die Lampen brannten bereits, um die Erleuchtung der Kajüte fortzusetzen, wenn die Sonne verschwunden sein würde.

Die Kajüte, die Tafel und die Tischgesellschaft stellten eins jener Bilder dar, denen man heute nur noch selten, ja wohl niemals mehr auf der See begegnet. Die großen modernen Ozeandampfer zerstreuen ihre Hunderte von Passagieren in zwanzig verschiedene Tischgenossenschaften, und der Kapitän ist gewissermaßen nur ein Dekorationsstück mit blanken Knöpfen und Goldborte, nicht mehr, wie einst, der patriarchalische Gastgeber, sondern nur noch in einsamer Höhe der Herr des Ganzen und der Kommandant. In den guten alten Zeiten der ›Queen‹ bildeten die Passagiere des Schiffes gewissermaßen eine Familie. Sie saßen rings um einen großen Tisch, und der Kapitän konnte von seinem oberen Ende aus die Fragen des am untersten Ende sitzenden Gastes bequem beantworten; wenn die Leute erst einigermaßen bekannt miteinander waren, dann fehlte es bei den Mahlzeiten nie an einer geselligen Unterhaltung.

Die Speisenden wurden von den gewandt und geräuschlos hin- und herlaufenden Stewards bedient; letztere trugen kurze schwarze Jacken und entwickelten eine erstaunliche Behendigkeit. Durch die Fenster vernahm man das Getön des vorüberrauschenden Wassers; es hörte sich an, wie wenn nächtlich ein Regen auf das Laub des Waldes herabströmt.

Als alle Passagiere ihre Plätze eingenommen hatten, die sie nach altem Herkommen nun während der ganzen Reise behalten mußten, überschaute der Kapitän die beiden Reihen der Gesichter zur Rechten und zur Linken, und im ersten Augenblick berührte ihn die Wahrnehmung, die er dabei machte, ganz eigentümlich. Die Anzahl der Männer war stark überwiegend, immerhin aber saßen auch sieben Vertreterinnen des schönen Geschlechts an der Tafel, so daß die Eintönigkeit angenehm unterbrochen wurde.

Es war weder die Persönlichkeit des Mr. James Dent, noch die des Mr. William Storr, die dem Schiffer bei seinem schnellen Rundblick von Backbord nach Steuerbord auffiel. Es war dies vielmehr eine seltsame Aehnlichkeit der Erscheinungen gewesen, wie man solche z. B. in einer Gesellschaft glattrasierter Schauspieler finden kann. Allerdings konnte von einer Aehnlichkeit zwischen dem Hauptmann Trollop und Mr. Burn nicht gut die Rede sein, ebensowenig wie von einer solchen zwischen Mr. Shannon, einem Herrn mit vorstechenden blauen Augen und einem Flachsbart und dem schwarzen, finster blickenden Caldwell. Der alte Benson zerbrach sich jedoch nicht lange den Kopf darüber. Die Herren hatten das Geld für die Passage prompt bezahlt, teils mit vierzig, teils mit fünfzig Pfund Sterling, und im übrigen machten alle, ohne Ausnahme, den Eindruck von Gentleman; das mußte ihm genügen.

Am unteren Ende der Tafel hatte der erste Offizier des Schiffes, der Obersteuermann Mr. Matthews, seinen Platz, ein Mann mit rotem, gelocktem Bart und einem Gesicht, dessen bleiche Farbe von einer erst kürzlich überstandenen Krankheit zeugte. Ihm zur Linken saß der Schiffsarzt, rechts von ihm Mr. Paul Hankey.

Anfänglich wurde nur wenig gesprochen. Die Herren schienen sich gegenseitig verstohlen zu mustern, als sähen sie sich hier zum erstenmal. Mr. William Storr versuchte eine Unterhaltung über das Boot, das man vorhin gesehen hatte, in Fluß zu bringen, wurde jedoch durch Blicke voll Abscheu aus den Augen der Damen sogleich wieder zum Schweigen gebracht.

»Um Verzeihung,« begann bald darauf Mr. Hankey, sich mit einer gewissen freien Vornehmheit an den Obersteuermann wendend, »wo pflegt der zweite Steuermann, Mr. Poole, sein Mittagsmahl einzunehmen?«

»Hier, auf meinem Platze, wenn die Herrschaften fertig sind und ich wieder an Deck gegangen bin,« antwortete Mr. Matthews.

»Ich habe nämlich mit dem Herrn die Reise nach Australien gemacht,« fuhr Mr. Hankey fort, »und zwar an Bord des Vollschiffs ›Golden Ball‹, auf dem er dritter Steuermann war. Ich habe nie einen flinkeren Mann beim Reffen auf der Nock der Marsraae gesehen!«

»Sind Sie jemals ein Seemann von Beruf gewesen?« mischte sich der Doktor in das Gespräch.

»Einem Mann, der sein Glück in Australien versucht hat, darf man nicht zu sehr mit Fragen auf den Leib rücken,« versetzte Hankey lächelnd.

»Bitte um Entschuldigung,« verbeugte sich der Doktor; »aus dem fachmännischen Ausdruck, den Sie soeben gebrauchten, glaubte ich das schließen zu dürfen.«

Jetzt beteiligte sich auch der jüdisch aussehende Herr, der sich Caldwell nannte, an der Unterhaltung.

»Als ich nach Australien kam, wäre ich beinahe kopfscheu geworden,« erzählte er. »Das Schiff, auf dem ich die Ueberfahrt machte, hatte auf seiner vorletzten Ausreise einen jungen Baron an Bord gehabt, dessen Vater in einem Palais am Hyde Park wohnte. Er hatte sich als Kajütspassagier nach den Goldfeldern auf den Weg gemacht. Was soll ich Ihnen sagen? Unser Schiff löschte und nahm Wolle ein, und am letzten Tage vor seiner Rückfahrt nach England sah der Bootsmann, der am Fallreep zu thun hatte, einen ganz verkommenen Vagabunden, eine wahre Vogelscheuche, an Bord klettern, einen Kerl, dem das blasse Elend auf dem Gesichte geschrieben stand. ›Kennen Sie mich nicht?‹ fragte er den Bootsmann. ›Nein, ich kenne Sie nicht,‹ sagte der. Darauf nannte die Vogelscheuche ihren Namen. Es war der junge Baron. Drei Monate lang hatte er sich herumgetrieben, Gold fand er nicht, zu essen hatte er bald auch nichts mehr, und so war er gezwungen, seine Siebensachen Stück für Stück zu versetzen, bis auf die Socken. Und nun war er gekommen, die Rückfahrt nach Hause zu erbetteln. Man erbarmte sich des armen Teufels und gab ihm eine Anstellung als Gehilfe des Stewards; man hielt ihn nicht einmal für gut genug, an der Tafel aufzuwarten, an der er kurz zuvor selber gesessen hatte. Er mußte das schmutzige Geschirr nach der Kombüse bringen und dort abwaschen. War das für einen Auswanderer nicht genug, um kopfscheu zu werden?«

Er wollte noch etwas hinzufügen, spülte aber die Worte mit einem Glase Wein hinunter.

Nunmehr kam die Unterhaltung in vollen Gang.

Mr. Caldwells Geschichte setzte auch die Zungen der übrigen in Bewegung. Diejenigen, die sich vorher so fremd benommen hatten, wurden mitteilsam gegen einander, und der Kapitän sah sich mit einem Schlage an der Spitze einer Tafelrunde von Leuten, von denen man während der Reise viel angenehme Geselligkeit erwarten durfte. Man kam auch auf Gold zu sprechen.

»Was hat das Nugget (Bezeichnung der in gediegenem Zustande gefundenen größeren und kleineren Goldklumpen) zuletzt gegolten?« fragte Mr. Davenire, der große Mann mit der grünen Weste und der silbernen Uhrkette.

»Drei Pfund bis drei Pfund einen Schilling die Unze,« antwortete Mr. Dent.

»Mich hat die Geschichte von Hargreaves großem Goldfund herüber gebracht,« sagte ein Herr mit Namen Peter Johnson. »Ich meine den Glückspilz, der da oben in Bathurst einen zentnerschweren Goldklumpen im Werte von viertausend Pfund Sterling aus einem Felsen sprengte. Himmel, wie mag sich da der Hargreave gefreut haben!«

»Hat auch Sie das Goldfieber hier heraus gelockt?« wendete sich Mr. Masters schmachtend an die ihm gegenüber sitzende Miß Mansel.

»Ach nein,« versetzte diese. »Ich kam, um mich in meiner Stellung als Gouvernante zu verbessern, mußte jedoch leider die Erfahrung machen, daß man in Australien nach meinen geringen Fähigkeiten und Kenntnissen nicht das geringste Verlangen trug.«

»Das allgemeine Los!« rief Hauptmann Trollop.

»Die Kolonien sind wie Rattenfallen, in denen sich nur das aus dem Mutterlande kommende Gewürm und Ungeziefer fängt und hängen bleibt,« bemerkte Mr. Storr. »Lassen sich die Herrschaften daher ihre Mißerfolge nicht leid sein.«

»Haben sich, seit das Goldfieber wütet, während Ihrer Heimreisen keine Selbstmorde an Bord ereignet, Kapitän?« fragte Mr. Hankey.

»Auf der letzten Fahrt hatten wir allerdings einen plötzlichen Todesfall,« antwortete der Schiffer. »Wir glaubten auch, daß ein Selbstmord vorläge, der Doktor aber konstatierte als Todesursache eine Alkoholvergiftung bei dem Manne.

Es war Abend geworden; am Firmament blinkten die unzähligen Sterne, und der Mond schien voll hernieder. Die Brise war schwächer geworden; man hatte die Sonnensegel aufgerollt, und auf Reeling, Deck und Kompaßhäuschen glitzerte der Tau. Wie ein unermeßliches Schattengefilde breitete sich der Ozean dem Horizont und den Sternen entgegen, und manch einer der Passagiere, besonders unter den Damen, erschauerte bei dem Gedanken, daß diese herrliche Nacht ihren Schleier auch über das Totenboot deckte, das weit hinter ihnen in der dunkeln Ferne einsam dahintrieb.

Ehe der zweite Steuermann in die Kajüte ging, um sein Mittagsmahl einzunehmen, trat er an den Kapitän heran.

»Weiter nichts in Sicht als ein kleines Segel gerade in unserm Kielwasser, durch das Nachtglas soeben erkennbar. Vorhin war mir's, als ließe das Fahrzeug eine blaue Leuchtkugel aufsteigen.«

»Bringen Sie mir das Glas,« entgegnete der Schiffer.

Der zweite Steuermann verschwand in der Kajüte. Der Schiffer legte das Glas weg, nahm Mrs. Holroyd unter den rechten, ihre Tochter unter den linken Arm und spazierte mit den beiden Damen an der Luvseite des Achterdecks auf und nieder.

Die Herren schlenderten umher. Mr. Cavendish, der Mann mit den winzigen Augen und dem unangenehmen, selbstgefälligen Grinsen, nahm von Miß Mansel Besitz; Burn unterhielt sich in wohlgesetzter Rede mit Mrs. Holroyd und deren Tochter, einige der andern gingen hinab auf das Hauptdeck, wo das Rauchen gestattet war, und hier unterhielten sie sich so lebhaft und angeregt, als habe die erste Mahlzeit an Bord der ›Queen‹ sie bereits zu vertrauten Freunden gemacht.

Die sogenannte ›Hundewache‹, die Zeit von sechs bis acht Uhr abends, ist auf der See der angenehmste Teil des Tages. Mit Sonnenuntergang ist in den subtropischen Gegenden sogleich die Nacht da. Die Arbeit ruht, und alles widmet sich der Erholung.

Aus dem Matrosenlogis ertönten die Klänge einer Harmonika. Hauptmann Trollop, Davenire, Caldwell und Hankey gingen, als wollten sie der Musik lauschen, nach vorn bis zur Kombüse. Hier stießen sie auf zwei Matrosen, die barfuß auf und ab schritten. Trollop blieb vor ihnen stehen.

»Ist die Mannschaft an Bord dieser Bark vollzählig?« fragte er den einen.

Der Mann nahm die Pfeife aus dem Munde und sagte: »Nein.«

»Um wieviel zu wenig?« fragte Davenire.

»Um soviel, als wir jetzt sind,« sagte der andere Mann.

»Wie ist das Salzfleisch an Bord, taugt es was?« fragte Trollop, indem er sich eine Zigarre anzündete.

»Wissen wir noch nicht, bis jetzt hat's noch frische Kost gegeben.«

»Ich kenne einen Fall,« begann Mr. Hankey, dem das Mondlicht hell auf das von schwarzem Bart umrahmte Gesicht fiel, »wo schlechtes Salzfleisch der Grund zu der blutigsten Meuterei wurde, die es jemals auf See gegeben hat. Hören Sie, Davenire – man denke sich den Keim zu Mord und Totschlag eingesalzen, gepökelt in einem Fleischfasse liegend. Welcher Romanschreiber würde den Dämon der Empörung dort suchen?«

Er hätte noch mehr geredet, wenn nicht in diesem Augenblick ein lauter Ruf des Obersteuermanns, der die Wache hatte, die Aufmerksamkeit aller an Deck Befindlichen auf eine Rakete gelenkt hätte, die in weiter Entfernung hinter dem Schiffe aufgestiegen war und nun explodierte. Eine Minute später flammte ein Magnesiumlicht auf, gefolgt von abermals zwei Raketen.

»Das kommt von dem kleinen Fahrzeug, das wir schon am Nachmittag hinter uns sahen,« sagte der Kapitän zum Steuermann.

»Die Signale gelten uns,« versetzte dieser, »ein anderes Schiff ist nicht in Sicht.«

»Was kann man denn von uns wollen? Ist vielleicht ein Postbeutel zurückgeblieben? Da, wieder eine Rakete! Lassen Sie das Schiff beidrehen, Mr. Matthews, wir wollen doch hören, was das Fahrzeug von uns will.«

Der Passagiere hatte sich so etwas wie Aufregung bemächtigt. Noch befand man sich kaum einige Stunden auf See, und schon machte sich die Monotonie der endlosen Weite fühlbar. Jetzt sollte es eine Abwechslung geben, eine interessante Mondscheinszene. Da war ein Fahrzeug, das die Bark von Sydney aus verfolgt hatte, das war vielversprechend; nun mußte es etwas ganz Besonderes zu sehen und zu hören geben.

»Nach hinten hin, einige von euch!« rief der Steuermann den auf dem Hauptdeck stehenden Matrosen zu. »An die Großbrasse! Steuerbord das Ruder!«

Bald war das Schiff in den Wind gebracht, und Mrs. Peacock, eine der Damen, die mit Mrs. Storr die von den Matrosen ausgeführten Manöver beobachtet hatte, gewahrte mit Erstaunen, daß der Mond jetzt auf der andern Seite stand.

Ganz hinten am Heck stand eine Gruppe der Herren in leisem Gespräch.

»Was für ein Fahrzeug kann das sein?« fragte Davenire, angestrengt nach der Gegend starrend, wo das Feuerwerk sich gezeigt hatte.

»Ah bah! Uns kann's gleich sein, wir haben nichts zu fürchten,« versetzte Mr. Shannon.

»Auffällig aber ist's doch,« murmelte der Hauptmann Trollop. »Eben erst aus Sydney heraus und schon verfolgt.«

»Kann das wohl eine Botschaft für uns sein? Wie? Was meinen Sie?« fragte der junge Roué, Mr. Masters, langsam heranschlendernd.

»Wenn ich das annehmen müßte, so wünschte ich, daß der Kasten in den Grund sänke, ehe er uns erreicht,« meinte Trollop.

Noch ein anderer kam wie von ungefähr herzu, und wer jetzt die bei einander Stehenden gezählt hätte, der würde gefunden haben, daß es genau zehn waren. Auf der andern Seite des Achterdecks hatten sich um den Kapitän und den Steuermann die übrigen Passagiere versammelt. Plötzlich wendete Trollop sich um.

»Zerstreut euch!« flüsterte er. Im nächsten Moment löste die Gruppe sich auf; einige begaben sich zu den Damen, andere begannen hin und her zu gehen, noch andere lehnten sich über die Reeling.

Der alte Benson war ungeduldig geworden, das sah man an der Art, wie er das Teleskop bald ans Auge brachte, bald wieder sinken ließ. Er war an einen solchen Aufenthalt nicht gewöhnt. Er fand es unverschämt, daß man ihm zum Beidrehen signalisierte. Zwar war der Wind nur mäßig, die Bark hätte unter vollen Segeln höchstens vier Knoten die Stunde zurückgelegt, aber das war doch immerhin etwas und sicherlich besser, als dieses Stillliegen.

Zwanzig Minuten mochten auf diese Weise verstrichen sein, als ein großer Kutter herangerauscht kam, leuchtenden Schaum über die schwarze Flut vor sich herschiebend. Rasselnd wurde die Gaffel mit dem mächtigen Großsegel heruntergelassen, eine starke Stimme rief, man solle eine Leine herüberwerfen, und gleich darauf schleppte der Kutter hinter dem Heck der ›Queen‹. Das Mondlicht ließ seine weißen Decksplanken wie Elfenbein erscheinen; an Bord befanden sich drei oder vier Leute, unter ihnen fiel ein Mann besonders auf, der am Maste stand und einen kleinen Handkoffer neben sich hatte. Ein Seemann, der bisher die Ruderpinne gehandhabt hatte, ließ diese jetzt fahren und kam nach vorn.

»Kapitän Benson da?« rief er die Reihe der Neugierigen an, die von der Reeling der Bark auf den Kutter niederschaute.

»Ja,« sagte dieser langsam, »was soll's mit ihm?«

»Wir bringen hier einen Gentleman, der zu Ihnen an Bord will.«

»Wo ist der Gentleman?«

»Hier!« rief der Mann, der am Maste stand. Damit nahm er seinen Handkoffer auf und trat an die Reeling des Kutters. »Ich bitte um die Erlaubnis, an Bord der ›Queen‹ kommen zu dürfen.«

»Was wollen Sie denn hier?« rief der alte Benson zurück, mißtrauisch das Aeußere des Mannes musternd, der einen schwarzen Rock, helle Beinkleider und einen dunkeln Filzhut trug, also weder ein Polizist noch ein Hafenbeamter sein konnte.

»Sie können unmöglich verlangen, daß ich Ihnen auf solche Entfernung und von hier unten aus meine Mitteilungen machen soll,« antwortete der Fremde.

Es entstand eine Pause.

»Fallreepsleiter überhängen!« befahl dann Benson.

Der Mann mit dem Handkoffer reichte dem von der Ruderpinne gekommenen Seemann die Hand, ob nur zum Abschied, oder aber um ihm Geld zu geben, das konnten die Passagiere der ›Queen‹ nicht genau erkennen. Dann kletterte er die Leiter empor und hatte bald das Deck der Bark erreicht.

Der Hauptmann Trollop strich, vor sich hinsummend, dicht an ihm vorbei; einige der übrigen Passagiere thaten schweigend dasselbe, wahrend der Ankömmling, nach Atem ringend, noch am Fallreep stand. Das Emporklettern war eine Anstrengung gewesen, da er nur eine Hand frei gehabt hatte, sich an der lose hängenden Leiter festzuhalten.

Der Schiffer, die Steuerleute und die Damen und Herren auf dem Achterdeck standen erwartungsvoll, des Herankommens des Fremden gewärtig; da wurde an Bord des Kutters die Leine losgeworfen, das Großsegel gehißt, und ehe der sich erstaunt umwendende Schiffer noch zu Worte kommen konnte, hatte das kleine Fahrzeug sich bereits davongemacht. »Glückliche Reise!« schrie der Mann an der Ruderpinne noch zurück, während das silbern schimmernde Kielwasser hinter ihm sich schnell verlängerte.

Mr. Matthews, der Steuermann, stand einen Augenblick wie angedonnert, dann aber forderte er mit Aufwendung all seiner Lungenkraft den Kutter auf, zurückzukommen, und so lange beim Schiffe zu bleiben, bis man wisse, was der fremde Mann wolle. Ein nur halb verständlicher Ruf der Weigerung wurde durch den feuchten Nachtwind noch vernehmbar, dann verschwammen die Linien des kleinen Fahrzeugs in dem weißlichen, schimmernden Mondnebel.

Inzwischen hatte sich der Ankömmling mit seinem Handkoffer auf das Achterdeck begeben, scharf und argwöhnisch beobachtet von den Herren, die er dabei zu passieren hatte, und die ihm dann, so dicht als möglich, auf dem Fuße folgten, um alles hören und sehen zu können, was sich zutragen würde. Der Mond schien so hell, daß man beinahe lesen konnte; der Fremde war ein kleiner, schmächtiger Mann mit langem, blondem Backenbart; sein Gesicht war blaß und seine dunkeln Augen hatten einen unruhigen Glanz, als sie die Umstehenden überflogen.

»Wenn ich nicht sehr irre, dann ist das James Murray,« flüsterte Mr. Dent seiner Gattin zu.

»Doch nicht der Direktor der Kolonialbank?« fragte die Dame leise.

Dent nickte, und jetzt hatte auch Kapitän Benson den Mann erkannt.

»Was?« sagte er. »Mr. Murray – sind Sie's wirklich?«

»Das ist mein Name, Kapitän,« war die Antwort, »und wenn Sie mir einige Minuten unter vier Augen schenken wollen, dann sollen Sie erfahren, weshalb ich auf so ungewöhnliche Weise an Bord gekommen bin, um mit Ihnen die Reise nach Europa zu machen.«

»Das möchte ich auch hören,« raunte Hauptmann Trollop dem Mr. Davenire zu.

»In dieser kleinen Handtasche bringt er all sein Reisegepäck mit?« sagte dieser.

»Ah, sieh da!« rief Mr. Murray jetzt, Dent die Hand entgegenstreckend. »Ein alter Bekannter! Das ist ja eine angenehme Ueberraschung!«

Und mit höflicher Verbeugung zog er vor Mrs. Dent den Hut ab.

»Lassen Sie vollbrassen, Mr. Matthews,« sagte der Schiffer und dann mit einer kurzen Handbewegung zu Murray: »Kommen Sie.«

Der Bankdirektor nahm seine Handtasche auf und ging hinter dem weißhaarigen Seemann her, die Kampanjetreppe hinunter. Trollop und zwei andere drückten sich wie von ungefähr um das offene Oberlichtfenster herum, durch das sie in den Salon hinabsehen konnten. Der Kapitän aber hatte sich mit Murray auf seinen Platz am oberen Ende des Tisches gesetzt, so daß die Lauscher nichts von dem, was da unten gesprochen wurde, ergattern konnten. Er richtete seine tiefliegenden, durchdringenden Augen forschend auf den neuen Passagier, der sich in unverkennbarer Erregung befand. Derselbe, ein Mann von etwa vierzig Jahren, zerrte an seinem langen, gelblichen Bart und begann:

»Ich war gezwungen, auf diese außergewöhnliche Weise zu Ihnen an Bord zu kommen, weil mir nichts anderes übrig blieb. Von der Hauptbank in London erhielt ich heute die Weisung, mich sogleich nach Empfang ihres Schreibens auf den Weg nach England zu begeben. Es handelt sich um die Entdeckung eines kolossalen Unterschleifs, und ich bin der einzige hier draußen, der den Londoner Direktoren dabei behilflich sein kann.«

»Wann erhielten Sie den Brief?« fragte Benson.

»In der letzten Nacht kam ein Schiff von London an – wie heißt es doch gleich?«

»Der ›Magier‹!«

»Ganz recht, der ›Magier‹. Ob die gesamte Post desselben so spät an Land geschafft wurde, ich weiß es nicht; genug, meine Briefe wurden erst heute gegen Mittag in meinem Kontor abgegeben. Unglücklicherweise war ich abwesend, in Geschäften. Als ich zurückkam und das Schreiben der Hauptbank gelesen hatte, da war die ›Queen‹ soeben unter Segel gegangen; kurz entschlossen mietete ich für schweres Geld den Kutter ›Jarra-Jarra‹, um Ihre Bark einzuholen. Meine Abreise geschah so überstürzt, daß ich kein anderes Gepäck als den kleinen Koffer, den Sie hier sehen, mitnehmen konnte.«

Trollop und Davenire erschienen im Salon, ersterer, um ein Glas Wasser zu trinken. Davenire brummte eine Melodie vor sich hin. Beide musterten Murray mit scharfen Blicken, als sie langsam hinter ihm vorbeigingen. Zögernd und bemüht, etwas von dem Gespräch aufzufangen, stiegen sie die Treppe wieder hinan.

Der Schiffer rieb sich unwirsch die Wange; die Sache wollte ihm nicht in den Kopf.

»Sie hätten doch bis zum Abgang des nächsten Schiffes warten können,« sagte er.

»Aber, bester Kapitän!« rief Murray, »Sie müssen es doch wissen, wie sehr jetzt die Schiffe durch die ewigen Desertionen der Mannschaften aufgehalten werden; es können noch vier Wochen vergehen, ehe das nächste Schiff nach Europa abzusegeln im stande ist!«

Das mahagonifarbene Antlitz Bensons verlor etwas von seinem mürrischen Ausdruck, denn der Bankdirektor hatte recht und diese Entschuldigung war stichhaltig.

Natürlich bezahle ich die Ueberfahrt genau so, als wenn ich mich bei den Agenten Ihrer Reederei hätte einschreiben lassen,« fuhr Murray fort, indem er ein Portefeuille, gefüllt mit Banknoten, hervorzog. »Die näheren Einzelheiten der Sache, die mich nach London ruft, erzähle ich Ihnen später. Geben Sie mir eine Kammer, wie Sie sie gerade haben, vorn oder hinten, ich bin mit allem zufrieden und zahle Passagegeld erster Klasse. Kann ich etwas zu essen erhalten? Ich komme um vor Hunger.«

Als der Kapitän sich erhob, begannen die Passagiere vom Deck herabzukommen. Er rief den Steward und trug ihm auf, Mr. Murray in einer Kammer unterzubringen und ihm einige Erfrischungen zu reichen; darauf begab er sich an Deck. Der Mann am Ruder schlug an der vor ihm über dem Kompaßhäuschen hängenden Glocke fünf Glasen; es war halb elf Uhr. Die Passagiere hatten sich so lange oben aufgehalten, um nicht zu stören, jetzt aber kamen sie, um ihren Nachttrunk, Grog oder Thee, zu nehmen, und die meisten waren auch müde.

»Das ist doch eine ganz merkwürdige Geschichte,« sagte Dent zu dem die Kampanjetreppe herauf kommenden Schiffer. »Wie kommt denn der Murray zu dieser überstürzten Abreise?«

Caldwell und Shannon, die in der Nähe waren, schlenderten heran. Der Kapitän berichtete in kurzen Worten, was er von dem Direktor erfahren hatte.

»Wer mir den Vorschlag gemacht hätte, dieses Klipperschiff mit einem Kutter zu verfolgen, den hätte ich für verrückt gehalten,« bemerkte der schwarze Caldwell. »Bei einigermaßen gutem Winde hätte die ›Queen‹ den Kutter in einer Woche um zwanzig Parallelkreise zurückgelassen.«

»So ist es,« nickte Benson; »mir ist die Sache auch nicht ganz klar.«

Damit ging er nach hinten zum Ruder, wo der Steuermann sich bisher aufgehalten hatte. Jetzt schritt Matthews weiter nach vorn, denn der Ort, wo der Kapitän verweilt, muß von jedem seiner Untergebenen gemieden werden, es sei denn, daß der Befehlshaber die Gegenwart derselben wünscht. Auf Bensons Anruf kehrte der Obersteuermann zurück, und beide Männer schritten eine Weile schweigend nebeneinander auf und ab.

Die Nacht war herrlich.

»Welches war das nächste nach England bestimmte Fahrzeug?« fragte der Schiffer.

Matthews nannte einen Namen.

»War es denn seeklar?«

»Ihm fehlte nur noch die Mannschaft.«

Der Schiffer blieb stehen und blickte über das Heck hinaus.

»Eigentlich hat dieser Murray doch ein ganz Teil kluge Berechnung und Entschlossenheit bewiesen,« fuhr er fort. »Die Hauptbank müßte ihm ihre Anerkennung ausdrücken. Wieviel Bankdirektoren hätten eine solche Energie entwickelt?«

»Ich kenne ihn nicht, habe ihn vorher nie gesehen,« sagte der Steuermann, »aber mir gefällt sein Gesicht nicht.«

»Er hat das Passagegeld prompt bezahlt,« versetzte der Schiffer. »Sein Aussehen geht mich nichts an. Er war übrigens halb verhungert und in sehr erklärlicher Aufregung, als er an Bord kam.«

»Mit einer einzigen kleinen Handtasche,« bemerkte der Steuermann hartnäckig.

Der Kapitän ließ ein Grunzen hören, was ein Mißfallen über die Begriffsschwere seines ersten Offiziers ausdrücken sollte. Matthews schickte sich an, wieder nach vorn zu gehen.

»Sind Ihnen zufällig einige unserer Passagiere bekannt?« hielt der Schiffer ihn zurück.

»Nein. Ich glaube aber, Mr. Poole kennt einen und den andern.«

Der alte Benson trat an das Oberlichtfenster und blickte hinunter. Einige Minuten lang beobachtete er schweigend die Passagiere, die trinkend und Biskuits kauend an der Tafel saßen. Soweit sein Gesichtsfeld reichte, waren dies zwei Damen, der Hauptmann Trollop, Mr. Masters und Mr. Burn. Der letztere trank Bier. Man lachte und unterhielt sich lebhaft. Einen Schritt mehr nach rechts thuend gewahrte der Schiffer nun auch den Bankdirektor, der den ihm aufgetragenen Speisen tüchtig zusprach und dabei eifrig mit Mr. Dent redete. Benson trat zurück und gesellte sich wieder zu dem Steuermann.

»Unter den Passagieren sind einige, die böse Zeiten hinter sich haben,« sagte er.

»Ja, und auch ein wüstes Leben,« setzte der Steuermann hinzu.

»Die Goldfelder geben einem Menschen immer ein ganz besonderes Aussehen,« nickte der Schiffer. »Uebrigens habe ich bemerkt, daß einige von denen da unten auch an Bord Bescheid wissen. Nun, mir soll's recht sein.«

Sie redeten noch dies und das über den Kurs und die Wetteraussichten, und dann suchte der Schiffer seine Koje auf, während der Steuermann seine Wache bis Mitternacht weiter versah.


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