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Das Grau des Berliner Alltags hatte die märchenhafte Buntheit Dalmatiens gründlich entfärbt.
Martin Gysander saß wieder in seinem kühlen, nüchternen Geschäftszimmer, das mit den hohen Fenstern auf einen düstern Innenhof des Polizeipräsidiums blickte. Der Fall Gundolic, wie er ihn in seinen Gedanken nannte, hatte andere Formen angenommen. In einen gleichgültigen Zigarettenschmuggel war Berlin mit hineingezogen worden, das auf Sauberkeit hielt und sich diese nicht von kroatischen Verschwörern beschmutzen lassen wollte.
Verbrecher hat es zu jeder Zeit gegeben und wird es zu jeder Zeit geben, die Grundfrage ist nur, was tut der Staat zu ihrer Bekämpfung? Seine Waffe ist die Polizei. Jede Zeit hat diejenige Polizei, die sie verdient, eine starke Zeit hat auch eine starke Polizei, und am stärksten ist die Polizei, wenn sie das Verbrechen in seinen Schlupfwinkeln aufsucht und nicht erst abwartet, bis es den Schlag gegen die bürgerliche Gesellschaft führt. Dazu gehört Verantwortungsbewußtsein, das vor einem Zugriff auch dann nicht zurückschreckt, wenn er im Augenblick vielleicht noch der gesetzlichen Grundlage entbehrt.
Das war auch Gysanders Standpunkt, er war ein Willensmensch und ein echtes Kind der neuen Zeit. Noch war der Fall Gundolic in ein vorläufig undurchdringliches Dunkel gehüllt, und der Dirigent der Kriminalpolizei wurde bei jedem Vortrag kühler und dienstlicher, so daß Gysander sich vor Scham und Wut innerlich verzehrte. Äußerlich blieb er stets der ruhige, zu Pflicht und Gehorsam erzogene Beamte. Kein Zucken des Gesichts verriet seine schäumende Erregung, wenn er die eisige Förmlichkeit seines Vorgesetzten beobachtete, die gemessene Höflichkeit, die mehr schmerzte, als offene Zurechtweisung. Zu dieser ließ es der Dirigent nicht kommen, dazu war er zu sehr Polizist, um nicht die Schwierigkeiten zu ermessen, die sich der Ermittlung Gysanders in den Weg stellten. Daher wurde er von Tag zu Tag mehr verstimmt, weil sein begabtester Kriminalist bis jetzt versagt hatte. Die dalmatinische Reise war im Grund auch ein Versager gewesen; nicht für das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Dort war nur eine Stimme der Anerkennung für den deutschen Kriminalbeamten. Aber die Entdeckung des kroatischen Verschwörernestes im Deutschen Reich war nicht gelungen. »Bis jetzt nicht«, murrte Gysander verbissen in sich hinein.
Woyka setzte im Lande alle Hebel in Bewegung, jede Woche sandte er einen Bericht über seine Ermittlungen, der auf neue Spuren hinwies; Gysander und der klugfindige Bergmann waren Tag und Nacht auf den Beinen, aber jeglicher Erfolg blieb aus.
Die Verschwörer hielten sich verborgen und ließen auch nicht den leisesten Hauch verspüren. Der freche Brief in der Kassette des alten Ripetta war ihre letzte Äußerung gewesen. Sie fühlten wohl, daß ihnen die Polizei im Nacken saß, da hatten sie ihren frechen Humor verloren. Solche Stille ist aber nie ein gutes Zeichen. Meist wird dann ein großer Schlag vorbereitet; und bei der hemmungslosen Verbrechernatur, die vor einem Mord nicht einmal zurückschreckte, mußte Gysander mit einem Angriff auf sein Leben rechnen. Darum war er sehr auf der Hut und wies auch Bergmann zu höchster Bereitschaft an.
»Ich kann eins nicht verstehen, Herr Kriminalrat«, grübelte dieser.
»Was haben Sie denn, lieber Bergmann, was bedrückt Ihre ehrliche Seele?«
»Ja, sehen Sie, alles in der Welt muß doch einen Grund und eine Ursache haben, alles was sich so tut und alles was getan wird.«
»Richtig, Sie alter Philosoph.«
»Und da meine ich, die Sache ist aus, die Kerle haben doch gar keinen Grund mehr, Sie zu verfolgen. Im eigenen Land sind sie geschlagen. Seit der Heimkehr Österreichs zum Altreich weht da unten ein anderer Wind. Ich meine die Kerle sinnen einen neuen Dreh aus, in dem wir keine Rolle mehr spielen.«
»Sie vergessen den rachsüchtigen Charakter der Kroaten. Ich habe ihnen die Suppe versalzen, und nun wollen sie mir an den Kragen, wissen anscheinend nur noch nicht wie … so was fühlt man.«
Damit brach der Kriminalrat das Gespräch ab. Es war schon vier Uhr geworden, da nahm er Hut und Stock und verließ sein Amtszimmer.
Der Alexanderplatz zeigte das Gesicht eines Spätsommernachmittags. Die Menschen eilten von der Tagesarbeit zu Ruhe und Erholung, das fleißige, schaffende Berlin rüstete sich, das Leben zu genießen. Ein prachtvolles Bild des siegreichen Wirtschaftskampfes. Frohe junge Gesichter überall, die Straßenbahnen waren dicht besetzt, die Omnibusse hoch aufgetürmt mit Menschen, denen das Glück der Ruhe nach einem arbeitsreichen Tag aus den Augen leuchtete. Nur der genießt erst richtig die Freiheit, der sie durch Arbeit erkauft hat. Müßiggänger und Lungerer sind verschwunden, die Bänke, auf denen in früherer Zeit die Pennbrüder Stammgäste waren, sind leer. Ein solcher Abend auf dem Alex wirkt wie ein Sinnbild des erfolgreichen Aufbaues. Ein Volk, das arbeiten und froh sein kann, erringt den Sieg auch im schwersten Lebenskampf.
Dieser Zauber von Wirklichkeit, von frischem Lebenswillen, ergriff auch den Kriminalrat. Er mußte unwillkürlich vergangener Zeiten gedenken, wo der Alex der Beobachtungsposten des lichtscheuen Ganoventums gegen das Präsidium war. Wie anders war es doch geworden, wie sauber und übersichtlich. Die Wachsamkeit des Polizisten durfte trotzdem nicht nachlassen. Das Verbrechertum ganz auszurotten, war noch nicht gelungen. Die Unsozialen tarnten sich und waren schwerer zu erkennen als früher. Ihre Kaschemmen und Schlupfwinkel waren ausgeräuchert, sie hatten sich in bürgerliche Wohnungen zurückgezogen, aber auch dorthin war ihnen der scharfäugige Beamte nachgegangen und hielt sie unter ständiger Beobachtung. Dazu half die Erfahrung und der treffliche Berliner Erkennungsdienst.
Jetzt geriet Gysander in den Strom, der aus der Königstraße über den Platz flutete, und da fiel ihm ein Gesicht auf, bleich mit großen dunkeln Augen, die ihn auffällig anstarrten. Es war etwas in diesen Augen, das Aufmerksamkeit, fast Verdacht erregte, nicht das Anstarren, sondern der Ausdruck. Auf einmal hatte er es, diese schlanke Frauensperson hatte den Vigilantinnenblick, der auch durch das Ebenmaß ihrer schönen Züge durchschimmerte. Was wollte diese Frau? Ihn beobachten, oder gar angreifen? Er grübelte in sich hinein. Wo hatte er diese Augen schon gesehen? Seine Gedanken machten Sprünge: Wiesbaden, Homburg, Kissingen, Spaa … nein, kein Badeort … Hoppegarten … Baden-Baden, Longchamps, Auteuil, Epsom … auch kein Rennplatz … Monte Carlo? Nein. Er konnte keinen Anhalt finden, und doch waren ihm diese Augen nicht fremd. Vielleicht eine Ähnlichkeit, sagte er sich, die mir aufgefallen ist, und damit war der Fall erledigt.
Als er sein Heim betrat, teilte ihm seine Hausdame mit, daß eine Frau dagewesen sei, die ihm Steine verkaufen wollte.
»Ich habe sie auf sechs Uhr wieder bestellt.«
»Aber warum denn? Die Frau soll nach meinem Amtszimmer kommen, Zu Hause empfange ich keine fremden Personen … Übrigens, es ist ja eben sechs, da wird sie wohl gleich antanzen. Also, Frau Liesehof, ich bin für niemand zu sprechen.«
»Gut, Herr Kriminalrat.«
Die Frau kam pünktlich und wollte sich nicht abweisen lassen. Sie müsse Herrn Kriminalrat persönlich sprechen, denn sie habe etwas abzugeben von Herrn Porten aus Kiel.
Gysander, der das Gespräch hinter seiner Tür mit angehört hatte, horchte auf. Herr Porten war ein Artefaktensammler in Kiel, der ihm manchmal Doppelstücke aus seinen Funden zusandte. Darum öffnete er leise und vorsichtig einen Spalt seiner Tür, um die Besucherin zu sehen.
Herrgott, das war ja die Person mit dem Vigilantinnenblick, diese Augen waren nicht zu verkennen. Bedeutete das eine Erkundung oder schon den Angriff selbst?
Noch hatte er die Vorhand. Schnell riß er die Türe auf:
»Was ist denn los, was will die Dame?«
»Bitte Herr Kriminalrat, ich komme von Herrn Porten aus Kiel, er sendet Ihnen diese Doppelstücke zum Tausch.« Dabei reichte sie ihm ein mittelgroßes Holzkästchen hin.
Gysander nahm es nicht ab, sondern nötigte die Frau in sein Zimmer, wobei er seiner Hausdame den verabredeten Wink gab, einen uniformierten Beamten vom nächsten Polizeirevier zu holen. Dies besorgte sie fernmündlich in dem Restaurant nebenan, indes er seinen Besuch so lange hinhielt‚ bis der Schutzmann eintraf.
»Nehmen Sie, bitte, Platz«, begann er sehr höflich das Gespräch. »Wie geht es Herrn Porten, sammelt er noch eifrig?«
»Es geht ihm gut, er läßt bestens grüßen und sendet Ihnen hier eine Anzahl Stücke zum Tausch.«
»Sehr schön, aber ich habe keine Werte, die ich abgeben könnte.«
»Das macht nichts, Herr Porten hat ein Preisverzeichnis beigelegt, falls Sie den Wunsch haben sollten, einiges käuflich zu erwerben, es seien nur die Auslagen berechnet, Herr Porten macht kein Geschäft daraus.«
Donnerwetter, dachte Gysander, der Gegner hat sich gut vorbereitet und die Art seines Verkehrs mit dem Kieler Sammler eingehend studiert. Oder war die Sendung echt?
»Wollen Sie sich die Stücke nicht einmal ansehen?« drängte jetzt die Frau.
»Das hat Zeit, Sie lassen mir doch das Kästchen hier?«
»Gerne, aber werfen Sie doch einen Blick darauf«, nötigte sie von neuem.
Jetzt war es Gysander mehr als wahrscheinlich, daß etwas gegen ihn beabsichtigt war. Der Plan schien durchsichtig: Man rechnete mit seinem Sammlerinteresse für Feuersteingeräte aus der vorgeschichtlichen Menschenzeit. Er war also gut beobachtet werden.
»Bitte, sehen Sie doch die Sachen an.« Die Dame setzte ein verführerisches Lächeln auf.
Warum drängte sie, daß er das Kästchen öffnete?
Löste das Aufheben des Deckels vielleicht eine darunter verborgene Mordmaschinerie aus? Schwer genug war es.
Aber … Feuersteine sind auch schwer. Gut eingefädelt … so fiel das Gewicht nicht auf. Höllenmaschine, ein ganz veralteter Trick … Waren die Gauner so gedankenarm oder schätzen sie ihn so niedrig ein? Nein, nein, eher glaubte er an eine neuartige Teufelei, die sich hinter einem kindlichen Streich tarnte … Ein Ablenkungsmanöver, ein Scheingefecht. Jedenfalls durfte der merkwürdige Damenbesuch nicht in das feindliche Lager zurück.
Da ging die Flurtür, und die Tritte schwerer Stiefel klangen auf der Diele. Der Beamte trat ein.
»Nehmen Sie die Dame fest; Frau Melchior soll sie genau durchsuchen.«
»Was heißt das?« fuhr der Besuch heftig auf
Der Beamte antwortete gemütlich:
»Kommen Sie man ruhig mit, ist ja bloß 'ne Formsache.«
»Ich werde mich beschweren.«
»Das steht Ihnen frei, vorläufig kommen Sie mit, denn Sie sind festgenommen.«
»Schicken Sie mir, bitte, den Kriminalbeamten des Reviers her«, verfügte Gysander. »Das Kästchen hier muß mit aller Vorsicht geöffnet werden, es könnte Sprengstoff enthalten.«
In diesem Augenblick sprang die Besucherin auf, schoß durch die angelehnte Tür auf den Flur hinaus, die Treppe hinunter und durch die Haustür auf die Straße.
Dort lief sie dem zweiten Beamten in die Arme, den der Reviervorstand vorsorglich mitgeschickt hatte, um an der Türe Wache zu halten. Er war mit den Listen der Großstadtgauner vertraut.
»Nana, Madamken, man nich so eilig.« Damit hielt er die Flüchtige am Handgelenk fest, bis der Kollege herausgestürzt kam und ihr die Kette anlegte.
Eine Stunde später läutete das Revier bei Gysander an, daß die festgenommene Dame ein verkleideter Mann sei. Das Kästchen war nach dem Präsidium gebracht und dem Fachmann für Höllenmaschinen überliefert worden.
Es hatte sich als völlig harmlos erwiesen, es enthielt in der Tat nur Feuersteine und ein Preisverzeichnis von Herrn Porten, dessen Handschrift Gysander sehr gut kannte. Auch gegen den Festgenommenen lag nichts vor, als daß er sich Damenkleider angezogen hatte, seine Papiere waren in Ordnung, sie lauteten auf den Kaufmann Fritz Kollmann aus Stettin.
Auf die Frage, warum er in Frauenkleidern herumlaufe, erfolgte die Antwort, daß er einen unüberwindlichen Drang fühle, sich zu verkleiden, er sei überhaupt kein Mann, sondern ein Weib, wenn er auch männlich gebildet sei. Darauf war er der Irrenanstalt Herzberge zur Beobachtung überwiesen worden.
Trotzdem war Gysander nicht von dem Gedanken abzubringen, daß dieser eigenartige Besuch einen Anschlag auf sein Leben hatte vorbereiten sollen. Man beabsichtigte die Gelegenheit auszukundschaften und ihn sicherzumachen. Ein zweiter oder vielleicht sogar ein dritter Besuch sollte dann die Entscheidung bringen. Sicher gemacht würde er weitere Sendungen von Feuersteinen öffnen und dabei zu Schaden kommen. Außerordentliche Vorsicht war geboten.
Was mochte nur die dalmatinischen Schmuggler veranlaßt haben, ihn so hart zu verfolgen? Gewiß, er hatte ihnen ein großes Unternehmen vereitelt, aber das allein konnte doch nicht der Grund sein. Wohl waren diese Menschen von Natur sehr rachsüchtig, aber das Geschäft galt ihnen doch mehr, als die Befriedigung ihrer Rache, und wenn sie einen so umfassenden Angriff machten, mußten sie Gysander als ernste Gefahr ansehen … Halt, da war noch etwas anderes … die ungesühnten Mordtaten an dem dalmatinischen Händler und dem Inspektor Stojan. War er etwa der Wahrheit nahegekommen, hatte er den Schlüssel des Geheimnisses in der Hand? Dann freilich gab es einen Kampf auf Leben und Tod.
Er beschloß, die Sache mit dem Dirigenten zu besprechen, dieser hervorragende Kriminalist würde Rat wissen. Der Brief, das Kästchen, der festgenommene Verkleidungskünstler gaben Anhaltspunkte genug, die Verbrecher zu stellen.
Der Dirigent nahm die Sache sehr kühl auf:
»Was eigentlich beunruhigt Sie denn, mein lieber Gysander? Daß Sie verfolgt werden, daß Ihr Leben bedroht ist? Das dürfte einem Polizisten nichts neues sein. Lebensgefahr ist unser Normalzustand. Wenn Ihnen das nicht paßt, hätten Sie Schneider oder Handschuhmacher werden müssen.«
»Das habe ich nicht verdient, Herr Geheimrat!«
»Wer wird nach seinem Verdienst behandelt? Glauben Sie etwa, daß es mir besser geht als Ihnen? Der Herr Präsident liegt mir täglich in den Ohren, die Kriminalität gehe nicht genügend zurück …«
»Ja, wenn man offen mit der Bande kämpfen könnte, Auge in Auge, aber so; sie sitzen in ihren gut verwitterten Verstecken und lachen uns aus.«
»Das ist so ihre Art. Auch der Hase drückt sich in die Furche, um dem Jäger zu entgehen … Ich will Sie zum Fundbüro oder zur Kanzlei versetzen lassen, wenn Sie den Mut zu unserem Handwerk verloren haben.«
»Herr Geheimrat, Sie wollen mich heute verletzen.«
»Ja, das will ich! Haben Sie mich endlich verstanden? Schamrot sollten Sie werden! Worüber beklagen Sie sich …? Sie haben bis jetzt große Umsicht bewiesen und Erfolge gehabt.«
»Schöne Erfolge … nichts habe ich geleistet … alle Kombinationen sind zerplatzt …«
»Irrtum, lieber Freund. Ihr größter Plus ist die Tatsache, daß man Ihr Leben bedroht. Wenn Sie nicht auf dem rechten Weg wären, kümmerten sich die Gauner den Deuwel um Sie. An einen Racheakt glaube ich nicht, diese Schmuggler haben nicht einmal so viel Charakter, um ein Rachegefühl zu empfinden, Rachsüchtige Menschen sind immer ganze Kerle. Rache ist eine männliche, eine tapfere Leidenschaft. Diese schäbigen Schmugglerganoven haben so männliche Gefühle wie Rache überhaupt nicht.«
»Herr Geheimrat vergessen die kroatischen Verschwörer.«
»Die sind wahrscheinlich längst aus Berlin fort, wenn sie überhaupt da waren. Was wollen sie hier? Anscheinend nur das Zigarettengeschäft organisieren, um für ihre politischen Ziele Geld zu machen. Das ist Dank unserer Wachsamkeit mißlungen.«
»Warum sind sie dann noch hinter mir her?«
»Beantworten Sie sich die Frage selbst.«
»Das kann ich eben nicht.«
»Dann wollen wir mal gemeinschaftlich durch strenge Zergliederung der Tatsachen versuchen, der Sache auf den Grund zu kommen. Nur tun Sie mir den Gefallen und fangen Sie nicht mit Logik an. In der Verbrecherfahndung gibt es keine Logik. Kein verbrecherischer Plan kommt so zur Ausführung, wie er angelegt war. Das liegt daran, daß in den meisten Fällen der Spion, der Baldower, der Ausmittler und der Ausführer verschiedene Personen sind. Kein Mensch kann mit den Augen eines andern sehen; eine Fliege an der Wand kann den bestangelegten Plan über den Haufen werfen … aber ich verliere mich in die kriminelle Philosophie …«
»Die für mich sehr lehrreich ist.«
»Also zur Sache. Ihre Beobachtung, daß man nur Sie verfolgt und nicht uns, ist wichtig. Aber ich glaube nicht, daß man Sie beseitigen, ermorden will. Denn die Kerle wissen ganz genau, daß ein Mord ungeheures Aufsehen macht und ihnen dann doch ein anderer Verfolger ersteht. Der Angriff richtet sich nicht gegen Ihre Person, sondern gegen eine Sache, die Sie in Besitz haben, ein Beweisstück, eine Quittung, ein Brief, eine Photographie, weiß der Deuwel, was es sein mag. Das Stück müssen die Kerle haben um jeden Preis, und darum scheuen sie vor keinem Verbrechen zurück.«
Das Telephon … Der Geheimtat nahm den Hörer ab: »Ja, Herr Gysander ist hier, wollen Sie ihn sprechen? … Gut sagen Sie es mir. Zum Henker auch, da haben wir's.« Er legte den Hörer auf. »Ihre Wirtin war zum Einkaufen fortgegangen … inzwischen ist bei Ihnen eingebrochen werden, alles durchwühlt … Haben Sie die Akten Gundolic zu Hause?«
»Nein, hier im Präsidium.«
»Dazu wünsche ich Ihnen Glück … Und jetzt sehe ich klar, es ist so, wie ich vermutete, diese Akten enthalten eine für die Gauner wichtige Einzelheit, die sie unter allen Umständen zurückhaben müssen.«
»Die schwarze Ledertasche?«
»Was enthält sie denn?«
»Geschäftspapiere, für uns bedeutungslos.«
»Bedeutungslose Papiere gibt es für den Polizisten nicht. Unsere ganze Kunst besteht darin, das Ungleichartige, Auseinanderliegende zusammenzureimen, zu kombinieren, im Verschiedenen verborgene Ähnlichkeiten zu erkennen, Zusammenhänge zu finden, wo anscheinend keine sind. Holen Sie die schwarze Ledertasche her.«
Gysander ging nach seinem Geschäftszimmer, schloß seinen Schreibtisch auf, um die schwarze Ledertasche herauszunehmen, aber … er wurde blaß, seine Hände zitterten … sie war verschwunden. Er rief seinen Wachtmeister.
»Ist jemand in meinem Zimmer gewesen?«
»Ja, ein uniformierter Beamter vom 43. Revier, der einen Bericht über die Festnahme des p. Kollmann brachte.«
»Wo ist der Bericht?«
»Der Beamte wollte ihn dem Herrn Kriminalrat auf den Schreibtisch legen.«
»Hier liegt nichts.«
»Er sagte …«
»Ach was, sagte … sind Sie mit ihm in mein Zimmer gegangen?«
»Nein, für den einen Augenblick …«
»Unglücksmensch, in diesem einen Augenblick hat der Kerl die schwarze Ledertasche gestohlen.«
Der Wachtmeister machte ein Gesicht, als sollte er hingerichtet werden. Gysander fand schnell seine Fassung wieder:
»Vorwärts, alle Beamten der Abteilung auf die Straße, ein Uniformierter ist keine Stecknadel, er muß sich irgendwo umkleiden. Vorwärts, vorwärts, der Kerl muß ermittelt werden, oder ich lasse euch alle ablösen.«
Als der Dirigent der Kriminalpolizei von dem Diebstahl unterrichtet worden war, zeigte er sich als echter Polizeibeamter. Anstatt den ratlosen Gysander zu tadeln, tröstete er ihn:
»Wer noch keinen Fehlschlag erlebt hat, errang noch nie einen großen Erfolg. Der Kriminalist ist dem Verbrecher gegenüber immer im Nachteil. Besonders wenn dieser mit solch beispielloser Kühnheit vorgeht und sich bis in das Geschäftszimmer seines Verfolgers wagt. Es war ein Schritt der Verzweiflung, und Verzweiflung ist ein Zustand der Überheizung und Überreizung. In solcher Verfassung gibt sich jeder Mensch Blößen. Als Hektor sich im Kampfe mit Achilles aufregte, weil er sich von seinem Bruder, Deiphobos glaub' ich hieß er, verlassen sah, löste sich seine Halsrüstung. Dorthin richtete dann Achilles den tödlichen Speerstoß.«
Gysander lächelte. Wenn der Geheimrat sich in klassischen Erinnerungen erging, war er gut gestimmt und hoffnungsfreudig. Da fuhr er auch schon fort:
»Also, mein Herr Achilles, der Gegner zeigt den bloßen Hals, stoßen Sie zu.«
Damit war der Kriminalrat entlassen.
Wo sollte er anpacken? Den falschen Beamten suchen? Seit seinem Auftreten war schon zu viel Zeit verstrichen, er konnte längst die Uniform abgelegt haben. Die Sorglosigkeit seines Wachtmeisters war unverzeihlich, aber, aber, die Uniform tut stets ihre Wirkung … Der Hauptmann von Köpenick lebt immer wieder auf … Da war nichts zu machen. Der einzig sichere Angriffspunkt war bei Kollmann, dem Damenimitator.
Die Hilfsmittel der Polizei zur Auffindung einer dem Äußeren nach bekannten Person sind reich und zuverlässig. Gysander setzte den gewaltigen Apparat sofort in Bewegung: Eine Depesche mit der Personalbeschreibung war in wenigen Minuten aufgesetzt, und schon gab sie der Telegraphist weiter an alle Dienststellen der Reichshauptstadt. Strengstens war angeordnet, den Träger der schwarzen Ledertasche nicht festzunehmen, sondern zu beschatten, das heißt, ihm unauffällig zu folgen, wohin er sich immer wandte. In einer halben Stunde war der gesamte Straßendienst unterrichtet, und bald liefen die ersten Mitteilungen ein, wo überall der Gesuchte gesehen werden war. Zwei Beamte in Zivil blieben ihm auf den Hacken.
Gysander hetzte im Auto hinter ihnen her und erreichte sie mitten im Menschengedränge am Strausberger Platz.
In Berlin kann ein Verfolgter der Polizei nicht so leicht entgehen wie in anderen Weltstädten. In der Reichshauptstadt gibt es keine Schlupfwinkel, keine Häuser mit verschiedenen Ausgängen wie in London oder Paris. Die Berliner Verbrecher haben andere Kniffe ausgefunden, sie entwetzen über die Dächer nach dem nächsten Straßenzuge, aber dazu gehören Übung und Mut, die nicht jeder hat. Einfacher ist es, von einem Knotenpunkt verschiedener Straßenbahnen eine Fahrt ins Blaue zu machen. Ein geschulter Berliner Kriminalbeamter läßt sich dadurch aber nicht verblüffen. Er hat das Liniennetz im Kopf und erwägt alle Möglichkeiten des Umsteigens. Trotzdem fand Gysander die beiden Kriminalschutzleute, die dem Mann mit der schwarzen Ledertasche gefolgt waren, ratlos an einer Haltestelle der Straßenbahn stehen. Ihr Mann war untergetaucht, verschwunden.
Gysander war wütend, aber mit Wut konnte er nichts anfangen. Er nahm die Verfolgung sofort auf:
»Los! Alle Zigarrengeschäfte, Stehbierhallen, Destillen, Straßenhändler abgrasen, der eine links-, der andere rechtsrum. Wir treffen uns hier wieder.«
Dann ging er selbst auf die Suche. Er nahm die Straßenhändler vor, besonders den »Tantenphilipp«.
Das war ein alter Stammgast am Strausberger Platz, der sich unentwegt anpries: »Alles für die Dame, Stecknadeln, Lippenstifte, Wangenrot, Zauberkrem, Augenfeuer!«
»Halt mal die Luft an, Philipp.«
»Na watte denn, Herr Kriminal?«
Gysander verständigte den Alten, der schon bei den ersten Worten verständnisvoll lächelte und nickte.
»Das war der Birkenpeter mit die schwarze Ledertasche, der jeht mit die Mollenhanne.«
»In der Kaffeeklappe, Andreasstraße?«
»Janz recht, in de ›dufte Neune‹. Das is sein Stammlokal, aber aus dem kriegen Se nischt raus. Der kaspert Ihnen die Hucke voll und allens is jeschwindelt.«
»Laß man, Philipp, wenn du mich nicht verpfeifst, daß er Polente wittert, werd' ich ihn schon ausnehmen.«
»Der wird Martinen nich kennen … den Zahn lassen Se Ihnen man ziehen. Viel Glück zu die Operation, Herr Kriminal.«
Gysander war von seiner Absicht, den Burschen festzunehmen, abgekommen. Er kannte den Birkenpeter. Das war ein Schwadroneur, der Himmel und Hölle voll log.
Eine Vernehmung hatte gar keinen Zweck. Man mußte ihn an der langen Leine laufen lassen und scharf beobachten, mit wem er verkehrt und wo er bleibt.
Er zog seine Beamten ein, begab sich mit ihnen in das nächste Lokal, um ihre Berichte entgegenzunehmen und weitere Anordnungen zur Ermittlung und Überwachung des Birkenpeters zu treffen.
Gysander war überall bekannt, und so öffnete der Wirt ohne weiteres den Beamten das Vereinszimmer, wo sie ganz ungestört waren. Trotzdem wurde die Besprechung im Flüsterton geführt.
Die Fahndung schien in einer Pechsträhne zu laufen.
Als der Kriminalrat den Namen »Birkenpeter« genannt hatte, meldete sich der Kriminalschutzmann Beermann zum Wort. Sein Sondergebiet waren alle jene zweifelhaften Frauen, die ohne selbst kriminell zu werden doch dem Verbrechen Vorspann leisten.
»Den Birkenpeter hab' ich gesehen. Er kam aus dem Postamt in der Petersburger Straße. Er griente mich frech an …«
Gysander ließ den Beamten nicht ausreden. Mit einem Sprung war er in seinem Wagen und schon im Fahren erteilte er den Befehl, ihm nach dem Postamt nachzukommen.
»Alle Beamten …« warf er noch hin.
Das Postamt in der Petersburger Straße gehört zu den mittleren. Es hat mehrere Schalter. Gysander trat an das erste heran, das leer wurde und fragte nach dem Vorsteher, indem er diskret seine Ausweismarke zeigte. Darauf wurde er in das Amtszimmer geführt.
»Herr Vorsteher, würden Sie die Güte haben feststellen zu lassen, ob ein gewisser Peter Birkenbusch, genannt Birkenpeter, vor etwa einer halben Stunde ein Paket aufgegeben oder abgeholt hat.«
»Abgeholt unmöglich, Herr Kriminalrat. Wir nehmen nur Pakete an und haben dafür im Hof eine besondere Stelle … Ist der Mann im Hof oder im Schalterraum gewesen?«
»Darüber wird einer meiner Beamten Auskunft geben können, sie folgen mit auf dem Fuß.«
»Dann wollen wir mal nach dem Paketraum gehen, denn wenn Ihr Mann dort war, kann er nur ein Paket aufgegeben haben.«
Der Schalterbeamte hatte in der letzten Stunde nur fünf Pakete angenommen und legte dem Vorsteher die Adressen vor.
Ja, was war denn das? Gysander traute seinen Augen nicht, die wie gebannt auf der letzten gelben Karte hafteten. Diese trug seine eigene Adresse. Der Vorsteher ließ sich die Sendung vorlegen.
»Ich beschlagnahme das Paket.«
»Nicht nötig, Herr Kriminalrat. Es trägt ja Ihre Adresse, und mir gegenüber sind Sie genügend legitimiert.«
Die Sendung war eine längliche Pappschachtel, sorgfältig in braunes Papier eingepackt und mit neuem Bindfaden verschnürt. Alles zur Auflieferung nötige schien gut vorbereitet gewesen zu sein, denn weder die Schrift noch die Verpackung wiesen Zeichen von Eile auf. Gysander löste den Knoten, ohne den Bindfaden zu verletzen, der Vorsteher folgte interessiert seinem Tun.
»Hier haben Sie eine Schere, Herr Kriminalrat, wozu machen Sie sich so große Mühe.«
»Große Mühe belohnt sich oft … An solch einer Strippe ist schon mancher Verbrecher aufgehängt worden. Sie haben keine Ahnung, was so ein Endchen Bindfaden zu berichten weiß … Ich habe jetzt nur keine Zeit, sonst könnte ich Ihnen von wenigen Zentimetern Packschnur erzählen, durch die eine internationale Bande von Eisenbahnräubern ermittelt und verhaftet wurde.«
»Fürchten Sie keine Höllenmaschine?«
»Dazu ist das Paket zu leicht.«
»Anscheinend haben die Gauner vorausgesehen, daß Sie hierherkommen würden.«
»Vielmehr, Herr Vorsteher, sie haben mich hierhergelockt. Unsere ganze Fahndung wurde von Anfang an beobachtet und gut beobachtet. Dafür kann ich Ihnen sofort den Beweis liefern.«
Er deutete auf die Adresse. Da stand »Postlagernd Postamt O 34«. Dann fuhr er fort:
»Und der Inhalt dieser Sendung ist eine schwarzlederne Aktentasche mit Papieren, unter denen jedoch das wichtigste, das ich gerade verfolge, fehlt.«
»Darf ich öffnen?«
»Ich bitte darum.«
»Großartig«, rief der Beamte, als er die schwarze Tasche aus ihrer Papierhülle hervorzog. »Die Polizei ist wirklich findig.«
»Lange noch nicht findig genug, sonst hätte eine Frechheit wie die Absendung der Tasche an mich gar nicht geschehen dürfen. Aber wartet nur, dieser Hohn wird gerochen.«
In diesem Augenblick traf Wachtmeister Bergmann ein.
»Gut, daß Sie kommen. Ich habe einen wichtigen Auftrag für Sie.«
Und nun unterrichtete er den Beamten über das Paket und übergab ihm die Pappschachtel, das Papier, worin sie eingeschnürt gewesen, und den Bindfaden.
»Nehmen Sie dies und« … er wandte sich an den Vorsteher … »Sie überlassen der Polizei wohl die Paketadresse.«
Der Vorsteher reichte ihm den gelben Karton, den Gysander in seiner Brieftasche barg.
»Und nun stellen Sie fest, wo der Packbogen und der Bindfaden gekauft wurden. Wahrscheinlich in dem gleichen Geschäft, suchen Sie ferner zu ermitteln, woher die Pappschachtel stammt, und dann sehen Sie zu, wo der Birkenpeter abgeblieben ist.«
Gysander schickte seinen Wagen nachdem Polizeipräsidium und ging zu Fuß nach Hause. In seinem stillen Arbeitszimmer war die richtige Abgeschlossenheit für die Lösung schwerer Denkprobleme.
Zunächst galt es die Tasche sehr genau zu untersuchen, da steckte er schon. War die Tasche wirklich wichtig? Noch wichtig? Nachdem sie so lange in den Händen der Gauner war, hatte sie für die Ermittlung jeden Wert verloren. Immerhin, es war ein Beweisstück, das durch die Hände mehrerer Menschen gegangen war, und Menschenhände hinterlassen Spuren: Fingerabdrücke? … Nein, die Tasche war sehr sorgfältig abgewischt. Warum hatte man ihm die Tasche geschickt? Ein Ablenkungsmanöver? Er sollte seinen ganzen Scharfsinn auf die Tasche verwenden, dann war das übrige Gebiet frei, und die Gauner konnten in ihrem Interesse arbeiten … Sicher, so war der Gedankengang, dessen Ergebnis die Absendung der Tasche war. Und hatte die Tasche nicht schon ihre Wirkung getan? Bergmann hetzte in der Stadt herum, um Aufklärung über das Packmaterial zu schaffen. Weg mit der Tasche … Die Lösung des kriminellen Problems lag ganz woanders. Da war als greifbar nächste Person der Birkenpeter.
Dieser Bursche war kein Verbrecher, nur arbeitsscheu und gänzlich verbummelt. Stundenlang saß er in der Kaffeeklappe bei einem einzigen Glase Bier, aber der Wirt sah ihn trotzdem gern, denn der magere Gast war ein Spaßmacher und unterhielt eine ganze Gesellschaft, wenn er bei guter Laune war; und das war er immer, wenn er etwas zu essen hatte. Dafür sorgte der Wirt, es fiel stets etwas ab, und Peter war kein Kostverächter. Sein Gebiet war der Stettiner Bahnhof, dort war er bekannt und fand allerhand gewinnbringende Beschäftigung. Dabei beobachtete er den gesamten Verkehr sehr scharf, er sah alles, wußte alles und verstand, wo es not tat, sogar zu schweigen. Das Gesindel, das um den großen Fernbahnhof lauerte, war seine dauernde Kundschaft. Nicht etwa, daß er dessen lichtscheue Arbeit unterstützt hätte, im Gegenteil, er verriet seine besten Freunde, wenn es ihm Vorteil zu bringen schien. Er hatte dafür schon manche Prügelsuppe übernommen, aber er änderte sich nicht.
Für die Polizei war er ein schwerer Fall. Zu einer klaren Aussage ließ er sich nie herbei, obwohl er jede Frage beantwortete. Aber die Art, wie er es tat, war so, daß jede seiner Aussagen wertlos wurde. Mit vielem Getue sagte er gar nichts. Er beteuerte mit großen Tönen seine Wahrhaftigkeit und log wie gedruckt. Ein gewiegter Frager bekam trotzdem manches Wichtige aus ihm heraus. Aber wo war er? Anscheinend hatte er Wind bekommen, daß er zur Vernehmung vorgeführt werden sollte und war im Treiben und Trüben der Weltstadt untergetaucht. Endlich gelang es dem findigen Bergmann, ihn unter einer Stoppkolonne auf der Strecke nahe dem Stettiner Bahnhof zu entdecken. Er machte den Kalfaktor der Arbeiter.
Eine Stunde später saß er in Gysanders Vorzimmer bei Wachtmeister Bergmann und den übrigen Beamten. Gysander ließ ihn warten, und da Peter gern plauderte, fing er bald ein Gespräch an. Bergmann nahm den Faden auf, zündete sich eine Zigarette an, was sonst in den Diensträumen verboten war. Als er die begehrlichen Blicke Peters sah, reichte er ihm mit gut zur Schau getragener Freundlichkeit die Schachtel hin:
»Na brenn dir man eine an.«
»Danke, Herr Wachtmeester, Sie wollen sich bei mir inschmeicheln, det ick pfeife, aberst et tut mir leid, ick weeß jar nischt von die Tasche.«
Ah, jetzt hatte er sich verschnappt. Von der Tasche war überhaupt noch nicht die Rede gewesen, er hatte also den Inhalt des Paketes gekannt, als er es zur Post gegeben. Darauf gestoßen, gab er es zu. Das Paket habe er von einem feinen Herrn erhalten, um es beim nächsten Postamt aufzuliefern, sechs Dreier habe er Botenlohn bekommen. Bergmann fragte nicht weiter, das war Sache des Chefs, er machte nur eine Aktennotiz, die er sofort dem Kriminalrat ins Zimmer brachte.
Die Beamten arbeiteten weiter. Der Fernsprecher ging dauernd, Akten wurden gebracht und abgeholt, aber das Zimmer Gysanders blieb verschlossen. Warten lassen, Ungewißheit schaffen, das ist eine alte Gepflogenheit jedes Untersuchungsbeamten. Schon das Warten allein macht mürbe, die Langeweile ist der beste Gehilfe in jedem Ermittlungsverfahren. So ging eine Stunde hin, endlich klingelte Gysander, und Bergmann, der dem Zeichen gefolgt war, kam sofort wieder heraus und führte den Birkenpeter vor.
»Nun, Peter Birkenbusch, wie lebt sich's denn so in preußisch Berlin?«
»Ick bünn hier zu Hause.«
»Das heißt, Sie fühlen sich wohl.«
»Det sowieso.«
»Nehmen Sie 'ne Zigarette?«
»Ick rooche ihr sojar.«
Gysander reichte ihm eine Trebinjac und beobachtete scharf, ob er sie gleichgültig hinnahm oder der Marke besondere Beachtung schenkte.
Der Schuß traf ins Schwarze. Birkenpeter drehte das Röllchen in der Hand um, roch daran, zündete umständlich an und zog mit sichtlichem Behagen den feinen Duft des dalmatinischen Tabaks ein.
Blitzschnell formte Gysander seinen Verhörsplan. Erster Grundsatz: Kommen lassen, nur nicht von der Zigarette anfangen, den schlauen Burschen nicht hellhöriger machen, als er schon ohnedies war. Also mit etwas ganz anderem beginnen. »Sagen Sie mal, alter Freund, Sie sind doch am Stettiner Bahnhof gut bekannt?«
»Det wollt ick meenen.«
»Da sind in der letzten Zeit aus der Packkammer und sogar vom Bahnsteig auf ganz seltsame Weise Gepäckstücke gestohlen worden. Die Beamten und die Träger sind alle seit Jahren bewährte Leute, so daß auf sie keinerlei Verdacht fällt.«
»Jelejenheet macht Diebe.«
»Wissen Sie vielleicht, ob einer Schulden hat, oder sonst mit Schwierigkeiten kämpft?«
»Warten Se mal, Herr Rat: Da ist der Krischan, der Mecklenburger. Die Frau jeht mit's dritte Kind, und er sauft eenen großen Wachtmeester nach'n andern. Und wenn 'n Kerl mit saufen anfängt, is er ooch nich weit von't klauen.«
Gysander kannte den verdächtigten Gepäckträger. Er war treu und ehrlich, trank auch nicht mehr, als sein schwerer Dienst zuließ.
Da trat Bergmann nach kurzem Klopfen ins Zimmer und reichte seinem Vorgesetzten ein Aktenstück, dessen Außenseite mit Streifen roten Papiers beklebt war, den sogenannten »roten Esel«. Er enthielt wichtige, vor allem eilige Mitteilungen, die sich auf das schwebende Verhör bezogen.
Peter kannte den roten Umschlag, er wurde unruhig und fühlte das Herannahen der Gefahr.
Gysander vertiefte sich in die Akten, zwischen deren eingehefteten Stücken die Mitteilung so geschickt eingelegt war, daß nur der wissende Beamte sie finden konnte. Der Birkenpeter leuchtete mit seinen Luchsaugen die Gesichtszüge des Kriminalrats ab, sie schienen jedoch von Stein, trotzdem die Mitteilung von höchster Wichtigkeit war und sein sofortiges Eingreifen erforderte. Das durfte Peter nicht merken, darum legte er das Aktenstück ruhig beiseite und wandte sich, ohne seine heftige Aufregung zu zeigen, wieder dem Verhör zu:
»Also, was wissen Sie von dem Diebstahl?«
»Nischt, Herr Rat.«
Damit sagte er die Wahrheit, denn Gysander hatte die Sache erfunden, um den Peter von der richtigen Spur abzubringen.
»Na, dann wären wir fertig. Sie können gehen, Peter Birkenbusch. Wenn Sie etwas erfahren, kommen Sie her.«
»Ick werde nich ermangeln.«
Gysander lächelte. Peter sprach auf einmal Aktendeutsch, das war doch auch nicht in seinem Garten gewachsen: Der Verkehr mit den Hotels am Stettiner Bahnhof zeitigte allerhand Sprachblüten.
Nun aber zu der Nachricht, die Bergmann in dem Aktenstück gebracht hatte. Die Heil- und Pflegeanstalt Herzberge meldete, daß der zur Beobachtung eingelieferte Fritz Kollmann entsprungen sei.
Laufen lassen, dachte Gysander. Nur im Auge mußte man ihn behalten. Und zu diesem Behuf traf er sofort seine Maßregeln.
Ob man sich einmal die Geliebte des Peter, die Johanna Meßner, genannt »Mollenhanne«, näher ansah? Gysander kannte sie; ein ganz gerissenes Frauenzimmer, das allerlei von der lichtscheuen Garde am Stettiner Bahnhof wußte, aber sie war hartmäulig wie ein alter Esel. Wenn man ihr aber ein paar halbe Liter dunkeln Bieres zu trinken gab, löste sich ihre Zunge. Sie bewohnte ganz bürgerlich eine Kochstube im Berliner Norden, machte Aufwartungen, flickte die Sachen frauenloser Männer und strickte Wollzeug für ein Geschäft. Sie schwamm am Ufer des kriminellen Stromes der Weltstadt, aber sie hütete sich davor, hineinzugeraten. Mit der Polizei wollte sie nichts zu tun haben. Vor dem Birkenpeter hatte sie große Angst, denn er prügelte sie unbarmherzig, wenn sie aus der Reihe tanzte. Konnte man ihr die Angst vor dem wilden Eheherrn benehmen, war manches von ihr zu erfahren.
Also ließ Gysander die Mollenhanne zur Vernehmung verführen.
Sie war maßlos aufgeregt, zitterte und weinte in einem fort. Sie sei eine anständige Frau, stände nicht unter Sitte und wäre schon lange verheiratet, wenn »ihr Mann«, der Peter, nicht ein so unverbesserlicher Rumtreiber wäre, der gar keine Freude am häuslichen Leben habe.
»Eben um den Peter handelt es sich«, unterbrach Gysander die Weinende.
»Er is 'n Fachabund, aberst keen Vabrecher nich, er is ehrlich un hat schon Tausender for die Reisende in die Hotels unter die Finger jehabt.«
»Wie meinen Sie das, Fräulein Meßner?«
Sie richtete sich stolz auf. Den Titel Fräulein hatte sie seit langem nicht mehr gehört: »Wat wollen Se nu wissen, Herr Kriminal?«
»Wovon lebt eigentlich der Peter?«
»Von wat soll er leben? Er trägt Koffer, hilft uf- un abladen, läuft Botenjänge for die Hotelportjehs und ick jloob, er besorgt ooch wat Liebes for die Reisenden.«
»Also auch Zuhälter?«
»Nee, nee, 'n Zuhälter, so 'n Lude det is wat anderes.«
»Hat er besondere Leidenschaften?«
»Nee, der is janz kalt.«
»So mein' ich das nicht … ob er Liebhabereien hat … säuft er, spielt er, raucht er?«
»Ejentlich nich; er roocht 'n bisken ville, aber immer nur Zijaretten, die er jeschonken kriecht, koofen duht er keene.«
Der kritische Zeitpunkt war erreicht. Gysander überlegte, wie er weiter verfahren sollte. Wenn er auf die Zigaretten zurückkam, wurde das Frauenzimmer wahrscheinlich hellhörig und sagte gar nichts mehr oder log sich etwas zusammen.
»Das interessiert mich alles nicht. Ich will wissen, womit der Peter das Geld zum Leben verdient.«
»Wat braucht so'n Eckensteher denn? Vor die Miete komm ick uf, und dat bisken Essen fällt in die Hotels ab. Dann hat er von't Jepäcktragen ooch 'n paar Märker de Woche.«
»Und die versäuft er?«
»Nee, nee, er trinkt nur Kaffee, ick ha Petern noch nie beschmort jesehen und ick jeh doch schon an die vier Jahr mit ihm.«
Das Verhör drehte sich im Kreis, und es kam nichts heraus. Er mußte mit der Tür ins Haus fallen, gerade heraus fragen, was er wissen wollte.
»Mit wem verkehrt der Peter?«
»Aha, kiekste aus die Lucke. Jetzt soll die Hanne pfeifen. Nee, Herr Kriminal, ick weeß jar nischt.«
In diesem Augenblick brachte Bergmann wie verabredet das Frühstück für den Herrn Kriminalrat und zwei Flaschen echtes Bier.
»Na, Fräulein Meßner, trinken Sie mal mit?«
»Ick bin so frei.«
Bergmann brachte schon ein zweites Glas und füllte es für die Hanne. Ein Wink genügte, und es kam eine zweite und eine dritte Flasche.
Die Meßner trank schnell und mit sichtlichem Behagen, während Gysander umständlich frühstückte. Als er fertig war, hatte sie bereits die vierte Flasche vor sich, und das schwere Bier begann seine Wirkung zu tun. Sie fing von selbst an, zu reden.
»Sie müssen nich denken, dat der Peter in schlechte Jesellschaft verkehrt. Mit die Ganoven jiebt er sich nich ab. Da kennen Se alle Jepäckträger un die Lademeesters von'n Stettiner fragen, der Peter macht keene linke Sachen.«
»Verkehrt er mit den Gepäckträgern?«
»Wenn se sich mal in't Lokal treffen.«
»Und sonst hat er keine Freunde?«
»'n janze Kiepe voll.«
»Und die schenken ihm Zigaretten?«
»Ja, ooch mal.«
»Wenn er doch so viel raucht und keine kauft?«
Gysander sah die Meßner erwartend an.
»Ach, Sie meenen, er klaut … Nee, Herr Kriminal, Peter is ehrlich.«
»Er muß doch die Zigaretten irgendwo herhaben.«
»Ick sagte Ihnen ja, er kriecht se jeschonken.«
»Von wem?« fragte Gysander streng.
»Det weeß ick nich.«
»Johanna Meßner, Sie schwindeln. Mir können Sie doch nicht erzählen, Sie wüßten nicht, wo Ihr Geliebter seine Zigaretten herbekommt.«
»Det weeß ick ooch nich.«
»Sie müssen doch die Schachteln sehen …«
»Er hat se immer lose in de Tasche.«
»Hat er keinen Vorrat zu Hause?«
»Wo soll er denn een haben in meine Kochstube?«
Gysander goß der Hanne die fünfte Flasche Bier ein, und da kam der Erfolg.
»Ick will Ihnen wat sagen,« begann sie nach einem langen wohligen Zug, »Peter hat 'n feinen Freund, der is Zigarettenreisender.«
»Wie heißt er, wo wohnt er?«
»Davon ha ick keene Ahnung. Et is 'n Wiener, un Peter trägt ihm immer die Musterkoffer.«
»Gut, Fräulein Meßner. Fragen Sie mal den Peter, wie der Reisende heißt und dann teilen Sie es mir mit, aber heute noch.«
»Ick werde nich ermangeln.«
Damit verschwand sie eilig aus dem Zimmer.
Da war wieder der gleiche Ausdruck. Gysander dachte scharf nach. Sollte diese Redewendung die Aufklärung bringen? Es war ein Weg, wenn auch ein ungewöhnlicher. Von wem mochten die beiden die Redensart haben? Ob von dem Zigarettenreisenden? Er sollte ein Wiener sein, aber das war kein typisch wienerischer Ausdruck.
Gysander ging nach der Bibliothek des Präsidiums. Sie war zwar nur klein und im wesentlichen auf das Fachliche gestellt, aber sie hatte doch einige Wörterbücher, darunter auch das Wörterbuch der Gaunersprache. Nun, darin fand er gewiß nichts. Aber bei Kluge las er, daß ermangeln ein altes Wort und mit dem lateinischen Wort mancus urverwandt sei. Es war also anscheinend aus der lateinischen Aktensprache in die Umgangssprache übergegangen. Der Zigarettenreisende, von dem die Mollenhanne berichtet hatte, sollte ein Wiener sein. Wien bewahrte viel mittelalterliches Sprachgut aus der Zeit auf, da die Sprache der Amtsstellen noch lateinisch war.
Sollte ein Wort, ein Ausdruck, eine Redewendung einen Schluß auf die Person ermöglichen? Man darf nichts außer acht lassen. Jedenfalls hatte sich der Bursche gut vertarnt. Aber hatte man erst seine Witterung, dann war es nur eine Frage der Zeit, daß er gestellt wurde.
Mühsame polizistische Kleinarbeit begann. Gysander rief seinen getreuen Wachtmeister:
»Bergmann, wir müssen alle Geschäfte, die Zigaretten führen, abfragen, woher sie ihre Ware beziehen und welche Marken sie handeln.«
»Ich habe schon etwas herumgehört, auch alle Läden notiert, die Trebinjac-Zigaretten handeln.«
»Haben Sie keine gekauft?«
»Nein, ich wollte nicht aufmerksam machen, ich habe andere Sorten gewählt.«
»Hatten die Trebinjac gefälschte Banderolen?«
»Das konnte ich nicht nachprüfen, ohne aufzufallen.«
»Gut, jetzt aber ist kein Versteckspielen mehr nötig. Unser Mann weiß, daß wir hinter ihm her sind. Er darf Berlin nicht verlassen.«
Gysander lächelte grimmig in sich hinein. Das war gut gesagt, aber fast unmöglich auszuführen. Er hatte ja keine Beschreibung des Zigarettenreisenden, auch die Mollenhanne hatte ihn nie gesehen … »Der Peter trägt ihm die Musterkoffer.« Das war die einzige Möglichkeit, seiner habhaft zu werden, sie mußte verfolgt werden. Der schlaue Bursche wird jetzt nichts unternehmen, wird sich in einen Winkel zurückziehen, bis die Wachsamkeit der Polizei erlahmt. Er wird auch nicht aus Berlin hinausgehen, denn da muß er ja immer einen der Fernbahnhöfe anlaufen, und die werden wir bewachen, dazu alle Endstationen der Vorortbahnen. Wenn er türmt, wird er die kürzesten Strecken nach der Grenze benutzen, und das sind nur wenige … Da heißt es sofort Anordnungen treffen. Es war sehr schwierig, ihm den Weg sicher zu verlegen. Man konnte doch nicht jeden Reisenden festnehmen, der Berlin verließ, in der Hoffnung, dabei den Gesuchten zu fassen. Wenn er sich grübelte Gysander weiter in der Nacht auf einen Güterbahnhof schlich und in einen Wagen kroch, gelang es ihm leicht, Berlin ungesehen zu verlassen. Leere Wagen liefen in jedem Güterzug. Das schlimmste, was ihm passieren konnte, war, daß er als blinder Passagier an die Luft gesetzt wurde …
Hier mußte sofort eingehakt werden. Gysander traf fernmündlich seine Anordnungen: Alle blinden Passagiere, die sich in Berliner Zügen eingeschlichen hatten, sollten festgenommen und der örtlichen Polizei zugeführt werden. Auf das Ergebnis dieser Razzia wollte er jedoch nicht warten, sondern selbst handeln. Da trat Bergmann ein und brachte die Nachricht, der aus Herzberge entsprungene Fritz Kollmann sei auf dem Stettiner Bahnhof gesehen worden.
»Überwachen«, befahl er, »bis ich selbst komme.« Bergmann flitzte davon. Das war so eine Aufgabe für den gewiegten Geheimpolizisten. Diesmal sollte er nicht untertauchen. Er blieb ihm auf den Hacken, das war Ehrensache.
Gysander folgte den Spuren seines erfahrenen Gehilfen, die nach dem Strausberger Platz liefen. Dort traf er einen seiner Beamten vor der öffentlichen Fernsprechzelle, der ihn erwartet hatte.
»Unser Mann ist mit der Vierundsechzig nach der Leipziger Straße gefahren, Bergmann verfolgt ihn, er gibt Nachricht über den Münzfernsprecher. Ich habe die Zelle abgeschlossen.«
Warten, das ewige Gebot für den Geheimpolizisten, warten bis der Verfolgte irgendwo landete oder sich mit einer anderen Person traf.
Nur nicht nervös werden, das verdirbt alles. Ruhe ist die erste Polizistenpflicht … Da schrillte der Wecker im Münzfernsprecher. Der Beamte gab das Polizeizeichen und meldete: »Herr Kriminalrat werden verlangt.«
»Hier Gysander … Gut, Bergmann … Ich komme sofort … Weinstube von Bolongaro, ›Zum Vesuvio‹ nennt sie sich ja wohl? Noch etwas? … Ei, das ist interessant … So, so … Was der Berliner einen feinen Mann nennt? … Spricht italienisch mit Fritz … Und dieser? … Auch, und fließend?«
Gysander stellte den dritten Gang ein und war nach knapp zehn Minuten in der Weinstube, trat unbefangen an den Tisch der beiden, während Bergmann mit zwei Beamten die Tür bewachte.
»Darf ich um Ihre Legitimation bitten … Nein, Sie nicht, Kollmann, Sie sind uns bekannt.« Er gab Bergmann einen Wink, daß er den Angeredeten festnähme, um ihn fortzubringen.
»Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen Ihren Freund entführe, er ist ein Pflegling der Irrenanstalt Herzberge und von dort entwichen.«
»Er ist nicht mein Freund, ich mache nur gelegentlich Geschäfte mit ihm.«
»In Zigaretten?«
»Ganz recht … Aber was hat die Polizei damit zu tun? … Ich irre mich wohl nicht, Sie sind Kriminalbeamter?«
Gysander wies seine Marke vor:
»Sie werden die Gefälligkeit haben, mich nach dem Präsidium zu begleiten. Wir können dort ungestörter sprechen … Ich habe meinen Wagen draußen.«
»Erst zahlen … Bolongaro.«
»Nein, das wird besorgt.«
Gysander winkte dem Wirt, in seiner Kasse zu bleiben … Darauf kam einer der Beamten heran, half dem Fremden in den Paletot und reichte ihm Hut und Stock.
»Den Stock geben Sie mir«, befahl Gysander. »Es ist ein seltenes Stück, ich habe Interesse für solche Raritäten.«
Der Fremde lächelte und folgte ohne Anstände dem Beamten in den Wagen.
Auch während Gysander sich für die Vernehmung vorbereitete, saß der Mann seelenruhig lächelnd im Vorzimmer, gab seine Personalien, seine Wohnung an und lieferte die Schlüssel ab, damit eine Durchsuchung vorgenommen werden konnte. Dann fragte er, ob er rauchen dürfe, und als ihm dies gestattet wurde, zog er sein schwersilbernes Etui, versah die Beamten mit Zigaretten und zündete sich selbst eine an.
Bergmann betrachtete das Röllchen, es war eine Trebinjac. War der Kerl frech … oder ganz harmlos? Jedenfalls mußte der Chef von den Zigaretten wissen. … Da klingelte er auch schon, und Bergmann ging eilig mit der brennenden Zigarette in Gysanders Amtszimmer.
»Nanu, jetzt wird's Tag, alter Junge, mit dem brennenden Röllchen zum Vorgesetzten«, begann Gysander gut gelaunt.
»Aber was für ein Röllchen … Geschenk des Herrn drüben … und eine Trebinjac.«
»Hab' ich mir schon so gedacht. Er versucht's mit Frechheit. Diese Burschen gehen sehr bald ein … Wer ist zur Durchsuchung der Wohnung?«
»Beermann und Schulze.«
»Gut … Also führen Sie den Mann vor … Sie bleiben und machen das Protokoll.«
Der Fremde setzte sich, erhielt Erlaubnis, weiterzurauchen. Der Kriminalkommissar lehnte die angebotene Zigarette ab, nahm aber das silberne Etui und betrachtete es aufmerksam:
»Schöne Arbeit und schwer.«
»Sibirisches Silber, ich hab's von einem Russen gekauft, als ich in Gefangenschaft war.«
»Sie waren in russischer Gefangenschaft?«
»Vor Brest Litowsk auf einer Patrollje wurde ich geschnappt.«
Er war kein gebildeter Mann, sonst hätte er das Wort Patrouille richtig ausgesprochen. Das war eine Feststellung, die von Wichtigkeit werden konnte …
»Wie heißen Sie?«
»Pietro Ripetta.«
In Gysanders Augen blitzte es auf, fast unmerklich, aber der Fremde hatte es mit höhnisch lauerndem Blick beobachtet.
»Der Name bringt Sie keinen Schritt weiter … Sie haben meinen alten Onkel verhaftet und seinen Keller ausgeplündert …«
»Beschlagnahmt.«
»So nennen Sie es … Darf ich einmal offen sprechen, Herr Rat?«
»Das müssen Sie sogar.«
»Ich werde nicht ermangeln.«
Zum drittenmal derselbe Ausdruck! Man hatte also den richtigen Mann gefaßt. Nun schien äußerste Vorsicht geboten; der Bursche war mit allen Wassern gewaschen.
»Sie sind Serbe?«
»Pfui Teufel!«
»Was sind Sie denn?«
»Ich bin Dalmatiner, österreichischer Staatsangehöriger und meiner Herkunft nach Italiener, jetzt nach dem Anschluß Reichsdeutscher.«
»Sie sprechen gut deutsch.«
»Die Schulen in Dalmatien waren vor dem Gewaltfrieden ganz deutsch. Als ich aus der Gefangenschaft zurückkam, habe ich für Österreich optiert.«
»Um besser Zigaretten schmuggeln zu können.«
»Daran hab' ich wahrhaftig nicht gedacht … das kam erst später, als die Zeiten schlecht wurden und keine Arbeit zu bekommen war.«
»Sie gestehen also den Schmuggel ein?«
»Das Leugnen nützt ja doch nichts … Den großen Gauner kriegen Sie auf keinen Fall. Der ist längst in Dänemark.«
»Wie heißt er?«
»Henrik Ormstrung.«
»Ein Däne?«
»Vielleicht … mir hat er einen amerikanischen Bürgerbrief gezeigt.«
»Er kommt oft nach Deutschland?«
»Jetzt wohl nicht mehr so oft. Früher reiste er immer zwischen Dalmatien und Wien hin und her, um Stoff herüberzuschaffen.«
»Und wo wohnt er?«
»In Kopenhagen, Wimmelskaftet 6.«
Gysander gab Bergmann einen Wink. Der entfernte sich und bestellte bei der Zentrale ein Gespräch mit der Kopenhagener Kriminalpolizei.
Das Verhör ging weiter. Gysander legte dem Mann die schwarze Ledertasche vor. Die sei ihm bekannt. Dann hielt er ihm die Paketadresse hin:
»Haben Sie das geschrieben?«
»Jawohl, Herr Rat.«
»Und warum haben Sie mir die Tasche geschickt?«
»Um Ihnen eine Freude zu machen, weil Sie ja doch sonst gar nichts erreicht hatten.«
So ein frecher Bursche. Gysander sprach es nicht aus. Er durfte den Mann nicht in seinen Gedanken stören. Ein wichtiger Grundsatz für jedes Verhör: Nichts hinein verhören.
»Ich bitte, daß Sie mich jetzt entlassen. Ich will mit meiner Braut in den Zirkus gehen.«
»Das blasen Sie mal ab, so schnell sind wir nicht fertig.«
»Wieso, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
Sollte er dem Burschen und seiner zur Schau getragenen Offenheit trauen und die kritische Frage nach dem Magazin stellen, wo die unverzollte Ware versteckt lag? … Nein, es warnte ihn etwas. In den Augen des Italieners war ein falsches Leuchten, der Bursche wollte ihn hereinlegen. Aber dazu war er doch nicht gerieben genug.
Bergmann trat ein und brachte die Antwort aus Kopenhagen: Ein Henrik OrmstrungOrmstrung existierte nicht, Wimmelskaftet 6 war eine leere Baustelle.
Gysander hielt dies dem Ripetta vor.
»Dann hat mich der Däne beschwindelt, heißt anders und wohnt woanders.«
»Na also, da haben wir ja den großen Unbekannten, der bei allen Verbrechen mitwirkt … Bergmann, führen Sie den Mann ab, er bleibt bis auf weiteres in Haft.«
Aus dem Burschen war nichts herauszubringen, das war dem Beamten klargeworden. Man mußte sich auf den eigenen Scharfsinn verlassen und das vorhandene Material genau durchprüfen, ob sich irgendwo ein Anhalt fand. Da fielen Gysanders Augen auf den Stock des Ripetta. Wie eine Eingebung kam ihm die Geschichte der Missionare in den Sinn, die in hohlen Wanderstäben Eier von Seidenraupen aus China nach Europa geschmuggelt hatten. Der Stock war aber anscheinend nicht hohl, edles Rohr mit einer Naturkrücke, nirgends eine Metallverzierung, die auf eine Öffnung hätte schließen lassen.
Und doch konnte der Stock ein Geheimnis bergen, das unbedingt aufgedeckt werden mußte. Aber das kam später, zuerst abwarten, was die Durchsuchung der Wohnung ergab.
Ob er nicht besser selbst gegangen wäre? Beermann und Schulze aber waren gerade in Wohnungsdurchsuchungen besonders erfahren. Ihnen entging sicher nichts.
Auf den Gängen draußen wurde es lebendig: Dienstschluß. Die Beamten eilten nach Hause. Auch Gysander rüstete. Er nahm den Stock des Ripetta mit. Die stillen Abendstunden in seinem behaglichen Heim waren für schwierige Untersuchungen der rechte Ort. Der schöne Stock, … eine innere Stimme sagte ihm, daß die Lösung des Problems durch dieses edle Rohr erfolgen werde.
Nun war er zu Hause. Ein arbeitsreicher Tag lag hinter ihm, und der Erfolg der rastlosen Arbeit war gleich null.
Auch in der Wohnung war nichts Wesentliches gefunden worden, wie die Beamten durch den Fernsprecher gemeldet hatten … Der Stock … Mit fast dämonischer Gewalt zog es ihn immer wieder nach dem Rohr hin. Solchen Eingebungen soll der Kriminalist stets folgen, es sind geheimnisvolle Winke einer höheren Macht, die das Recht schützt und den Frevler letzten Endes doch zur Strecke bringt. Also schritt er zur Untersuchung des Stockes.
Er holte seinen Handwerkskasten, der die feinsten Stahlwerkzeuge enthielt.
Zunächst beklopfte er mit einem Uhrmacherhämmerchen das ganze Rohr von oben bis unten und lauschte auf die Klopftöne, ob und wie sie sich veränderten. Sie waren nicht gleichmäßig, was den Schluß reifen ließ, daß das Innere mehr oder weniger hohl war. Das konnte die natürliche Folge des Austrocknens sein. Dann nahm er die Zwinge vor, jedoch auch sie verriet ihm kein Geheimnis, sie saß fest auf dem Stock und war anscheinend eingeleimt.
Der Fernsprecher klingelte:
»Ja … Hier Gysander … Nun Beermann, was gibt's? … Nichts von Wichtigkeit … Das glaub' ich nicht … Haben Sie gar keine Geschäftsbücher gefunden? … Na, dann suchen Sie mal gründlich nach. Und bringen Sie alles Geschriebene mit, was Sie vorfinden … Sonst noch etwas? … Aber Menschenskind, der Rohrstock ist von höchster Wichtigkeit. Bringen Sie den Stock auf dem schnellsten Weg her … Nehmen Sie einen Taxi, Schulze bleibt dort und sucht weiter … Und nun dalli, dalli, den Stock muß ich sofort haben.«
Der schöne Rohrstock hatte ein Brüderchen bekommen, das in der Wohnung des Ripetta zurückgeblieben war. Im Augenblick züngelte in Gysanders Kopf das Gedankenflämmchen auf: Zwei gleiche Stöcke, dahinter steckte etwas … oder … da war auch schon wieder der Zweifel … es konnte einfach das Produkt einer Massenherstellung im Fabrikbetrieb sein … Aber nein … Der vorliegende Stock zeigte die sorgfältige Arbeit eines gediegenen Handwerksmeisters.
Ob der Obermeister der Drechslerinnung Bescheid geben konnte?
Gysander hängte sich an den Fernsprecher und ließ sich mit dem Innungsmeister verbinden. Dieser war sofort im Bilde: Mit Rohrstöcken würden allerhand Zicken gemacht, er müsse die Stöcke sehen … er würde hinkommen. Jetzt habe er noch eine Kleinigkeit zu tun, aber in einer halben Stunde sei er da, die Sache interessiere ihn.
Inzwischen kamen auch die Beamten von der Durchsuchung zurück und meldeten sich in Gysanders Wohnung.
»Haben Sie etwas Besonderes gefunden?« empfing sie der Kriminalrat.
»Nichts, nur den Stock, die Geschäftsbücher und diesen Wust von Papierstreifen, die mit ganz unzusammenhängenden Buchstaben beschrieben sind. Schulze wollte die Streifen gar nicht mitnehmen. Ich hab' sie aber eingepackt. Der Herr Kriminalrat sagten immer, bei einer Durchsuchung sei manchmal das Blödeste gerade das Wichtigste.«
Nun traf der Obermeister der Drechslerinnung ein, Gysander begrüßte ihn und legte ihm die Stöcke vor. Der Obermeister lächelte.
»Ich habe an den Stöcken nichts finden können.«
»Das glaub' ich Ihnen, Herr Kriminalrat. Da hätten auch viele vom Handwerk nichts gefunden, aber ich kenne zufällig den Dreh, weil ich bei einem Meister in Wien auf diese Stöcke gearbeitet habe. Sie hießen bei uns Briefstöcke.«
»Und wie funktionieren sie?«
»Ganz einfache Sache. Sie sehen hier den langen schönen Stock, dann kommt oben der dünnere Schuß, der zur Krücke gebogen wurde.«
»Ja, das ist aber doch immer so bei derartigen Rohrstöcken. Man sieht sie gelegentlich noch bei alten Herren.«
»Ganz recht, aber bei diesen Briefstöcken läßt sich Stock und Schuß auseinandernehmen, das heißt, der Schuß ist nicht eingewachsen, sondern eingeschraubt.«
»Ich habe alles versucht, habe die Krücke linksrum und rechtsrum gedreht, aber keine Verschraubung gefunden. Daran denkt man doch zuerst.«
»Sind ja auch kein Drechsler, und selbst ein solcher könnte wie ich schon sagte nichts finden, wenn er nicht auf diese Stöcke gearbeitet hätte.«
»Wo liegt also das Geheimnis?«
»In der Zwinge.«
»Die sitzt aber doch ganz fest.«
»Scheinbar … Sehen Sie sich die Zwinge genau an, sie ist von Elfenbein und in eine Messinghülse eingelassen, so daß kaum ein Zentimeter hervorragt. An diesem Stück Elfenbein sitzt eine Metallröhre mit einem Innengewinde, wodurch die Verschraubung der Krücke auf sinnreiche Weise blockiert wird. Sehen Sie.«
Der Obermeister drehte mit Leichtigkeit das Elfenbein aus der Messinghülse und zeigte dem Beamten die Röhre mit dem Innengewinde. Und nun ließ sich auch die Krücke bequem abschrauben. An dieser war ein glatter Rundstab befestigt. Er lief in eine Stahlspitze aus, die an ihrer Wurzel ein Gewinde trug, daß sich in die Metallröhre an der Elfenbeinzwinge einschraubte und so ein Herausdrehen der Krücke unmöglich machte.
Gysander verstand sofort:
»Nun bin ich im Bilde, Herr Obermeister; Sie haben der Polizei einen großen Dienst geleistet … Beermann geben Sie einmal die Papierstreifen her. Wir haben es hier mit einem Trick zu tun, der über zweitausend Jahre alt ist. Erfinder dieses Tricks waren die alten Spartaner. Sie wandten ihn an, wenn sie geheime Botschaften an ihre im Felde stehenden Könige oder Feldherrn senden wollten. Sie hatten ebensolche Stäbe, wie diese hier; darum wickelten sie Pergamentstreifen und schrieben ihren Brief der Länge des Stabes folgend. Wenn der Streifen abgenommen wurde, konnte kein Mensch das Geschriebene lesen. Nur der Feldherr, der einen gleichen Stab hatte, rollte den Streifen auf und las leicht die Botschaft. Die alten Spartaner nannten sowohl den Stab wie den Pergamentstreifen ›Skytale‹ … Also, es geschieht nichts Neues unter der Sonne.«
»Ich kann nur staunen«, äußerte sich der Obermeister. »Woher wissen Sie das? … Die Polizei weiß wirklich alles.«
»Das hat uns der alte griechische Schriftsteller Plutarch überliefert, und man hat ja auch seinen Schulsack getragen.«
Gysander entließ mit freundlichem Händedruck den Obermeister, um sich mit den beiden Beamten, denen sich später Bergmann zugesellte, der Entzifferung der Papierstreifen zu widmen.
Den Beamten machte die Sache große Freude. Mit Feuereifer gingen sie an die Arbeit. Der eine wickelte die Streifen auf und der andere versuchte die Schrift zu lesen:
»Das ist ja polnisch.«
Gysander nahm ihn den Streifen ab:
»Das ist nicht polnisch, das ist kroatisch … Setzen Sie sich an die Maschine und schreiben Sie Buchstaben für Buchstaben genau ab.«
Schon nach Prüfung der ersten Streifen zeigte es sich, daß man den Briefwechsel Ripettas mit den dalmatinischen Zigarettenerzeugern gefunden hatte. Gysander, der gute russische Sprachkenntnisse hatte, verstand infolge der Ähnlichkeit aller slawischen Sprachen genug von dem Streifen, um diese Feststellung mit Zuverlässigkeit zu machen. Die wörtliche Übersetzung mußte im Präsidium hergestellt werden.
Der Kriminalrat verständigte seinen Chef fernmündlich:
»Wir arbeiten bis der letzte Streifen entziffert ist … das Fertige schicke ich Ihnen alle halbe Stunde zu.«
»Gut«, antwortete der Geheimrat. »Ich lasse alles sofort übersetzen … Schneller Zugriff, guter Erfolg.«
Früh um acht Uhr waren alle Streifen abgeschrieben und übersetzt.
Der Chef schüttelte Gysander die Hand:
»Das nenne ich einen ganz großen Erfolg … ein echter Gysander. Herzlichsten Glückwunsch. Wir können noch gar nicht übersehen, wieviel Millionen Sie dem Deutschen Reich gerettet haben. Die reine Polizeiarbeit überlassen Sie nun mir.«
Und der Geheimrat war gründlich. In wenigen Stunden waren sämtliche Kunden des Ripetta vernommen, die Schmuggelware beschlagnahmt. Dann spielte der Telegraph ins Reich und in die Ostmark.
Ein Sieg der Polizei über eine höchst schlaue und gefährliche Verbrecherbande, wie er seit langen Jahren nicht gelungen war.