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Ingelheim

Eginhard und Emma

I.

Es ist eine alte, rührende Geschichte, die ich Dir erzählen will, mein Leser, und was sie vor andern voraus hat, das ist ein Körnchen historischer Wahrheit.

Zu Ingelheim, einem schmucken Städtchen im rebengesegneten Rheingau, erhob sich voreinst ein stolzer Marmorpalast, die Lieblingsresidenz Karls des Großen. In jene weltferne, glückatmende Einsamkeit zog sich der große Frankenkaiser oft zurück, nur begleitet von seinen treuesten Vasallen und den Mitgliedern seiner Familie. Unter den Auserlesenen fehlte nie Eginhard, des Kaisers Sekretär. Obgleich noch jung, war er dennoch wegen seines umfangreichen Wissens bei Karl hoch angesehen und erfreute sich der besondern Huld seines Gebieters. Der junge Gelehrte, dessen ernstes, frauenhaftes Jünglingsantlitz sich zwiefach aus der Schar der wetterfesten Kriegsmannen abhob, mißfiel den Frauen des kaiserlichen Hofes nicht minder.

Karl hatte den Sekretär in seine Familie eingeführt und anvertraute ihm die Unterweisung seiner Lieblingstochter Emma, dazumal bekannt als die schönste Dame ihrer Zeit. Sie war die Tochter der Grismonda. Aus ihren Augen, dunkel wie der Fittig der Raben, redete das Fühlen ihrer italischen Mutter. Bald fühlte der jugendliche Lehrer sein Herz entflammen an der Glut jener Südlandsblicke und die Schreib- und Lesestunden wurden zu Liebes- und Schäferstunden.

II.

Jedes liebte und sah sich wiedergeliebt vom andern.

Es war ihre erste Liebe.

Er hätte solchen Ausgang ahnen müssen, der große Karl, als er den jungen Gelehrten mit dem frauenhaften Antlitz der jugendlichen Tochter mit den Glutaugen übergab. Er hätte es ahnen müssen.

In traumstiller Nachtstunde, wenn Schlaf auf allen Lidern lag, schlich sich Eginhard in das Gemach seiner Geliebten. Dann lauschte die Tochter Karls des Großen den süßen Schmeichelreden des zum Dichter gewordenen Gelehrten. Sie irrte liebestrunken mit ihm auf einem Meer seliger Hoffnung, dessen Klippen ihre jugendliche Unbedachtsamkeit nicht sah. Eginhard besaß ein glutvolles Herz, doch rein wie keusches Sternenlicht war die Flamme seiner Liebe zu der Tochter seines Herrn: keine Leidenschaft trübte ihren Schimmer.

Aber das Geschick war gegen sie.

Während einer Herbstnacht befand sich Eginhard wiederum bei der Geliebten. Der große Palast war in Dunkelheit gehüllt. Kein Stern strahlte am Himmel, das Glück der Liebenden zu verraten. Die Stunden der Liebe fliehen schnell. Im Augenblicke, wo Eginhard das Gemach verlassen wollte, bemerkte er, daß der Hof drunten mit einer Schneedecke überzogen war.

Unmöglich, ihn zu überschreiten, ohne seine Fußspuren zurückzulassen. Dennoch mußte er sein Zimmer drüben gewinnen. Was war zu geschehen?

Liebe ist erfinderisch.

Nach kurzem Nachdenken kamen beide zu einem Entschluß, den seither ungezählte Dichter besungen haben. (Wäre ich ein Dichter, auch ich würde ihn besingen.) Das zarte Mädchen nahm den Geliebten auf den Rücken und überschritt mit ihm den weißen Hof. In den glitzernden Schnee zeichnete sie die Spuren zweier reizenden Füßchen.

Karl der Große wachte noch zu dieser Stunde. Schwere Sorgen über sein Riesenreich bannten den Schlaf aus seinem Gemach. Am Fenster lehnte er und schaute schweigendernst in die Nacht. Da gewahrte er einen Schatten, der den Hof überschritt. Er beugte sich vor und erkannte Emma, seine Lieblingstochter, auf dem Rücken – Karl starrt weitoffnen Auges – einen Mann tragend, und dieser Mann – ein leiser Schrei aus Karls Mund – war Eginhard, der Günstling. Im Herzen des Kaisers kämpften Schmerz und Wut. Er wollte hinunterrasen, die Elenden zu töten: er bezwang sich. Unfaßbar wäre die Schmach: Kaiserstochter und Schreiber! Ertappt vom Herrscher von Millionen auf dem Buhlgang! Ein tiefer Seufzer preßte sich aus seiner mächtigen Brust. Er trat zurück in sein Zimmer und die kleinen Flocken, die um die Scheiben irrten, sahen noch lange sein grambewegtes Antlitz.

III.

Am andern Morgen versammelte der große Karl seine Räte. Die alten Getreuen entsetzten sich bei seinem Anblick, Falten furchten seine Stirn, Gram nistete in seinen durchwachten Zügen. Eginhard vor allem betrachtete seinen Gebieter mit ahnungsvoller Scheu. Karl erhob sich und sprach:

»Was verdient eine königliche Prinzessin, die zur Nachtzeit einen Mann aufnimmt in ihre Gemächer?«

Die Räte betrachteten sich sprachlos. Eginhards Angesicht wurde bleich wie der Tod. Die Getreuen suchten nicht lange, um den Namen jener Fürstentochter zu finden. Verlegen berieten sie eine Zeit; dann nahm einer das Wort:

»Majestät, bei Verbrechen der Liebe sei das schwache Weib stets der straflose Teil.«

»Und was verdient ein Günstling des Kaisers, der sich des Nachts in die Gemächer einer königlichen Prinzessin hineinschleicht?«

Funkelnden Auges wandte sich der eiserne Karl an seinen Schreiber. Eginhard zitterte leicht und das frauenhafte Antlitz ward noch bleicher. Verloren! murmelte er. Dann, sich hoch aufrichtend:

»Den Tod, mein Herr und Kaiser!«

Karl der Große betrachtete den Jüngling voll Bewunderung. Vor dieser Selbstanklage und heißen Reue schmolz der Zorn in seiner Seele und machte mildern Regungen Platz. Tiefes Schweigen folgte der Antwort des Geheimschreibers. Wenige Augenblicke später verabschiedete der Kaiser die Räte. Eginhard machte er ein Zeichen, ihm zu folgen.

Stumm vorausschreitend, führte ihn Karl in sein Arbeitszimmer. Die zweite Thür öffnete sich: Emma erschien, von ihrem Vater gerufen. Ihr Antlitz war totenfahl, als sie den finstern Blick des Kaisers und die kummerbleichen Züge des Geliebten erschaute. Sie begriff sofort alles und mit einem erschütternden Wehruf stürzte sie dem Vater zu Füßen.

»Gnade, Gnade! Mein Vater! Wir liebten uns so sehr!« und ihre großen, umflorten Augen hoben sich flehend.

»Gnade!« murmelte auch Eginhard und beugte das Knie.

Der Kaiser blieb stumm. Dann begann er zu sprechen, zuerst hart und ernst, mählig, unter dem Schluchzen seines Lieblingskindes, milderten sich seine Worte.

»Weil ihr Euch liebt – seltsam betonte er das Wort – will ich Euch nicht trennen. Ein Priester soll Euch vereinen, und das nächste Morgenrot findet Euch nicht mehr hier.«

Die Thür schloß sich hinter ihm.

Schmerzversunken, des Inhaltes der Rede nur halb bewußt, kniete das schöne Mädchen. Eine weiche Stimme ließ es zusammenschauern. Sanft zog sie Eginhard an sein Herz.

»Weine nicht, Emma!« flüsterte er; »indem Dein Vater, mein Gebieter, Dich von sich stieß, hat er uns auf immer verbunden.«

Reichlicher strömten ihre Thränen.

»Komm,« fuhr er bewegter fort, »die Liebe wird uns begleiten.«

Am andern Morgen verließen zwei jugendliche Pilger das Schloß zu Ingelheim und wandten sich in die Richtung nach Mainz.

IV.

Jahre schwanden.

Der große Karl hatte den Krieg in die Sachsenwälder getragen. Er hatte auf sein Haupt die Krone der Römer gesetzt und die Welt war erfüllt von seinem Ruhme. Dennoch war sein Haar gebleicht und sein Herz gealtert. Ein trauerndes schönes Bild wob sich seit Jahren in seine Gedanken und wehrte sich gegen jegliches Vergessen. Am Abend, wenn sich die untergehende Sonne in den Marmorsäulen des Königsschlosses spiegelte und ihre letzten Strahlen das hohe Gemach des Frankenherrschers vergoldeten, dann sah sie ihn häufig unbeweglich dort sitzen auf reichgeschnitztem Stuhle, das mächtige Haupt verhüllt in den Händen.

Trübe Träume spann der Kaiser.

Er gedachte der Tage, welche nicht mehr waren. Er gedachte des jungen Mannes, den sein sanftes Wesen, sein frauenhaftes Antlitz zwiefach aus der Schar der wetterfesten Kriegsmannen kenntlich gemacht hatte. Mit welchem Feuer hatte er stets die herrlichen Heldengesänge vorgetragen, mit welcher Innigkeit die rührenden Volkslieder und Sagen, welche der Kaiser mit regem Eifer stets sammelte! Wie er dann vorgelesen aus dem grauen Pergament, das er selber zierlich geschrieben, da war gar oft ein dunkeläugiges Mädchen zugegen gewesen, des großen Karl Lieblingstochter: an des Vaters Knie geschmiegt, lauschte es der sanften Stimme des Vorlesers, und in sein reines Auge stahl sich zuweilen eine Thräne der Rührung.

V.

Jagdfanfaren durchschmettern die Einsamkeit des Odenwaldes. Karl der Große und seine Getreuen liegen dem edlen Waidwerk ob, Der alte Kaiser, der überall Vergessen sucht, hat den Speer ergriffen, die Hirsche der Wälder zu erlegen.

Er hat sich von seiner Begleitung getrennt und verfolgt eben einen stolzen Sechzehnender. Schon steht die Sonne tief am Himmel, das verfolgte Tier jagt auf den Main zu, dessen Fluten durch das Geäst glitzern. Es erblickt den Fluß, stutzt einen Augenblick und, gehetzt von des Verfolgers Nähe, stürzt es sich in die Wellen, die es schwimmend durchschneidet. Der Kaiser erscheint: erschöpft steht er am Ufer. Nun erst bemerkt er, wie unmerklich der Abend ihn überraschte in einer Gegend, die ihm gänzlich unbekannt.

Vor sich hat er den Strom, hinter sich den Wald. Schon strahlen über ihm die ersten Sterne. Vergebens sucht Karl, den rechten Weg längs dem Flusse zu finden. Der Wald, den er soeben durchbrochen, scheint undurchdringlich. Tiefe Nacht umhüllt ihn.

Da glänzt unerwartet ein Licht aus der Ferne. Der Kaiser schaut hin und schreitet, froh überrascht, der Richtung zu. Eine Hütte winkt, einen Steinwurf vom Ufer, aus dem Gehölz durch das erhellte Fenster gewahrt der königliche Späher ein dürftiges Zimmer.

Vielleicht die Klause eines frommen Mannes! denkt er.

Er klopft an der Thür. Ein blondbärtiger Mann erscheint.

Der Kaiser berichtet, ohne sich zu nennen, seine Verlegenheit und bittet um Obdach für die Nacht.

Bei dem Klang seiner Stimme geht ein Zittern durch den Körper des Mannes. Er läßt den Kaiser eintreten. Eine junge Frau sitzt auf einem Schemel und wiegt ein Kind auf ihren Knieen. Beim Anblick des Kaisers flammt ihr dunkles Auge auf, ihr Antlitz wird weiß wie Marmor. Eilends begiebt sie sich in den anstoßenden Raum, um ihr Schluchzen zu verbergen. Karl setzt sich nieder und stützt, jede Erquickung des Gastgebers ausschlagend, das Haupt müde in die Hände.

* * *

Minuten vergehen.

Schläft er?

Nein, Träume spinnt er, trübe Träume.

Er gedenkt der Tage, welche nicht mehr sind. Er gedenkt des jungen Mannes, den sein sanftes Wesen, sein frauenhaftes Antlitz zwiefach aus der Schar der wetterfesten Kriegsmannen kenntlich gemacht hatte. Mit welchem Feuer hatte er stets die herrlichen Heldengesänge vorgetragen, mit welcher Innigkeit die rührenden Volkslieder und Sagen, welche der Kaiser mit regem Eifer sammelte. Wie er dann vorgelesen aus dem grauen Pergament, das er selber zierlich beschrieben, da war gar oft ein dunkeläugiges Mädchen zugegen gewesen, des großen Karl Lieblingstochter: an des Vaters Knie geschmiegt, lauschte es der sanften Stimme des Vorlesers und in sein reines Auge stahl sich zuweilen eine Thräne der Rührung.

Der Kaiser seufzte tief auf.

Eine silberne Kinderstimme entriß ihn seinen Träumen. Ein Mägdlein von etwa fünf Jahren, mehr Engel als irdisches Wesen, näherte sich ihm schüchtern und bot dem fremden Gast den Nachtgruß seiner Mutter. Bewegt schaute der Kaiser auf das Kindlein, das ihm sein weißes Händchen entgegenhielt. Doppelt entzückend wirkte seine unschuldsvolle Schönheit in der düstern Umgebung: ein Pastell in einem dunklen Rahmen.

»Wie heißt du, Kleine?« fragte der Kaiser.

»Emma!« antwortete das Kind.

»Emma!« wiederholte Karl und eine Thräne perlte über seine Wangen. Er zog das Engelkind an sich und drückte einen Kuß auf seine reine Stirn.

Eine Bewegung entstand. Zu des Kaisers Füßen lagen der blondbärtige Mann und sein junges Weib und erflehten schluchzend Verzeihung.

»Emma! Eginhard!« ruft Karl mit zitternder Stimme und umarmt sie weinend. »Gesegnet sei die Stätte, wo ich Euch wiedergefunden!«

Über der stillen Hülle schwebt der Engel des Friedens.

VI.

Emma und Eginhard kehrten in großem Pomp zum Hofe des Kaisers zurück. Karl schenkte ihnen das prächtige Schloß zu Ingelheim und fühlte sein Dasein an der Seite seiner geliebten Kinder sich verjüngen. An der Stelle, wo er sie wiedergefunden, ließ er ein Kloster errichten; später entstand ein Stadtort. Seligenstadt heißt sie bis auf den heutigen Tag.

Zu der Kirche zu Seligenstadt zeigt man noch das Grab Eginhards und Emmas. Ihre Gebeine wurden, getreu ihrem Wunsche, in demselben Sarkophage beigesetzt.


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