Josef Ruederer
Das Erwachen
Josef Ruederer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Gedankenfreiheit.

Als der König nach einer unruhigen Nacht sich so langsam in seinem Bette zurechtfand, ging sein erster Blick zu einer Idylle aus dem Theokrit auf der Decke des Gemaches empor. Er rieb die Augen, dann richtete er sich energisch auf und schob den in Falten gelegten Paravent aus grüner Seide, der am Fußende des Bettes aufgestellt war, eigenhändig in den vergoldeten Holzleisten auseinander. Nun sah er durch das Fenster hinaus in einen klaren Februarmorgen. Leicht bereift schimmerten das Dach der königlichen Post und der Giebel des Hoftheaters herein, während der lange Réaumur der Eckscheibe gerade auf dem Gefrierpunkt stand. Es versprach also einer jener Tage zu werden, die, dem Kalender zum Trotz, um zehn Uhr schon Frühlingswärme bringen und gegen Abend nach München so etwas vom Tone des Südens tragen, wie es von San Miniatos oder Fiesoles Höhe, vom Veroneser Giardino Giusti oder von Venedigs Campanile über die Alpen weht. Das freute den König, das stimmte ihn zuversichtlich, so daß er am liebsten ohne Zaudern an die Arbeit gegangen wäre. Da aber die Stutzuhr auf dem Mahagonitischchen erst gegen einhalb acht wies, und vor acht Uhr das faule Beamtentum nicht in die Residenz zu bringen war, legte er sich noch einmal in die Kissen zurück, indem er die Decke hochzog und wieder zu der Hirtenszene hinaufblickte. Eigentlich war das nicht seine Gewohnheit; sonst sprang er, ohne Rücksicht darauf, wann der vortragende Rat oder der Kabinettsekretär sich einfinden würden, schnell aus dem Bette, indem er den mit bunten Glasperlen gestickten Glockenzug an der seidenen Quaste in Bewegung setzte. Selbst die Schokolade, die auf dieses Zeichen erschien, nahm er so zwischen Waschtisch und Kleiderschrank, ohne sich lange mit den sechs feinen Biskuits auf der daneben stehenden Silberplatte abzugeben. In letzter Zeit aber er tappte sich Ludwig I. dabei, daß er gern eine Ausnahme machte. Er drehte sich dreimal herum, ehe er den Fuß auf den rotsamtenen Teppich setzte und in die Lederpantoffeln schlüpfte, ja, er stellte im Bette regelrecht zusammen, was er am Abend vorher erlebt hatte oder am heutigen Tage arbeiten wollte. Manchmal murmelte er sogar mit halbgeschlossenen Augen, während er auf dem Rücken lag, einige Worte. Unzusammenhängend, wie sie waren, hätte nicht einmal der Kammerdiener den Sinn erraten können, wäre er verstohlen ins Zimmer geschlichen. Nur ein ganz Kundiger vermochte nach und nach so etwas wie Verse zu entwirren, neue und alte, wie sie dem König gerade einfielen. Selbst Dialoge von Dramen wurden rezitiert. Dabei beschrieb der Monarch anmutige Bewegungen mit der Hand, als empfänge oder entließe er huldvoll. Ein liebenswürdiges Lächeln pflegte um seine Lippen zu gleiten, wie in den Augenblicken, wenn er mit einem Künstler ganz besonders zufrieden war oder sich überrascht zeigte, daß die Kosten für ein Kunstwerk geringer ausfielen, als er ursprünglich erwartet hatte. In diesen Augenblicken frohester Harmonie warf er dann sogar mit dem Zeige- und Goldfinger leichte Küsse in unbestimmte Richtung. Alles dies, während er den Körper ausstreckte und die lebhaften Augen bald auf die Fabelwesen des griechischen Dichters, bald auf ein Sofa an der linken, bald auf das Bild der Königin auf der rechten Wand eilten. Der anmutige Schritt des Hirtenjünglings, der, die Schalmei blasend, neben einer Jungfrau dahinschritt, fesselte ihn am meisten. Er hatte sich diese Lyrik nebst drei anderen Darstellungen, die die Decke schmückten, eigens für das Schlafgemach herstellen lassen, während draußen im Ankleidezimmer die grotesken Phantasiegebilde des Aristophanes aus den Vögeln, den Wolken, den Fröschen, den Wespen prangten und drüben im Arbeitszimmer sowie im Empfangssalon die ganze Schwere des Sophokles und Äschylos auf seinen Befehl regierte. Nur war es seltsam, daß ihn diese Darstellungen, verbunden mit der außerordentlichen Höhe der Räume, seit einigen Monaten fast kalt anmuteten. Wer verdammt blieb, sein Leben in Palästen zu verbringen, hatte sich freilich an solche Dimensionen zu gewöhnen. Das sagte sich der König selbst; außerdem brauchte er nicht in den endlosen Korridoren der alten Residenz herumzuirren oder am rauchigen Kaminfeuer wie seine Vorfahren zu frösteln. Er hatte selbst gebaut, er wohnte so, wie er's, Quadratschuh für Quadratschuh, höchst eigenwillig bestimmt hatte. Mochte man dabei aber auch jede Nische und Ecke, jedes Gesims und jede Lünette aufs peinlichste mit dem Baumeister erwogen haben, es blieb ein Wohnen auf dem Servierbrett, in größter Repräsentation und Äußerlichkeit. Das Behagen, womit selbst der kleinste Bürger sein Leben gestalten konnte, blieb aus, auch fehlte das Lauschige, das Verschwiegene. Statt der schmalen Treppe, deren Teppich den Schritt dämpfte, führte ein Aufbau gehäufter Granitblöcke im gähnenden Vorraum des nach dem Palazzo Pitti errichteten Prachtbaues zur Höhe. Stufen von einem Umfang taten sich da auf, daß Potentaten, die zu Gast kamen, mit dem hohen Ehgemahl und den fürstlichen Wirten in einer Reihe nebeneinander marschieren und zugleich den vorgeschriebenen Abstand wahren konnten. Jedes Geräusch, jedes Lachen fraß diese kirchenartige Halle und gab es doch mit hohlem Echo wieder. Dazu Fenster in den Wohnräumen, so hoch, daß die Flügeltüren gemütlicher Familienhäuser ohne jedes Abbiegen durchgingen und eine Scheibe so viel maß, wie ihrer sechs an den Hütten der Au. So machte sich das wachsende Licht grell und unbarmherzig breit, das letzte entschleiernd, das Verborgenste bloßlegend. Und diese Helligkeit war dem König das Zuwiderste an seiner neuen Residenz. Erst hatte er aufgeatmet, als er endlich in Räumen sich niederlassen durfte, die nicht Schießscharten als Fenster boten wie die alten Burgen, sondern die Sonne unbehindert in jeden Winkel huschen ließen, er hatte es mit der ihm eigenen Rastlosigkeit jedesmal kaum erwarten können, daß der Morgen hereindämmerte, und hatte niemals gestattet, Portieren hinter den Scheiben anzubringen. Heute aber blickte er, den Kopf auf den Arm gestützt, mit gerunzelter Stirne in den kleinen Handspiegel, den er vom Nachttischchen nahm. Wies sein Gesicht wirklich so viele Falten auf, sein Haar so viele graue Fäden, seine Zähne so viele schwarze Plomben auf gelbgrauem Untergrund? Oftmals in früheren Jahren fragten Ihre Majestät, die Königin, ob er nicht auch einmal ihrem Massagekünstler Audienz geben oder den Hoffriseur über sein Haupt kommen lassen wollte. Er hatte es regelmäßig ausgeschlagen, denn er fand jede Minute vergeudet, die man auf solchen Schnickschnack verwendete. Die Hof- oder Staatsbeamten, die so pomadisiert zum Dienste antraten, so absichtlich hergerichtet und zurechtgestrichen, waren ihm widerlich wie die Weiber, die zu stark nach Moschus rochen. Zu Hause liefen sie ja doch alle wie die Schweine herum und richteten sich eben nur für den einen Augenblick her, wo sie buckeln mußten. Hohlen Plunder hatte der König es immer genannt, wenn er in ihre Nähe kam, und sich dabei besonnen, wie lächerlich ihm sogar der Sieger von Marengo erschienen war, als das glattgestrichene Haar des gesalbten Despoten bei der Trauung des Vizekönigs von Italien einen süßlichen Duft ausströmte. Auch den Luxus täglicher frischer Wäsche auf dem Körper, bei der Tafel oder im Bette verwarf er, aller höfischen Etikette zum Trotz, als überflüssig und kostspielig. Er hatte auf seinen Reisen so manchmal in schmutzigen Leintüchern gelegen und trotz Ungeziefer sich wohler gefühlt als in dem Lager, das, am oberen Ende von einer Krone geschmückt, am untern das bayerische Wappen aufwies. In den letzten Wintermonaten aber fiel es ihm unangenehm auf, daß an der Stelle, wo das Haupt sich im Kissen vergrub, ein stetig zunehmender Fettfleck erschien. Der kam von dem Rosenöl, das er jetzt in die Haare legte, wie die dunkeln Streifen am Vatermörder von der feinen Pariser Creme stammten, mit der er die frisch rasierten Backen und das Kinn bestrich. Selbst die Nägel färbten auf der seidenen Decke ab, da sie mit einer besonderen roten Salbe frottiert wurden, um höheren Glanz zu gewinnen.

Hausladen, der Kammerdiener, leitete diese Behandlungen. Das war nicht der übliche Bediententyp mit der schlanken Figur und dem ausgemergelten Komödiantengesicht, sondern ein runder, rotbackiger Mensch mit Bartkoteletten und ausrasiertem Kinn, der auch durch den blauen Rock mit den langen Schößen und den silbernen Knöpfen noch ein wenig an den ehemaligen Korporal erinnerte. Der geräuschlose Mann kam auch diesmal mit einer tiefen Verbeugung herein, indem er sich unter fragenden Blicken zum Ankleidezimmer drehte. Früher brauchte er das nicht. Da nahm der König, wenn er nicht schon morgens ein besonderes Paradekleid anlegte, jedesmal denselben grauschwarzen Anzug, den er tags vorher getragen hatte, dieselben Stiefel mit den hohen Schäften und den doppelten Sohlen sowie dieselbe Krawatte. Jetzt aber überlegte er lange, bis er entschied. Und dann war es nicht das nächstbeste, einförmige Kostüm, sondern in der Regel eine Zusammenstellung, die er aus einem blauen oder braunroten Rock mit schwarzem Samtkragen, aus geblümter Seidenweste sowie aus gelben, weißen oder karierten Hosen erdachte. Auch die Schuhe wurden sorgfältig gewählt. Gewöhnlich waren es solche, die, in glänzendem Lackleder gehalten, ein kokettes Schleifchen auf dem Rist, den oberen Teil des Fußes freigaben, damit man die bunten Socken gewahren konnte. Die größte Schwierigkeit bot die Bestimmung der Krawatte, denn die mußte dem Spitzenjabot angepaßt werden, das mit einer Brillantnadel daruntergesetzt wurde. Außerdem sollte sie in Farbe und Art mit dem Rocke übereinstimmen oder ihn wenigstens nicht stören. »Wahl macht Qual!« seufzte der König den Hausladen an. Der Kammerdiener, der zwischen dem Vorzimmer und dem Schlafgemach seine in weiße Gamaschen gewickelten Beine bewegte, lächelte diskret. Wenn sein Herr ihn ansprach, dann war der Schlaf ein gesegneter gewesen und die gute Laune für die nächste Stunde gesichert. So breitete er denn, nachdem er das Frühstück präsentiert hatte, Stück für Stück vor dem König aus. Er ging dabei mit den Anzügen um wie ein Schüler mit dem Speisetuch bei der ersten Kommunion. Nicht die vollen Hände griffen zu, sondern Daumen und Zeigefinger hoben auf beiden Seiten Rock oder Hose empor, um sie dann auf das Sofa niedergleiten zu lassen wie ein eingezogenes Segel. Dabei machte er ein Gesicht, so geduldig, so ergeben, als ob er nicht dreißig neue Kleider, sondern deren hundert hervorzuholen hätte. Nur als der Monarch mit plötzlicher Bewegung auf einen rotbraunen Gehrock wies, erlaubte er sich, ganz kurz sein Erstaunen zu bekunden. Aber nicht etwa durch eine Äußerung – mit einer solchen wäre er bei seinem Herrn und Gebieter übel angekommen – auch nicht durch eine Geste, sondern nur durch einen kurzen Blick. Er richtete nämlich die Augen ein bißchen nach dem Himmel, wie traumverloren, als hätte er so etwas am heutigen Tage nicht für möglich gehalten, und als fände er's doch vollkommen begreiflich, daß nur diese und keine andere Wahl getroffen wurde. Nichts natürlicher, als daß ihn der König nach dem Grunde dieser Verzögerung fragte. Erst jetzt erlaubte sich Hausladen, im schüchternen Tone an die Audienz zu erinnern, die heute doch stattfinden sollte. Dabei murmelte er auch so etwas wie von sonstiger Gewohnheit und Frack. Kaum aber hatte er diesen Satz über die Lippen gebracht, da reute es ihn schon. Der König veränderte mit einem Schlage sein ganzes Gesicht, er stieß den Atem von sich und meinte schließlich, er möchte zum Empfang der Herren Minister am liebsten in Schwimmhose mit Stegen erscheinen, noch besser nackt mit Feigenblatt vorn und hinten. Ließe er in Rücksicht auf das Land davon ab, dann sehe er jedenfalls nicht den geringsten Grund, die einmal getroffene Wahl des rotbraunen Rockes zu ändern. »Oder findest du das vielleicht nicht passend?« forschte er plötzlich sehr aufgebracht. Der Diener sagte auch jetzt nichts, sondern sah immer noch so erstaunt und ergeben drein wie zuerst. Nur schienen sich in seinen Blick noch konstitutionelle Bedenken wegen der letztgenannten Toilette gemengt zu haben. Das reizte den König immer mehr. »Weiß wohl, du hockst nach beendetem Dienst auch bei Gevatter Schneider und Handschuhmacher am Biertisch, machst Politik und schimpfst auf mich. Aber bilde dir nur ja nicht ein, daß ich dich frage, was das Pack redet. Das hab' ich die fünfzehn Jahre nicht getan, seit du die Ehre hast, im königlichen Dienste zu stehen, das tue ich heute noch viel weniger, denn es ist mir gleichgültig, verächtlich, nebensächlich, wie aller Klatsch, der jetzt durch die Stadt geht. Oh pfui, pfui, pfui!«

Sehr von oben herab hatte er geredet, und doch klang es durch den schwer verhaltenen Zorn geradeso, als ob es ihm durchaus nicht gleichgültig wäre, was augenblicklich über ihn geredet wurde. Er dehnte nämlich die Sätze so breit, als erwartete er irgendeinen Widerspruch. Der kam aber nicht. Der Kammerdiener wußte genau Bescheid, daß im ersten Affekte jedes Wort vom Übel sein konnte; deshalb hütete er sich, auch nur einen Muckser zu tun. Er wußte ferner, die schönen Zeiten des Max Joseph, von denen manchmal noch alte Bediente in der Portierstube schwärmten, waren endgültig dahin. Dieser unvergeßliche Herr lebte nämlich nach dem Grundsatze des Napoleon, daß kein Monarch standhielte vor den Augen seines Kammerdieners, da der Schurke doch die letzten Geheimnisse kenne. So begrüßte er jeden Morgen den Eintretenden mit der Frage, was es Neues gebe in der Stadt. Dann erkundigte er sich nach den Verhältnissen der Hofdamen und der Theaterweiber, nach den frischen Skandalgeschichten der Residenz und konnte dem Kammerdiener einen Kronentaler vor Freude an den Kopf werfen, wenn er beim Lever gleich etwas recht Drastisches geboten bekam. Schlüpfte er dann in Socken und Unterhosen, lachte er immer noch, ja, er schlug sich manchmal auf den dicken Bauch vor lauter Freude. Mit solchen Botschaften mußte man dem jetzigen König auf fünf Schritte vom Leibe bleiben, da er sie als schwere Degradierung seiner hohen Persönlichkeit empfunden hätte. Trotzdem fand auch der Hausladen als gewandter Diplomat schließlich die Methode, die den König zum Sprechen brachte. Er schwieg, aber er schwieg nicht in der Sklavenmanier eines geprügelten Leibeigenen, sondern sehr geheimnisvoll mit fest gespannten Mundwinkeln und hochgezogenen Augenbrauen. So wie nur einer schweigen kann, der noch unendlich viel zu sagen hat. Dadurch erreichte er, daß der König allmählich zu fragen begann. Nun ließ er ihn zappeln, er stellte sich einfältig, bis der Allerhöchste Herr sehr ungeduldig wurde. Dann aber gab er ihm des öfteren etwas zu kosten, was der Max Joseph nicht einmal ertragen hätte, indem er mit unverändertem Gesichte beifügte, daß Seine Majestät ja befohlen hätten. So sehr das den König auseinanderbrachte, er fing immer wieder an, bis der Lakai endlich herausbrachte, daß der hohe Herr mit seiner Politik das innerste Herz des Volkes berührte. Nun konnte der König auf einmal lachen wie sein hochseliger Herr Vater, so zufrieden, so herzlich. Und er wollte diesen wunderschönen Februartag rot im Kalender anstreichen, daß er es auch an ihm fertigbrachte.

»Also, man mokiert sich über Herrn von Abel und seine Kollegen? Man schimpft, man läßt despektierliche Bemerkungen fallen über diese merkwürdigen Erscheinungen. Hm, hm, das ist ja sehr interessant, das amüsiert mich!« Vor einem halben Jahre hätte er im Angesichte der Möglichkeit, daß man seine ersten Diener verlache, die schöne Nymphenburger Porzellantasse auf den Boden geschleudert, die die Schokolade barg. Er hätte von Unverschämtheit und Schweinebande gesprochen, ja von der Beleidigung seiner eigenen Person. Heute führte er an der feinvergoldeten Handhebe das zierliche Gefäß mit Behagen an die Lippen. Auch die Biskuits ließ er sich, nachdem die Toilette beendet war, ausgezeichnet schmecken. Er nahm sie langsam, eins nach dem andern, weil er dabei eigentlich noch etwas erfahren wollte. Nur scheute er sich, danach zu fragen. Der Punkt erschien kitzlig, weil er noch mehr Stadtgespräch war als das Gebahren der Herren Minister. Auch fürchtete der König, der Hausladen könnte wieder gerade so ehrlich, so soldatisch antworten wie zuerst, und das wäre in diesem Falle nicht angenehm gewesen. Ungeziemende Bemerkungen oder gar die Wahrheit vertrugen die Majestät nur durch das Gespenst des Prangerl. Der aber war seit jenem Tage vom Allerhöchsten Ohre verbannt, wo er vor dem Ausstellungsgebäude die Warnung gegen die schöne Dame losgelassen hatte. Manchmal des Nachts, wenn der König nicht schlief, kam der bucklige Bursche allerdings dahergehumpelt. Er wollte seine bissigen Bemerkungen machen, er wollte warnen; es war vergebens. Einmal schlug der Monarch sogar heftig in die Richtung, wo er den Schatten zu sehen glaubte. Er zertrümmerte dabei aber lediglich eine Wasserkaraffe auf dem Nachttischchen und blutete heftig an der Hand. Das hetzte ihn erst recht auf gegen den verwünschten Halbfranzosen aus Kirchheimbolanden, der den hohen Flug seiner Ideen mit geiferndem Spott zu hemmen suchte, und so verschloß er ihm auch heute mit starrem Eigensinn die Türe. »A quatre épingles!« sagte er vor sich hin, indem er sich mit zufriedenen Blicken im Wandspiegel musterte. Dann schritt er, geleitet von einem Türöffner, gefolgt vom Kammerdiener, in festgeschlossenem Rocke, in gelber Hose, eine Kamelie im Knopfloch, den Stern des Hubertusordens auf der Brust, durch das Ankleidezimmer zu seinem Schreibtisch, zu jenem Bilde in goldenem Rahmen, das der Güldenstern Franzl so süßlich fand. Ihm galt des Königs erster Blick. »Soll warten, der Rat.« schnauzte er. »Wenn aber die Minister kommen, dann sollen sie's erst recht.« Damit ließ er sich nieder, lehnte beide Arme auf die blausamtene Schreibmappe mit der eingeprägten Silberkrone, nickte über die Säulen des Tintenzeuges den neugierigen Gazellenaugen zu, die er selbst so genannt hatte, und ließ die angenehm bewegten Sinne noch einmal hinauswandern in das Villino an der Barerstraße, wo er den gestrigen Abend verbracht hatte.

Kostbare Nippes in Porzellan und in Bronze, Sevresvasen mit mächtigen Blumensträußen, zierliche Kandelaber mit hängenden Kristallstücken und mildem Kerzenlicht, dazu vergoldete Puppen über grellweißen Kacheln der Cheminées: dies alles auf engstem Rahmen über schwere Teppiche zusammengeschoben, gab so etwa den Grundton des Hauses in allen Zimmern ab. Und inmitten dieses bis zum letzten Schlupfwinkel reich und weich gefütterten Nestes auf einem Récamiersofa in weiter, weißer Gewandung, eine Teerose im Haare, das Wesen, das seit einigen Monden das ganze Reich samt dem König veränderte: die Göttin, die Holde, die Tochter Andalusiens, die Lola oder, wie der Monarch sie persönlich anredete, die Lolita. Drüben, wo es zum verschneiten Gärtchen des Hauses wies, wartete, durch wohlverschlossene Türen getrennt, eine Schar festlich gekleideter Herren auf den Ruf zur Tafel. Offiziere, Staatsbeamte, Gelehrte und Künstler waren unter ihnen. Der sehr jugendliche Enkel des Herrn von Pellegrini, jenes Mannes, der den alten Gankoffen mal so trefflich beraten hatte, spielte, einen Samtsitz zwischen den Beinen, auf einer mit seidenen Bändern behangenen Mandoline einen Walzer von Lanner, indem er dabei unter übermütigem Lachen die Vorübergehenden mit dem Kopfe anstieß. »Herr Kammerjunker, Sie könnten auch etwas anderes tun!« meinte ein Ministerialrat. »Warum?« fragte der Musikant, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Je nun, wir stehen am Vorabend von Ereignissen, deren Tragweite sich gar nicht absehen läßt.« Der Herr von Pellegrini nickte gleichgültig und ließ sich auch jetzt nicht im geringsten aufhalten, die Finger durch die Saiten gleiten zu lassen. »Was geschieht,« lachte er, »weiß ich durch unsere Gönnerin seit drei Wochen! Das ganze Ministerium fliegt auf, und das ist die höchste Zeit, denn ein geistig so bedeutendes Land wie Bayern verträgt es nicht, länger in solchem Sumpfe zu waten.« »Sehr richtig,« rief ein junger Leutnant, »solch impotente Trotteln gibt's nicht ein zweites Mal wieder.« Der Kammerjunker wiegte sein Instrument im Arm wie ein Kindchen, das man zum Schlafen bringen möchte. »Ihrer Meinung!« nickte er. »Diese Herren sollen, wie man in Hofkreisen erzählt, die Frechheit haben, der vom König zur Gräfin ernannten hohen Frau das Indigenat zu verweigern.« Jetzt drängte sich ein älterer Herr mit breitem Ordensband dazu, ein Universitätsprofessor. »Meine Herren!« begann er mit der feierlichen Stimme eines Kanzelredners. »Wenn ich auch einerseits das Staatsrecht interpretiere und die Autorität einer festgefügten Regierung hochachte, so muß ich doch andererseits als freier Mensch gegen das Gebahren eines Ministeriums protestieren, das sich nicht scheute, die Menschenrechte samt Gesetzen mutwillig mit Füßen zu treten und die Göttin der Freiheit aufs infamste zu knebeln. Drum sage ich, wenn ich das noch erlebe, daß dieser unerhörte Bann gebrochen wird, daß die Wölfe im Schafspelz vertrieben werden und große Zeiten eine Wiedergeburt feiern, dann will ich . . . dann tue ich . . . ja, ich weiß es, offen gestanden, selbst nicht, was ich dann anfange.« »Überlegen Sie sich's noch!« rief Herr von Pellegrini. » Jedenfalls brauchen Sie keine Bedenken wegen Ihrer Auflehnung gegen das Ministerium zu haben, mein lieber Herr Professor. Denn wie ich Sie apodiktisch versichern kann, haben sich dieselben Herren, die jetzt unsere hohe Gönnerin verdammen, zuerst in aller Form an sie hinzuschmeißen versucht.« »Stimmt!« rief der Leutnant. »Seine Majestät haben dreimal recht mit der welthistorischen Behauptung, daß, wenn Lola Loyola wäre, sie niemals vom Ultramontanismus verfolgt würde.« »Ein famoser Witz!« tönte es aus der Ecke. Dort saß ein Mann mit einer Studienmappe, in die er munter drauf loszeichnete. »Kaulbach!« riefen die anderen, »was machen Sie denn da?« »Karikaturen von euch«, antwortete er trocken. Und er ließ sich durch die jetzt losbrechenden Zurufe ebensowenig in seiner Arbeit aufhalten wie der Herr von Pellegrini im Spiel. Nur eine Sekunde setzten beide aus, der Maler, um den Bleistift zu spitzen, der Kammerjunker, um eine neue Melodie zu beginnen, die Valse de Garde. Diese Töne drangen zu dem einsamen Paare hinüber, wie schwelgend in schöner Vergangenheit, in herrlicher Gegenwart und in leuchtender Zukunft. »Wissen Sie, Majestät, wo ich das zum erstenmal gehört habe?« lächelte die Señora. »Auf meiner Hochzeitsreise, auf der Fahrt durch die Biskaya. Da spielte sie mir ein junger Musikant täglich vor. Ach, es war eine himmlische, große Zeit, die der ersten, sinnberauschenden Liebe. Und mein Gatte war ein schöner Mann, ein sehr schöner Mann. Groß von Gestalt, trefflich von Wuchs. Was mich am meisten anzog und wovon ich mich am schwersten wieder trennte, waren seine Augen. Die glichen fast denen von Euerer Majestät. Doch! Doch! Widersprechen Sie nicht; es war ganz derselbe Ausdruck, nur, was ja selbstverständlich ist, nicht so vertieft.«

»Schmeichelkatze!« sagte der König jetzt zu dem Bilde. Im Hause der Angebeteten hatte er nichts erwidert, sondern nur hastig nach den merkwürdig kurzen Fingern der wohlgepflegten Hand gegriffen. Es war ja undenkbar, unmöglich, daß diese Frau ihn schön finden konnte, und doch schnellte ihn der Gedanke, daß er ihr nicht gleichgültig war, von seinem Stuhle empor. Er wußte, er sah es, daß er sich in seiner Residenz befand, während es ihn mit jeder Faser hinwegzog von dem langweiligen Tagespensum in die rosige Luft der Zerstreuung und Schönheit. Ja, wer hinaufgehen könnte wie die Helden des Aristophanes, wie Euelpides und Peisthetairos in die Lüfte, wer ein Türke werden oder den Mut des Grafen von Gleichen bekunden könnte, der zwei Frauen nahm, um mit beiden am Tisch und im Bett vortrefflich zu leben! Aber der König brauchte nur einen Blick aus seinem Fenster auf die Pfahlbauern zu werfen, die da unten über das Eierpflaster um das Denkmal seines Vaters in der Diagonale dahinzogen, um sich im selben Atem zu sagen, daß sie angesichts solcher Ideen Zeter und Mordio schreien würden. Und erst die Königin, die Prinzen, die Prinzessinnen! Ludwig I. fühlte es selbst am tiefsten, wie er an seiner Familie, vor allem an seiner über alles geschätzten Gemahlin hing; gedachte er aber der regelmäßigen Zusammenkünfte, die Sonntag nachmittags in der Amalienburg, in Schleißheim oder in der Residenz bei Tee und Zwieback veranstaltet wurden, sah er im Geiste die Mullkleidchen der Prinzessinnen vor sich, hörte er das ennuyante, französische Geplapper, die nichtssagenden Redensarten der Kavaliere, der Adjutanten und der Schranzen, bekam er bei diesen Gelegenheiten gar noch so zuckersüße Geschichten für holdselige Jugend und Unschuld von einem Hofschauspieler vorgelesen, da mußte er, trotz des guten Schlafes der letzten Nacht, mit offenem Munde ausgiebig gähnen. Lola sprach auch Französisch, aber das sprudelte aus ihrem Munde; es kam wie ihr Spanisch trotzig-schön heraus, dabei doch sehr verbindlich, sehr elegant und verlieh dem langsam gesprochenen Deutsch, in das es sich mit eigentümlichem Akzente legte, besonderen Reiz.

»Mein königlicher Freund,« fuhr sie fort, »Augen und Musik sind der bedeutsamste Ausdruck, den die Welt hervorgebracht hat. Nicht weniger wie alles spricht aus ihnen. Reisen Sie mit mir in mein Vaterland, worum ich Sie ja schon so oft gebeten habe, schwelgen Sie in den himmlischen Nächten an den Gestaden des Manzanares, im Riesenzirkus von Sevilla oder gar an der schönsten Stelle Spaniens, im Löwenhofe der Alhambra, zwischen rauschenden Fontänen, dann wird für Sie die ganze Natur ein ungeheueres Auge und eine große Musik werden, vor der wir uns beide mit andächtigen Sinnen betend verneigen.«

Überselig hatte der König zugehört. Sein nach jeder Richtung arbeitender Geist wollte zwar, der alten Gewohnheit gemäß, einen Augenblick die Frage aufsteigen lassen, ob denn der Löwenhof der Alhambra auch des Nachts dem allgemeinen Besuche geöffnet sei. Aber es überwog zunächst die Gewißheit, daß er als Monarch durch seinen bevollmächtigten Minister am Madrider Hofe Zutritt erhalten werde, und vor allem riß der Schwung der Sprache alle Bedenken hinweg. So gab er sich trunken hin, als sie nun, immer höher sich aufrichtend, in seinen eigenen Worten begeistert fortfuhr:

»In dem Süden ist die Liebe,
Da ist Licht und da ist Glut,
Da im stürmischen Getriebe
Strömet der Gefühle Flut.
Wonne muß die Seele trinken,
Tönt zur Zither dein Gesang,
Hin zu deinen Füßen sinken,
Machet deiner Stimme Klang;
Aufs entzückendste erscheinest
Du hier in der Anmut Glanz,
Hohes, Liebes hier vereinest
Reizend du in einem Kranz.«

»Ja, so sprach sie, die Göttin!« seufzte er jetzt vor dem Bilde. »Und ich Unfreiester der Unfreien soll heute Erörterungen über mich ergehen lassen, ob die Eisenbahnen verstaatlicht, ob die Tarifsätze für die zweite Klasse erhöht und Kupees für Frauen und Nichtraucher eingeführt werden sollen. Oh, oh, oh!« Ärgerlich vergrub er sein Haupt in die Arme, als wollte er nichts hören und nichts sehen. Er vergaß dabei, daß er früher sehr eifrig in solchen Akten blätterte, jeden fehlenden Beistrich ersetzte und in hellen Zorn geriet, wenn ihm das Geringste vorenthalten wurde. Diesmal empfand er alles Praktische als drückende Last. Aber die Wanduhr schlug neunmal an; es mußte also sein. »In Gottesnamen!« ächzte er. Dann schwang er sich auf zu einer gebieterischen Haltung am Schreibtische, die Rückseite an die linke Ecke geschoben, die Arme verschränkt, das Haupt nach oben gerissen. »Nur nicht so umständlich!« nörgelte er den vortragenden Rat an, als der seine Akten auf einem Nebentische ausbreitete. »Weiß schon, weiß alles! Außerdem nur sehr wenig Zeit zur Verfügung!« Der Beamte, der kein anderer war als der Celloschnitzer von der Burgstraße, der Rat Bauriedl, hatte von der neuen Eigentümlichkeit des Königs schon gehört. Er suchte sich also möglichst kurz zu fassen, schon aus dem Grunde, um selbst der ihm ungewohnten Arbeit recht bald überhoben zu werden. Trotzdem dauerte es dem König zu lang. »Mein Lieber,« näselte er, »es ist mir wirklich gleich, ob Herr und Frau Pimpelhuber separat oder vereint nach Augsburg fahren; auch ob sie dafür einen halben Gulden mehr oder weniger zahlen, ist mir höchst nebensächlich.« Da verneigte sich der Rat. »Mit der ersten Frage«, sagte er sehr bestimmt, »werde ich Eure Majestät nicht weiter belästigen. Die zweite hingegen dürfte im Interesse des Staates und seiner Einnahmen ebenso wichtig sein wie die weitere, ob der Bahnhof von der Hackerbrücke in die Stadt an die Stelle gerückt werden soll, wo die Haupt-Schützengesellschaft ihr Standquartier hat.« Jetzt sah sich der Monarch den Mann genauer an. Das war weder die Sprache, die ihm sonst an dieser Stelle entgegenklang, noch war es derselbe Duft, der vom Kopfe ausging. Eine Pomade mochte bei diesem dünnen Haarwuchs überhaupt als zwecklos erscheinen; was brauchte aber der Frack des Beamten nach Brasil zu riechen, was brauchte auf dem Brustlatz des Hemdes statt einer Busennadel ein brauner Kaffeefleck zu paradieren. Ungeduldig klopfte der Monarch mit den Fingern auf die Platte des Schreibtischs. Es mußte unbedingt dafür Sorge getragen werden, daß die Kerle sich besser anzogen, wenn sie die Ehre hatten, früh morgens in das allerhöchste Arbeitszimmer gelassen zu werden. Doch das war eine cura posterior, jetzt handelte es sich, die langweilige Frage der Eisenbahn so schnell wie möglich vom Hals zu bekommen. Ungeduldig schritt der Monarch durch das Zimmer. »Machen Sie meinetwegen höhere Tarife, wie sie da in die Rubriken eingestellt sind!« herrschte er den Rat an. »Schaffen Sie, wenn es nicht anders geht, getrennte Räume für die Geschlechter, damit die Sittlichkeit um Gotteswillen nicht leidet und kein Bürgermädchen für seine Jungfernschaft zu zittern braucht, wenn es sich dem Teufelsfuhrwerk von hier bis nach Aubing anvertraut. Was aber den Bahnhof und seine Verlegung betrifft, so sagen Sie den superklugen Herren vom Finanzministerium, daß ich ihren Plan für den unsinnigsten der Welt halte. Die Stadt wächst doch, sie geht nicht zurück, sondern in die Breite, nachdem ich sie so ausstaffiert habe, daß, wer sie nicht gesehen hat, niemals sich rühmen darf, Deutschland zu kennen. Was ist die logische Folge? Daß sie den Bahnhof hinausschiebt, nicht herein. Drum soll man ihn lassen, wo er ist, oder womöglich noch weiter verlegen.« Erstaunt sah ihn der Rat an. »Was Seine Majestät sagen, deckt sich fast Buchstabe für Buchstabe mit dem Referat, das ich selbst der königlichen Staatsregierung unterbreitete. Leider ist aber eine höchst einflußreiche Koterie an der Arbeit, die geltend macht, daß kein Mensch mehr das neue Verkehrsmittel benütze, wenn es so weit vor der Stadt bleibt.« Der König schlug ein paarmal mit der flachen Hand auf die Hüfte. »Ei, ei, eine Koterie? Es kommt demnach so, daß jeder Spießbürger seine eigene Haltestelle in der Stadt zu haben wünscht? Warum rücken sie dann die scheußliche Dunst- und Rauchansammlung nicht gleich auf den Schrannenplatz oder noch besser zu mir herein, vor die Residenz?«

Da der Bauriedl merkte, daß er auf diese Weise nicht durchkam, machte er einen Umweg. Er tat, als handle es sich um eine, durch Allerhöchsten Willen jetzt endgültig abgelehnte Sache, bei der man nur noch pflichtschuldigst beizufügen habe, welche Grundstückserwerbungen in Betracht gekommen wären. Nicht ohne eine gewisse Spitze nannte er dabei den Namen Gankoffen. »Gankoffen!« wiederholte der König mechanisch. Er war schon wieder ziemlich zerstreut, er ließ die Frauenkirche an sich vorüberziehen, er sah das eigene »y« sowie das des alten Reichsarchivdirektors vor sich, dann aber ließ er den Bauriedl weiterreden, indem er die Nase an eine Fensterscheibe drückte und seine Gedanken weit weg über den gleichgültigen Kram wieder ins Palais zu der Geliebten sandte. Was hatte sie gestern noch alles gesprochen? Gar manches, was sie schon öfter erzählte; aber noch niemals erschienen die kostbaren Mosaiksteine so glücklich zu einem berückenden Bilde gesammelt. Sie malte ihr Vaterland in immer glühenderen Farben, sie schilderte die alten Granden, die stolzen Familien und ihre eigene vornehme Abstammung. Da flammten ihre Augen auf einmal in heiligem Zorne. Denn nach all der Schönheit kam sie auf die Pfaffen zu sprechen, auf die unheilvollen Jünger ihres Landsmannes, jenes Ritters Lopez de Recalde, der schwerverwundet nach dem Montserrat pilgerte, dort zum Asketen wurde und endlich zum Heiligen Ignatius aufrückte, weil er den verderblichsten aller Orden ins Leben rief. Eine Geschichte aus ihrer Kindheit wand Lola hinein. Sie erzählte, wie schamlos ihr ein Jesuit in der ersten Beichte begegnete. Freilich züchtigte sie ihn dafür auf der Stelle, aber der reine Glaube war zerstört, er blieb es, so sehr sie ihn oft mit gerungenen Händen des Nachts zurückholen wollte. »Oh, diese Mörder.« sagte sie leise. »Erst jüngst, als ich im Theater saß und Schillers Don Carlos genoß, dieses gewaltige Drama der Auflehnung, mußte ich wieder an das arme Land denken.« – Sie machte eine Pause und sah ihm tief in die Augen. – »Aber nicht nur Spanien,« flüsterte sie, »auch Ihr Land, teurer Freund, fiel mir an jenem Abend ein, Ihr Land, das genau so tyrannisiert wird von den schwarzen Horden, während es doch nur eines einzigen Wortes bedürfte . . .« Hier unterbrach sie der König. So ganz einfach schien die Lösung doch nicht. Er haßte Abel und Konsorten, wie er sie jetzt zu nennen pflegte, aber er hatte zu lange mit ihnen regiert, um sie glatt über Bord werfen zu können. Diese Männer repräsentierten eine Macht, sie kommandierten die Kanzeln und Beichtstühle, und diese wieder die ganze Sippschaft der Skandalbrüder, der Gesellen und Dreigroschenmannl-Vereine, die auf jeden Wink in die vordersten Reihen sprangen, um im Namen Gottes die Fenster einzuschmeißen oder die Kreuzerpfeiferln in das Schandmaul zu stecken. Freilich durfte es nicht mehr lange in dieser Weise fortgehen. Die Verdummung des Volkes kannte gar keine Grenzen mehr. So oder so müßte ein Ende gemacht werden, schon deshalb, weil die finstere Bande auch Lola gelegentlich mit Steinen bewarf, dies beste, reinste, herrlichste Wesen.

Als erriete sie seine Gedanken, stürzte sie plötzlich, mit ihren Empfindungen immer noch bei der Szene zwischen Philipp und Posa, vor ihm nieder, indem sie seine Knie umschlang.

»Sire . . . Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder! Lassen Sie,
Großmütig, wie der Starke, Menschenglück
Aus Ihrem Füllhorn strömen! Werden Sie
Von Millionen Königen ein König.
Ja, geben Sie Gedankenfreiheit!«

»Sonderbare Schwärmerin!« erwiderte er, nicht minder in der Rolle. Nur daß er dabei nicht überrascht und mit weggewandtem Gesichte dastand wie der spanische König, sondern die schöne Frau eigenhändig zu sich emporhob. Ach, wie war das zum Losplatzen, als er auf einmal dies schmiegsame, junge Geschöpf mit dem heißen Fleisch der Arme und des Nackens, mit dem klopfenden Herzen an seine Brust drückte. Zwanzig oder nur zehn Jahre, wenn er jünger gewesen wäre, dann hätte er zugegriffen. Aber so fiel sein Blick gerade in einen Spiegel über der Cheminée, und da kam er sich, ungeachtet aller Beteuerungen, auf einmal fast lächerlich vor. Sein Gesichtsausdruck hatte so etwas Benommenes, etwas Unbeholfenes, daß er schnell wegsah. Auch entdeckte er dort oben auf seiner Stirne die Balggeschwulst, die sich bei ihm im Laufe der Jahre gebildet hatte, einen ansehnlichen, auffallenden Fleischknopf mit brennroten Tüpfelchen. Der hatte ihn, obwohl er nicht weh tat, von dem Tage an molestiert, da er Lolas Bekanntschaft machte; jetzt empfand er ihn, trotzdem er noch am Morgen mit Puder darüber gefahren war, wie das Abzeichen eines Aussätzigen. Ob Prangerl in diesem Augenblicke schnell durch das Zimmer tanzte, vermochte er nicht mehr genau zu sagen. Jedenfalls riß sich der Monarch noch einmal zusammen, er besann sich seiner selbst und lehnte die Bebende sanft in die Kissen des Sofas zurück, wo er sie mit seinen Blicken verschlang. So blieb er ein tapferer, ein aufrechter Mann, der sich wieder einmal bewährte. Aber wenn er seiner Familie, dem Vaterland, der Religion sowie der Reinheit der Sitten auch dieses furchtbare Opfer zu bringen bereit war, kein Mensch konnte von ihm verlangen, diesen langweiligen Sermon anzuhören, den der Beamte dort am Schreibtisch unterdessen eintönig wie eine Karfreitagsratsche herunterdrehte. »Bauen Sie Ihren Bahnhof, wohin Sie Lust haben!« schrie er. »Mich aber lassen Sie damit in Ruhe! Schluß für heute. Schluß, Schluß.«

Er war wirklich außer sich, sowohl über den öden Menschen als noch viel mehr über die Selbstbeherrschung der Lola gegenüber. Wer gab ihm denn etwas dafür, daß er so handelte? Das nahmen seine Untertanen, diese Bauern, doch nur, als ob sich das ganz von selbst verstünde, auch die liebe Geistlichkeit betrachtete es als heilige Pflicht. Aber er wollte ihnen schon zeigen, ob sie ihm Vorschriften zu machen hätten. Denn noch war das letzte Wort zwischen ihm und Lola nicht gesprochen.

»Noch bin ich. Habe Dank, Natur!«              

deklamierte er, als er jetzt allein war, vor sich hin wie Philipp II.

                                                      Ich fühle
In meinen Sehnen Jünglingskraft. Die Welt
Ist noch auf einen Abend mein. Ich will
Ihn nützen, diesen Abend, daß nach mir
Kein Pflanzer mehr in zehen Menschenaltern
Auf dieser Brandstatt ernten . . .«

Er setzte aus, denn er fühlte, jetzt stimmte es nicht mehr. Verse und Tatsachen gingen auseinander. Und doch lächelte er dabei, sehr listig, sehr siegesgewiß. Er konnte sich nämlich zu seiner Beruhigung sagen, daß es am gestrigen Abend bei dieser Askese nicht geblieben war. »Das wäre auch noch besser, mein lieber Firneusel,« so begrüßte er mit gewaltsam herausgestreckter Brust den eintretenden Hofmedikus. »Jawohl, das wäre noch besser, wenn ich die mindeste Rücksicht zu nehmen hätte.« Der Arzt sah bekümmert drein, sein hoher Pflegling machte ihm große Sorgen. Er hatte schon öfter vor einem Nervenkollaps gewarnt, er tat es heute bei der gewohnten Morgenvisite wieder, denn er sah das Unheil mit Riesenschritten hereinbrechen. Der König lachte gereizt. »Ich bin frischer wie je, und Sie kommen mir mit solchen Unkenrufen? Lieber, alter Freund, wir sind sozusagen groß geworden miteinander. Sie kennen mich gut, mein Haus dankt Ihnen manches, aber mit dieser Diagnose unterscheiden Sie sich nicht viel von Herrn von Abel, der sich gewiß sehr weise vorkam, als er die von mir zur Gräfin erhobene Göttin zu einer quieszierten, königlichen Solotänzerin herabzudrücken versuchte. Quiesziert! Ha, ha! Sie und quiesziert! Wenn ihr wüßtet, ihr . . . ihr alle, wie ihr da draußen seid!« Er wies mit der Hand verächtlich nach dem Empfangssaale.

Dort hatte sich, geführt vom Hofmarschall, das Gesamtministerium in großer Uniform unter dem Kronleuchter versammelt, während die Kammerherren und Kammerjunker vom Dienste in einer Ecke standen. Die Stimmung war schwül; sie erhielt die entsprechende Illustration durch die Ermordung des Agamemnon, das Totenopfer und die Eumeniden, die schicksalschwer von den Lünetten heruntersahen. Eine Verdickung der gewitterschwangeren Atmosphäre erfolgte sowohl durch die überheizten, eisernen Röhren, die glühende Luft ausströmten, als durch den zurückkehrenden Bauriedl, der im Hinblick auf die Gereiztheit der Allerhöchsten Person seinen Nachfolgern im Arbeitszimmer allerseits recht viel Vergnügen wünschte. Alles verhielt sich wie gelähmt, nur der Hofmarschall stieg mit weit ausholenden Schritten über das Parkett, indem er dabei dasselbe unbewegliche Gesicht machte wie an jenem Abend, da er die grüne Schärpe um den Leib trug. Im Gegensatz zu den andern, die in Gruppen verteilt herumstanden, sprach er gar nichts. Nur einmal, als er an dem Kriegsminister vorbeiging, meinte er, indem er ihm die Hand auf die Epauletten legte, höchst trocken, ein Soldat dürfe nicht zittern. Der so plötzlich Apostrophierte wehrte sich mit erstickender Stimme und mit hochrotem Gesichte gegen solche Insinuationen. Er habe das Memorandum, das sich gegen die neue Gräfin richte, genau so resolut unterzeichnet wie seine Herren Kollegen, er trete heute auch persönlich dafür ein. Von dem Hofmarschall sei man es ja gewohnt, daß er alle Welt grundlos verlästere; als Offizier und als Mann von Charakter müsse er sich aber jede bissige Bemerkung ein für allemal verbitten. Das hörte ein älterer Kammerherr mit dicken Hängebacken und mischte sich, indem er nach seiner Glatze griff, in die leis geführte Unterhaltung. Die Herren sollten den Streit lassen, in solcher Zeit müßten die Gutgesinnten zusammenhalten, denn die Situation sei eine affröse. Eine abwechslungsreiche sei sie gewiß, erhielt er vom Hofmarschall zur Antwort. Wenn man diese Bezeichnung dafür wähle, dann könne man fragen, was denn überhaupt werden solle? Es kam ein anderer herbei, ein Reichsrat, der im Aiblinger Moos ein großes Schloß besaß und dafür bekannt war, daß er jeden Sonntag mit all seinen Rendanten, seinen Verwaltern und Knechten einen Bittgang unternahm. Auf diesen Grafen hatte es der Hofmarschall schon lange, drum flüsterte er ihm ins Ohr, er solle von jetzt an mit seinem ganzen Gesinde samt Rindern und Schafen zur wundertätigen Madonna in die Barerstraße wallfahren, dort habe man besseren Erfolg. Diese Äußerung brachte den frommen Herrn, wie er selbst betonte, so aus der Kontenance, daß er sie als Signum temporis am liebsten direkt an Herrn von Abel weitergegeben hätte. Der aber stand unnahbar für sich, ohne nur einmal nach den andern zu sehen. Um ein beträchtliches überragte der unbeugsame Fanatiker alle im Empfangszimmer. Seine Augen, die was hatten vom Blick des Monomanen, waren erwartungsvoll auf die Eingangstüre des Arbeitszimmers gerichtet, seine scharf profilierte Nase stieß um so heftiger die Luft aus, als die schmalen Lippen sich immer gewaltsamer aufeinander krampften. Während aber die übrigen, mit Ausnahme des Hofmarschalls, den Kopf verloren, behielt er ihn oben, trotzig und hochgereckt wie der König selbst. Entweder mußte das Weib fort oder er. Dies Ultimatum überlegte er noch einmal mit allen Abstufungen und wartete ungeduldig, daß er gerufen würde, um in aller Ehrerbietung für den hochverehrten Monarchen seinen grenzenlosen Haß gegen jene loszulassen, die er für die Zerstörerin des ganzen Landes hielt.

Doch dem König eilte es gar nicht, sein Ministerium zu rufen. Es machte ihm sogar, während er mit dem Hofmedikus plauderte, ein heimliches Vergnügen, die ergrauten Diener des Staates neben den Höflingen, die so was schon besser gewohnt waren, ausgiebig zappeln zu lassen. Was hatte er denn verbrochen, daß sie es wagten, ihm ein Schriftstück zu senden, wie es in der blausamtenen Mappe verborgen lag, so frech, so anmaßend, so dünkelhaft? Wollte er die Staatsprinzipien umwerfen, die Religion abschaffen oder das Illuminatentum des Montgelas beschwören? Nichts von alledem; er wollte in Frieden mit seinem Volke leben, er wollte es mit seiner Familie, er wollte es aber auch nicht minder mit seiner Lola. Alle Rechte dachte er zu respektieren, allen Gläubigen wollte er ihre Ruhe lassen, ließ man ihm nur die seine. Mit seligen Gedanken war er diesen Morgen erwacht, einen Nachgeschmack auf den Lippen, den er sich noch beim Waschen zu erhalten suchte, indem er vorsichtig nur über Nase, Stirne und Backen fuhr und ausnahmsweise sogar vermied, die Zähne zu bürsten. In diesem Banne glaubte er alles wieder in ebene Geleise lenken zu können, selbst den Konflikt mit den Ministern. In Gedanken hatte er ihnen vom Bette aus sogar schon die Hand entgegengestreckt. Das würde alles nicht so schlimm werden, wie erst geredet wurde. Im letzten Momente könnte sich immer noch die Formel finden, die der Gräfin eine Stellung im Lande und am Hofe einräumte, wie sie schließlich auch einem Stadtrichter oder einem Silberbewahrer genehmigt wurde. Jetzt aber, wo die Minuten unbarmherzig voranschritten, wo auch der Firneusel zu warnen begann, so flehend und eindringlich, wie er sich's noch niemals herausnahm, senkte sich plötzlich das eine Wort in die Seele, mit dem er gestern geschieden war. Das aber war eine furchtbare Waffe, ein zweischneidiges Schwert; es erlaubte keine Toleranz gegen die schwarze Vettel, es forderte gebieterisch den Kampf bis zur Vernichtung. Um Sein oder Nichtsein ging es, nachdem Herr von Abel durch den Hofmarschall hereinsagen ließ, er habe mit seinen Kollegen nichts anderes zu holen, als die Antwort Seiner Majestät auf das Memorandum.

Wie sie's ihm abgetrotzt hatte, das Wort? Der König sah erst empor zum edlen Haupt der Antigone auf der Decke, dann herab zu dem nicht minder schönen Bilde der Lola. Griechenland und Spanien im Bunde vereint, durch die Tochter Sevillas! Sie hatte leise zu weinen begonnen, als er sie sanft in die Kissen zurücklehnte. Dann trat eine peinliche Pause ein, eine von jenen, wo man mit der Rede ebensowenig vom Fleck kommt wie mit dem Fuß, wenn man sich gründlich verlaufen hat. Lola selbst löste den Bann, indem sich ihre Tränen plötzlich zum hysterischen Schluchzen steigerten. Das kam heraus, so stark, so gebirgsbachartig, daß der König in höchster Bestürzung schon nach dem Doktor schicken wollte. Nicht nach dem Firneusel, der weder für hunderttausend Gulden noch für den Freiherrntitel in das verrufene Haus gegangen wäre, der Leibarzt der Lola sollte kommen, der ein Jude war und sich zu diesem Dienst gedrängt hatte. Aber als er das aussprach, hielt sie ihn zurück. Es sei keine Krankheit, sondern der Jammer darüber, daß sie, die die ganze Welt zu ihren Füßen sah, von dem verschmäht werde, den sie wie keinen geliebt habe. Was bedeute ihr Jugend und sinnloses Getändel; der Mann sei ihr alles, der große Mäzen, der Grieche, der Römer, der Teutsche. Der aber wende sein Angesicht von ihr und erhöre sie nicht. »Lolita!« rief Ludwig entsetzt. Und er war so klug, diesmal nicht in den Spiegel zu schauen, als er sich zu ihr niederbeugte. Aber ehe er weiterfahren, ehe er beteuern konnte, daß er nur sie liebe und keine andere, da war es schon auf seinen Lippen, das große Wort, das sich auch jetzt im Arbeitszimmer keuchend aus seiner Brust rang, als er sich diesen Augenblick in die Erinnerung zurückrief: »Gedankenfreiheit.« Wie ein Löwe in seinem Käfig schritt der Monarch auf und nieder. Dann aber schüttelte er plötzlich die Schultern des Hofmedikus, wie das königliche Raubtier die Stäbe seines Käfigs. »Firneusel, kommen Sie mir nicht mehr mit lendenlahmen Erwiderungen, reden Sie mir nichts mehr vom Abel! Ich will keine Jesuiten mehr in meiner Nähe, ich habe mich durchgerungen in furchtbaren Kämpfen, drum kein Wort mehr! Nicht die Verdummung, die staatsmännische Überlegung, der teutsche Mann in mir hat gesiegt. Jacta est alea! Ich verbanne die Römlinge, ich führe mein Volk von der tiefsten Tiefe zur erhabensten Höhe.« Da warf sich der Arzt auf die Knie, er beschwor, ja er fing zu weinen an wie die Gräfin vor dem Récamiersofa. Aber ihn zog der König nicht an seine Brust, er legte ihn weder sanft in die Kissen, noch streichelte er seine behaarte Hand, die nicht wie Lolas Finger ein Meer von Brillanten, sondern nur ein einfacher Ehering schmückte. »Das ist meine Antwort für die Herren da draußen!« So schrie er, zitternd vor Zorn und selig zugleich in der ungeheueren Erinnerung. Damit nahm er das Memorandum aus der Mappe und klingelte mit der silbernen Glocke des Schreibtisches ein paarmal scharf nacheinander. Vor dem Hofmarschall aber zerriß er das Papier in Fetzen. »Die bringen Sie Herrn von Abel!« sagte er. »Ich will ihn nicht mehr sehen, weder ihn noch seine Mitarbeiter. Alle sind in höchsten Ungnaden entlassen, denn jetzt wird einmal anders regiert.« Und er stürmte, ohne nach rechts oder links zu blicken, ohne zu grüßen, in den Empfangssaal hinein, mitten durch die auseinanderprallenden Gruppen, um sofort zur Treppe zu steuern. Die Bedienten jagten ihm nach mit Hut und Mantel, sie wollten ihm in den bereitstehenden Wagen helfen. Doch er sprang allein hinein, ohne sich umzusehen. »Gedankenfreiheit!« rief er. »Gedankenfreiheit! Ach, wie wohl, wie leicht ist mir jetzt zumut.« Dem Kutscher war das Palais der Gräfin als Ziel angegeben worden, dem Prangerl aber, der sich auf dem Teppich des Wagens ganz schüchtern zeigen wollte, versetzte der König einen Tritt, als wäre er der schwarze Pudel, den er zum Teufel jagen müsse.


 << zurück weiter >>