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Der Kraftfahrer Melde war früh von Frankfurt am Main abgefahren und hatte Magdeburg erreicht, als es Mitternacht schlug. Sein schwerer Lastwagen trug Stückgut, der Anhänger war hochbepackt mit Tabakballen aus der Wetterau für eine Berliner Zigarrenfabrik. Er und sein Mitfahrer waren sichtlich müde, die vielen Zwischenstationen, wo ein- und ausgeladen werden mußte, hatten es in sich. Darum hielt er am Hauptbahnhof an, um einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen. Der Mitfahrer war einverstanden. Die Arbeit war schwer, aber der Verdienst gut, da brauchte man sich nichts abgeben zu lassen, der Körper verlangte kräftige und reichliche Nahrung. Sie konnten ohne Bedenken eine Stunde ruhen und kamen doch noch zeitig genug nach Berlin.
Die Bahnhofswirtschaft war ziemlich besetzt. Reisende kamen und gingen, aßen und tranken. Auf den Bänken schliefen ganze Familien bei ihrem Gepäck. Eisenbahnleute traten an den Ausschank, hoben einen, um wieder zum Dienst zu eilen. Überall Bewegung und Leben.
Da war auch ein bunt gekleideter Ausländer mit blauen Kniehosen, langen Stiefeln und einer kurzen gestickten Jacke, unter der ein weißes bauschiges Hemd hervorquoll. Er trug einen Kasten mit allerlei ausländischem Gerät zum Verkauf an einem breiten ledernen Riemen um den Hals. Stoffe, farbige Tücher und Stickereien hingen ihm über dem linken Arm. Er ging von Tisch zu Tisch, seine Waren anzubieten. So kam er auch zu Melde und seinem Mitfahrer. Hübsche Sachen hatte er, und seine Preise waren nicht erheblich. Der Kraftfahrer erstand eine schöne Tabakspfeife und einen seidenen Schal für Muttern, der Mitfahrer kaufte ein reich verziertes Messer in bemalter Lederscheide.
»Was bist du denn für ein Landsmann«, fragte Melde.
»Kroat«, antwortete der Händler kurz.
Dann schrillte die elektrische Klingel, und ein Beamter rief zum Einsteigen nach Halle. Da verließ der Kroat die Wirtschaft und ging nach dem Bahnsteig. Bald darauf fuhr auch das Lastauto ab.
Die Nacht war hell, der Mond stand nur wenige Grad über dem Horizont und beleuchtete die Straße. Trotzdem mußte langsam gefahren werden, weil einer im Chauffeurhäuschen schlafen wollte, während der andere am Steuer saß. Daher graute schon der Morgen, als Potsdam durchfahren war. Kurz vor dem Kreuzungspunkt, wo die Straße nach dem Bahnhof Schlachtensee abbog, hielt Melde den Wagen plötzlich an, denn auf dem Fahrdamm lag ein Mensch. Im grauenden Zwielicht konnte er nicht recht erkennen, von welcher Art er war, er sah nur etwas Blaues und Weißes. Laut weckte die Hupe, aber der Schläfer rührte sich nicht.
»Dunnerkiel, der hat aber gut gefrühstückt«, polterte Melde und rüttelte seinen Mitfahrer: »Steig ab, Fritze, und stell den Burschen auf seine Pedale, damit er uns nicht unter die Räder kommt.«
Fritz schüttelte sich den Schlaf aus den Knochen und kletterte vom Wagen herunter, trat an den anscheinend Betrunkenen heran und faßte ihn an der Schulter, da fiel der Kopf schwer zur Seite, und auf der Erde wurde eine Blutlache sichtbar.
»Du, Melde, der arme Deuwel is dot und liegt in seinem Blut.«
Wie der Blitz war der Kraftfahrer auf den Beinen und bei der Leiche.
»Das ist derselbe Landser, wie der in Magdeburg, ein Kroat, sagte der ja wohl.« Er beugte sich nieder und wollte den Toten umdrehen.
»Nicht anfassen … Wir müssen sofort Anzeige bei der Polizei machen.«
»Wir werden den Deuwel tun. Komm, los, wir fahren um den Mann herum und weiter nach Berlin … dritter Gang. Wir haben nischt gesehen. Das fehlte mir noch, Scherereien mit der Polizei.«
»Meinswegen, ick habe ooch nischt jesehen.«
Die beiden bestiegen ihren Wagen wieder, Melde lenkte ihn vorsichtig um die Leiche herum, und dann ging's, was haste, was kannste, der Reichshauptstadt zu.
Als das Lastauto durch Zehlendorf kam, baute ein Bäcker gerade seine Schrippen vor dem Laden zum Trocknen auf. Gleichzeitig warf er einen Blick nach dem Wagen und schob wieder in seine Backstube. In Lichterfelde war es schon vollständig hell. An der Kaiserallee in Friedenau kam ihnen ein Polizeiauto in schneller Fahrt entgegen.
»Die werden wohl nach dem toten Kroaten wollen.«
»Halt die Klappe, wir haben damit nischt zu tun.«
In dem Auto saß die Mordkommission des Polizeipräsidiums unter Führung des Kriminalrats Martin Gysander. Der Inspektor des Gutes Düppel hatte fernmündlich das Präsidium benachrichtigt, als eine Schnitterkolonne den grausigen Fund gemacht hatte.
Schon der erste Augenschein belehrte den Kriminalrat, daß eine gewaltsame Tötung vorlag und daß die Tat abseits der Straße im Wald begangen worden war, denn eine Blutspur wies nach den dunkeln Kiefern, die sich am Rande hinzogen.
»Es ist einer der dalmatinischen Hausierer, die seit Jahren Deutschland durchwandern und die Erzeugnisse ihres Landes feilbieten.«
»Seine Waren sind gestohlen«, meinte Bergmann.
»Abwarten, wir wollen erst den Tatort auffinden. Untersuchen Sie mal die Taschen.«
Es fand sich nichts von Wert. Die Ausweise waren alle vorhanden, so daß über die Person des Toten kein Zweifel bestand, vorausgesetzt, daß die Papiere echt waren. Gysander faßte die Hand des Toten und fand, daß die Leichenstarre eingetreten, der Tod demnach vor drei bis vier Stunden erfolgt sein mußte. Eine genaue Bestimmung konnte erst die Obduktion ergeben.
Unzweifelhaft lag Mord vor, denn im Rücken der Leiche zeigten sich zwei Stiche, die anscheinend mit einem schmalen Messer geführt waren. Die Wunden hatten sich schnell geschlossen, so daß das Blut nur langsam ausgeströmt war. Der Verwundete hatte noch die Kraft gehabt, eine kurze Strecke zurückzulegen.
Der Straße waren nun alle Geheimnisse entlockt, sie konnte dem Detektiv nichts mehr sagen. Jetzt mußte der Tatort sprechen. Der Beamte ging der Blutspur nach, die über die Straße nach dem Wald wies, hielt aber an und betrachtete sinnend die breite Wagenspur, die hart am Straßengraben deutlich zu erkennen war.
»Was halten Sie von dieser Radspur, Wachtmeister?« fragte er.
»Ein schwerbeladenes Lastauto mit Anhänger ist hier durchgekommen, auf den Körper gestoßen, und da er nicht Platz machte, ist es um den anscheinend Betrunkenen herumgefahren.«
»Richtig, der Chauffeur braucht in der Dunkelheit nicht bemerkt zu haben, daß der Mann tot war.«
»Und wenn auch. Die Lastautos, die nachts fahren, weil sie dann keinen großen Verkehr auf den Landstraßen finden, haben nicht viel Zeit und kümmern sich wenig um einen Menschen, der vor ihren Rädern liegt.« Der Wachtmeister blieb nachdenklich stehen: »Es kann aber auch anders sein. Vielleicht war der Täter in dem Lastauto!«
Gysander schüttelte den Kopf:
»Nein, Bergmann, sehen Sie sich einmal die Wagenspur genau an. Bemerken Sie etwas Besonderes?«
»Nichts, Herr Kriminalrat.«
»Sie haben eben nur gesehen und nicht dabei gedacht. Passen Sie auf. Ist das Blut auf der Straße geronnen oder nicht?«
»Es ist geronnen.«
»Ist der Wagen über frisches oder geronnenes Blut gefahren?«
Der Wachtmeister bückte sich und fuhr mit dem Finger über die Blutspur: »Der Wagen ist über geronnenes Blut gefahren.«
»Richtig, denn frisches Blut hätte er auseinandergekleckst, das geronnene aber hat der Reifen in fester Form auf den Sand gedrückt. Also ist der Wagen einige Stunden nach dem Tod vorübergekommen, und den Wagen müssen wir haben.«
»Der Kraftfahrer wird kaum etwas aussagen können.«
»Das ist nicht so sicher, vielleicht wird er nicht wollen, und das bestimmt, wenn er gesehen hat, daß der Mann tot war.«
»Dazu müßte er abgestiegen sein«, meinte Bergmann.
»Leider können wir das bei der hartgedeckten Straße nicht feststellen. Immerhin, den Wagen müssen wir ermitteln. Zu seiner Bedienung gehören zwei Mann, und wenn wir diese getrennt vernehmen, ohne daß der eine weiß, was der andere ausgesagt hat, bringen wir schon etwas heraus.«
»Dann müßten wir sie beide festnehmen.«
»Das sowieso, wenigstens für eine Nacht im Präsidium halten, denn verdächtig sind sie jedenfalls. Bei einem Kapitalverbrechen habe ich gar keine Bedenken, darf ich gar nicht haben. Nun aber in den Wald.«
Inzwischen hatte der Beamte vom Erkennungsdienst seinen Apparat fertiggemacht und fragte:
»Kann ich jetzt photographieren, Herr Kriminalrat?«
»Bitte sehr, lassen Sie sich nicht stören, aber rühren Sie mir die Leiche nicht an. Beim Aufladen will ich dabei sein.«
Bergmann maß mit seinem Zollstock die Wagenspur und sagte dem Erkennungsdienst, er möge auch diese aufnehmen.
Gysander pürschte sich mit dem Wachtmeister bedachtsam auf der Blutspur, ohne sie zu betreten, in den Wald. Die übrigen Beamten der Mordkommission traten jetzt an den Toten heran.
»Der Alte ist heute wieder ganz Sherlok Holmes«, begann einer der jüngeren Schutzleute.
»Holmst sich was«, wies ihn ein grauhaariger Beamter zurecht. »Sperr Maul und Ohren auf, da kannst du was lernen. Ich sage dir, Martin faßt den Mörder. Wenn er nur ein Haar von ihm findet, hängt er ihn daran auf.«
Im Wald hatte der Kriminalrat nach etwa fünfzig Schritten den Ort der Tat erreicht. Ein Kampf hatte nicht stattgefunden, der Dalmatiner war unvermutet niedergestochen worden und unter dem Messer zusammengebrochen. Nun entstand die Frage, nach welcher Richtung sich der Mörder entfernt hatte. Nach der Straße wohl kaum … Aber warum nicht? Wenn der Mord in der Nacht begangen worden war, störte die menschenleere Straße seine Flucht in keiner Weise, dagegen dürfte ein Durchschreiten des nächtlichen Waldes seine Schwierigkeiten gehabt haben. Und doch, die Fluchtspur zeigte deutlich nach dem Innern des Waldes.
Gysander folgte ihr und kam sehr bald auf einen guten Gestellweg, der nach der Kolonie Schlachtensee führte. Damit war jede Verfolgung ausgeschlossen. Ein erneutes Absuchen der Mordstelle hatte nicht das geringste Ergebnis. Der Täter hatte reine Arbeit gemacht und nach dem Umsinken seines Opfers alles bis auf die Papiere an sich genommen. Fußspuren waren auf dem mit dürren Nadeln bedeckten Waldboden unmöglich zu erkennen.
Ein sehr dunkler Fall. Fragen über Fragen stürmten auf den Polizisten ein: Warum haben sich Opfer und Mörder in den Wald geschlagen? Es war doch Nacht. Wollten sie in dem Gebüsch Schlafgeld schinden? Das war eine Erklärung, aber auch die einzige und obendrein eine recht schwache. Sofort stiegen neue Zweifel auf, weil es eben die einzig mögliche Erklärung war. Kein Verbrecher stellt seinen Plan auf nur eine Stütze. Wenn der Ermordete die Übernachtung im Walde abgelehnt hätte, so war der Plan vereitelt, und er hätte es sicher abgelehnt, es sei denn, daß er mit dem Mörder gut bekannt, vielleicht sogar befreundet war. Jetzt drehten sich die Gedanken des Kriminalrats um die Person des Mörders. Wahrscheinlich war es ein dalmatinischer Händler wie der Tote. Mit einem andern wäre er kaum in der Nacht gewandert, geschweige denn in den Wald gegangen. War es denn überhaupt Nacht gewesen? Konnte der Mord nicht schon am Abend geschehen sein? Der Verwundete war nicht tot, nur lebensgefährlich verletzt, wachte in der Nacht aus der Betäubung auf, schleppte sich nach der Straße und verschied dort.
Gysander sah ein, daß er sich in Gedankengänge verlor, die erst Boden gewannen, wenn die Öffnung der Leiche Aufschluß über die Art der Verwundung gebracht hatte.
Am Fundort auf der Straße war ein Landjäger eingetroffen und meldete sich bei dem Kriminalrat, als er aus dem Wald zurückkam.
»Haben Sie auch Nachricht von dem Verbrechen erhalten?«
»Nein, Herr Kriminalrat, ich habe einen Sonderauftrag. Es treibt sich seit gestern hier ein falscher Landjäger herum, den wir unschädlich machen müssen.«
»Ein falscher Landjäger?« Gysander wurde nachdenklich. »Das ist ja merkwürdig. Wie seid Ihr denn dahintergekommen, die Zeiten des Hauptmanns von Köpenick sind doch endgültig vorüber.«
»Auf eine ganz eigentümliche Weise. Ein Kollege hielt gestern abend einen Schlächterwagen an, der Fleisch nach Berlin brachte, um festzustellen, ob die Einfuhr in Ordnung ging. Da erklärte der Kutscher, er sei schon von einem Landjäger untersucht und freigegeben worden. Das fiel dem Kollegen auf, denn es konnte kein anderer Beamter als er auf diesem Streifengang sein. Er ist dann zum nächsten Fernsprecher gegangen und hat bei allen einschlägigen Dienststellen angefragt, aber nirgends war etwas von einer Sonderstreife bekannt.«
»Und das war gestern abend?«
»Jawohl, Herr Kriminalrat, in der achten Stunde.«
»Merkwürdig … und weiter ist nichts geschehen?«
»Geschehen nicht. Der falsche Landjäger ist dann noch auf dem Bahnhof Schlachtensee gesehen werden. Er zog eine Fahrkarte aus dem Automaten und fuhr in der Richtung nach Wannsee weiter.«
»Sie nehmen als sicher an, daß er falsch war. Konnte er nicht von einer andern Brigade und auf Urlaub sein?«
»Das wohl … aber …«
»Was aber? Trug er nicht die richtige Uniform?«
»Das wohl … aber er bewegte sich unmilitärisch. Das fiel dem Bahnsteigschaffner sogar auf.«
»An und für sich kein Grund, auf Außenstreife läßt sich manch einer gehen.«
»Ein Landjäger im Dienst schwerlich.«
»Es ist gut, Wachtmeister, lassen Sie sich nicht aufhalten.«
Ein falscher Landjäger, und gerade gestern abend … Halt, er hatte den Beamten nicht gefragt, wann der falsche Landjäger am Bahnhof gesehen worden war. Er rief ihn zurück und fragte nach der Stunde.
»Ich war gestern dienstfrei …«
»Gut, gut.«
»Ich bitte wegtreten zu dürfen.«
»Bitte sehr.«
Der Landjäger entfernte sich, worauf Gysander den Wachtmeister Bergmann nach dem Bahnhof Schlachtensee schickte, um die Zeit festzustellen, wann der zweideutige Landjäger gesehen werden war.
»Nehmen Sie den Wagen und kommen Sie schnellstens zurück.«
Ein falscher Landjäger und ein Mord, merkwürdiges Zusammentreffen, da könnte eine Brücke bestehen. Er durchfurchte sein Gehirn nach Möglichkeiten und kam zu dem Schluß, daß zwei Täter am Werk gewesen sein müßten. Nur so war das gemeinschaftliche Betreten des Waldes erklärt. Die Sache schien höchst einfach: Auf der Landstraße zwei dalmatinische Hausierer, in der Ferne taucht eine Uniform auf … Polizei … Gendarmerie … Mit solchen Leuten hat kein Hausierer gern zu tun, selbst wenn alle seine Papiere in Ordnung sind. Also schnell in das schützende Waldesdunkel, ein Messerstich in den Rücken, eilige Beraubung und Flucht. Natürlich, so konnte die Tat geschehen sein.
Dann aber mußte die Mordstelle Auskunft geben können. Notwendigerweise waren Spuren zu finden, denn jede Tat hinterläßt Spuren. Ein Messerstich braucht nicht sofort Bewußtlosigkeit zu erzeugen. Dann hätte die Beraubung nicht ohne Gegenwehr vor sich gehen können. Sinnend betrachtete er die Leiche. Das Gesicht war gelblich blaß mit auffallenden Totenflecken. Also war kein starker Blutverlust anzunehmen.
Im Wald sah er jetzt Einzelheiten, die ihm vorher entgangen waren. Die neue Idee schien gerechtfertigt, der Verwundete hatte bei der Durchsuchung seiner Taschen Widerstand geleistet, wahrscheinlich in halb bewußtlosem Zustand. Er hatte die Absätze seiner Stiefel deutlich in dem Waldboden abgedrückt und die Nadelbedeckung beiseite geschoben. Dann hatte er anscheinend das Bewußtsein verloren und eine Zeitlang ganz ruhig gelegen, wodurch die Blutung aufgehalten, und das Eintreten des Todes hinausgezögert wurde. Der Kriminalrat entdeckte noch weiteres, er fand die Stelle, wo der Verwundete sich vom Boden aufgerichtet hatte. Die Spuren der nebeneinander eingedrückten Stiefelspitzen prägten sich deutlich aus. In der richtigen Entfernung waren auch die Hände, die als Stütze gedient hatten, im Waldboden abgezeichnet. Einzelne Nadeln waren mit Blut besprengt.
Gysander hörte seinen Wagen zurückkommen und trat auf die Straße hinaus:
»Nun, Bergmann, was haben Sie erkundet?«
»Der verdächtige Landjäger ist bei einbrechender Dunkelheit auf dem Bahnhof gewesen.«
»Was heißt einbrechende Dunkelheit? Wir haben heute den 7. Juli, da geht die Sonne etwa um dreiviertel neun Uhr unter, es bleibt aber bis gegen halb zehn Uhr noch ziemlich hell.«
»Da unser Mann nach Wannsee gefahren ist, habe ich die Züge nachgeprüft, um die fragliche Zeit ist Zehn-Minuten-Verkehr. Der Fahrdienstleiter hat den Landjäger auch gesehen, konnte sich aber bei dem starken Ferienverkehr auf die Zeit nicht besinnen. Es sei schon dunkel gewesen.«
»Was haben Sie weiter getan?«
»Ich bin nach Wannsee gefahren, um festzustellen, ob der Verdächtige dort ausgestiegen ist.«
»Sehr gut.«
»Bei dem ungeheuren Trubel hat kein Beamter auf den Landjäger geachtet.«
»Erklärlich … Trotzdem wird er schwerlich weitergefahren sein, denn die nächsten Stationen in der Richtung Potsdam sind nicht mehr so belebt, und da kann ein Flüchtiger weniger leicht untertauchen.«
»Aber die Uniform schützt ihn doch besser als jede andere Verkleidung.«
»Da haben Sie schon recht, aber sie setzt ihn auch Zwischenfällen aus, die ihm gefährlich werden können. Sie wissen, daß der Berliner sehr schnell nach dem Schutzmann ruft. Es braucht nur ein Radfahrer von einem Auto angefahren zu werden, oder zwei Bierkutscher auf der Landstraße in Streit zu geraten, schon heißt es: ›Wachtmeister, stellen Sie fest!‹ Das kennt man, das sind Zufälle, die jeden Augenblick eintreten können. Dann kann der falsche Landjäger nicht wie der Kellner sagen: ›Kollege kommt gleich!‹ denn er ist immer im Dienst … Nein, der Bursche hat sich, so schnell er konnte, anders eingepuppt.«
»Legen Sie denn so großes Gewicht auf den Landjäger?«
»Jawohl, denn er ist der Beihilfe zum Mord dringend verdächtig.« Und nun erklärte Gysander dem Wachtmeister Bergmann seine Auffassung.
»Der Ermordete müßte demnach noch eine ganze Weile nach der Verwundung gelebt haben.«
»Ganz recht, das nehme ich auch an. Wir haben im Feld Leute mit Stichverletzungen noch nach vierundzwanzig Stunden lebend gefunden, wenn sie ganz ruhig gelegen hatten.«
Der Erkennungsdienst meldete, er sei soweit fertig. Gysander ließ nun die Leiche aufladen und ordnete an, daß die ungewöhnlich kleine Blutlache photographiert wurde. Als dies erledigt war, fragte er:
»Haben Sie Blitzlicht da?«
»Jawohl, Herr Kriminalrat.«
»Dann kommen Sie mal mit mir in den Wald, Sie sollen da am Ort der Tat einige Aufnahmen vom Waldboden machen.«
Nach einer halben Stunde war die Mordstelle leer. Die Spuren hatte die Polizei entfernt, die Potsdamer Landstraße zeigte wieder ihr tägliches Aussehen. Die Stätte, wo die Seele eines armen Menschenkindes verzweifelt Abschied von dem Körper genommen hatte, lag in der glühenden Sonne des Julimorgens, als ob nichts geschehen wäre.