Josef Ruederer
Das Erwachen
Josef Ruederer

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Zweites Kapitel.

Großvater und Großmutter.

Es waren gerade so etwa die dreißig Jahre vor jener Partie in das Dachauer Moos, da lenkte vom selben Orte weg, wo die denkwürdige Hochzeit begangen wurde, der Großvater Luegecker an einem frischen Maientag einen Einspänner in eigener Person nach München zu. Er trug eine lange, dunkelblaue Hose, eine graue, mit grünen Aufschlägen und Hornknöpfen benähte Joppe, sowie einen breitkrempigen Filzhut und sah ernst vor sich hin. Mit der rechten Hand hob er in gewissen Abständen ein bißchen die Zügel hoch, indem er sie gleich darauf wieder zum Rücken des Pferdes herabfallen ließ, mit der Linken griff er ab und zu wie prüfend an den Leib, um den eine lederne Geldkatze unter der Joppe gebunden war. Neben ihm saß seine Frau, deren schlicht gescheiteltes Haar von einer hohen Pelzmütze bedeckt war, in violettem Kattunkleid, einen großen Korb auf den Knien. Den ließ sie keinen Augenblick aus den Händen, sondern drückte ihn, wenn der langsam dahinstolpernde Wagen einen Ruck machte, noch ängstlicher an die Brust, indem sie sich fast gleichzeitig mit mißtrauischen Blicken nach der langgestreckten Rückseite des Wagens drehte. Auf der wuchsen umfangreiche Holzkisten sowie eine große Handtasche, durch feste Stricke zusammengezogen, zur Höhe, als bildeten sie für das dahinziehende Paar auf dem unscheinbaren Kälberwagen die Lehne von Thronsesseln. So ging es fort ein paar Stunden, ohne daß die beiden ein Wort wechselten. Die Stille des Morgens wurde einzig vom Singen der Vögel unterbrochen, auch mischte sich das Rollen des ungefederten Wagens sowie das Wiehern der Pferde dazwischen. Es ging nämlich nicht nur das eine, das vorn an der Deichsel zog, mit; hinter dem Wägelchen rannte noch ein zweites, dessen leinerner Halfter durch einen Lederriemen am Hinterteil des Wagens befestigt war. Dieses Tier, das eine Braune war und auch so genannt wurde, wollte der Luegecker drinnen in der Stadt an den Meistbietenden losschlagen, nachdem ihm die Dachauer Bauern zu lumpige Preise geboten hatten. Er selber kam mit dem Schimmel vollkommen aus in dem neuen Betriebe, der ihm jetzt vorschwebte, ja, er glaubte unter Umständen fürs erste sogar, ohne Roß hausen zu können. Das Fleisch mochte der Knecht von der Bank holen, das Bier hatte der Brauer vorzufahren, und kostspielige Ausflüge gab es zunächst nicht. Doch dies alles konnte man in Seelenruhe abwarten. Die Hauptsache blieb, daß das Geschäft ging. Dafür wollten sie beide auch Sorge tragen, er, der was vom Bier verstand, seine Frau, die gut kochen konnte. Die Wirtschaft zur Schießstatt lag freilich ein bißchen entlegen, aber sie hatte ihr Stammpublikum, gebildet aus angesehenen Bürgern, ja, aus Adeligen. Außerdem galt das Bier, das er dort einführen wollte, als das beste der Stadt, es war kein gefärbtes Wasser wie das vom Singlspieler oder von der Lunglmayerin, es stammte vom Gaiglbräu, der sich augenblicklich des ersten Rufes erfreute. Die Gäste würden also ihre Haxen da hinaus schon so nach und nach in Bewegung setzen.

Das alles und noch viel Beweiskräftigeres hatte er seiner Frau nicht einmal, sondern zwanzigfach auseinandergesetzt, ehe er den folgenschweren Entschluß faßte, dem Dorfe auf immer den Rücken zu kehren. Leicht war es ihm ja selbst nicht geworden, das Anwesen zu veräußern, worauf seine Vorfahren, wie die Kirchenbücher auswiesen, über zweihundert Jahre das Feld bestellten. Einer nach dem andern war dort der Reihe nach geboren worden und gestorben, einer nach dem andern hatte, wenn er der Älteste war, den Namen Joseph getragen. Aber bei allem Respekt vor solch ehrwürdiger Überlieferung mußte man sich als sparsamer Hausvater das eine sagen, daß man da draußen nicht richtig mehr wirtschaften konnte. Ja, wenn man ein Großbauer gewesen wäre, wie die Knallprotzen in Niederbayern drunten, die die Hufe ihrer Rösser an Festtagen mit Champagner wuschen, oder gleich vierspännig zum Oktoberfest kutschierten, dann konnte man lachen. Konnte auch mit so hundert bis zweihundert Stück Vieh und tausend Tagwerk Wald was verdienen, aber das verdammte Kleingütlergefrett trug nichts mehr, es kostete nur. Auch lernte der Bub nichts in der elenden Schule, sondern wurde halt ebenso stumpfsinnig wieder ein Bauer wie seine Vorfahren. Und das sollte er nicht, denn er war gescheit; da gab's keinen Zweifel. Brachte es der Vater zu was, dann bliebe es wohl schwerlich bei der Wirtschaft vor den Toren, da man die Arme schon weiter ausstrecken würde. Denn in der Stadt drin war Leben, war Zukunft; es rührte sich was, es blieb nicht immer alles auf demselben Fleck. Auch hatte man's nicht nötig, wie auf dem Lande, so einer verlumpten Adelsfamilie da oben auf dem verkrachten Schloß den Polanti zu machen. Überhaupt diese Gutsherrschaft! Joseph Luegecker stieß unwillkürlich mit seinem Fuße gegen das Spritzleder, als ihm dieses welsche Gesindel jetzt in den Sinn kam. Seitdem sie im Jahre 1806 aufzogen, wo sie das verarmte Geschlecht der Grafen Treufels hinauskauften, sei das Unglück über die ganze Gegend gekommen. Da regierte keine Rechtschaffenheit mehr, da war nur Schwindel Trumpf, ja, er beklagte es heute noch, daß sein seliger Vater dem französischen Vicomte nicht alles vor die Füße warf, als der mit dem Napoleon in München und bald darauf im Dachauer Moos Einzug hielt. In der Stadt drinnen sei zwar heute noch ein ganzer Sack von den Windhunden; dort aber konnte man ihnen wenigstens aus dem Wege gehen, man brauchte sie nicht.

Die Biegung, die der Luegecker von der Hauptstraße weg machen mußte, um auf einem ausgefahrenen Vizinaldamm eine ihm gelegene Abkürzung zu erzielen, gab ihm erwünschte Anregung, diese ganze Litanei ein letztesmal aufzusagen. Nur mit dem einen Unterschied, daß er diesmal, wie er meinte, den Gaul von hinten nach vorn aufzäumte. Er sah nämlich auf der neuen Linie das von den bayerischen Kurfürsten in französischem Stil erbaute Lustschloß Nymphenburg samt dem weit gedehnten Park vor sich liegen. Um diese ganze Anlage kutschierte er mit seinem Zeugl herum, bis er die mächtige Fontäne mit dem Kanal und der zu beiden Seiten sich erstreckenden Auffahrtsallee vor sich hatte. Dort ging es dann auf tadelloser Straße unter weitverzweigten Linden wieder schneller dahin. Die Stadt lag jetzt frei und deutlich vor ihm, während zur Rechten die Alpenkette sich ausdehnte. Noch tief verschneit lagen die gezackten Höhenzüge, aber sie waren mit so viel Sonne und leuchtendem Blau übergossen, daß man es förmlich merkte, wie es da oben immer stärker zusammenschmolz, um Matten und Almen freizugeben. Freilich, für den Luegecker leuchtete diese Pracht, die über üppig grünende Wiesen hinauswuchs, vergebens. Er sah nicht einmal empor zu den ausschlagenden Bäumen über seinem Kopfe, er sah nur die Franzosen, er schüttelte den Kopf über die Maitressen, die sie den Kurfürsten alljährlich zugeschleppt hatten, und dann tauchte in solcher Ideenverbindung plötzlich noch etwas auf vor ihm wie eine böse Vision. Ein kleiner, dicker Mann mit glattrasiertem, käsgelbem Gesichte und hereingekämmten Haaren. Durchbohrende Augen hatte er, dieser Mann, die rechte Hand barg er im grünen, mit Rot ausgeschlagenem Waffenrock, die Linke hielt er am Degen, dicht neben den enganliegenden, weißen Lederhosen. Das alles stellte ein Bild dar, was wohlverpackt mit der übrigen Habe da hinten auf dem Wagen ruhte. Aber was bedeutete dieses Geschmier gegen die Schilderung, die dem Luegecker seine Mutter von diesem ungeheuren Menschen an stillen Abendstunden noch heute zum besten gab! Sie selber hatte den Napoleon vor der Michelskirche in eigener Person gesehen, als er seinen Stiefsohn, den Vizekönig von Italien, mit der Tochter des bayerischen Königs vermählte. Ungeheuere Tage sollen das gewesen sein. Und die Münchner fürchteten sich nicht einmal vor dem Despoten; im Gegenteil, sie schrien vivat, wo sie ihn sahen, sie warfen sich vor den Wagen, ja, sie hätten es am liebsten gehabt, wenn er als kostbares Schaustück auf immer bei ihnen geblieben wäre. Selbst die Mutter tat heute noch ganz verrückt, wenn sie von ihm anfing. Wie großartig er daherkam, wie er mit den Sporen klirrte, und wie er dann auf einmal doch gelacht habe, so ganz gewöhnlich von unten herauf, wie ein Bauer vom Dachauer Moos, als er die für ihn in Sonntagstracht gesteckten Mädeln vom Lande erblickte. Unter diesen sei sie selber gestanden, obwohl sie eigentlich nicht dazu gehörte. Denn sie war nicht bei Dachau, sie war in Landshut geboren, als Tochter eines bayerischen Korporals, der an der Seite des großen Kaisers bei Jena und Auerstedt mitfocht, eines derben Kriegsmannes mit dreißigjähriger Dienstzeit, der sich nicht wenig auf diese Ehre einbildete. Von jenem Stolz war so manches auf die, ob ihres Wissens allgemein bestaunte Tochter übergegangen, die den Sohn bei jeder Gelegenheit erinnerte, daß er gerade einen Tag nach dem Brande von Moskau auf die Welt gekommen sei, also nach jenem Unglück, das den ersten Anstoß zur Vertreibung des furchtbaren Mannes gab.

Therese Luegecker hörte diese Reden ihres Mannes auch heute mit derselben Geduld an wie sonst. Sie hatte die lobenswerte Gewohnheit, ihn immer ganz ausreden zu lassen. Erst, wenn er einige Minuten schwieg oder die letzten zehn Worte drei- bis viermal nacheinander wiederholte, hielt sie ihre Zeit zum Einsetzen für gekommen. Doch auch da ging sie nur ganz langsam vor, mit reifer Überlegung. Erst fertigte sie die Schwiegermutter ab, indem sie meinte, die habe sich immer zu viel darauf zugute getan, daß sie besserer Herkunft sei und einen studierten Bruder ihr eigen nenne, den hochgebietenden Herrn Landrichter in Dachau. Das letztere könne man ihr schließlich nachsehen, unfaßlich sei aber diese ewige Renommasche mit der Franzosengaudi, vor allem mit dem Napoleon. Der habe sich gewiß den Teufel um das Korporalsmädel gekümmert, schon deshalb, weil er viel zu hochgestellt war. Ja, seine Soldaten, die ließen sich eher zum Volk herab, die waren nicht so arrogant; das wisse man zur Genüge, in München sowohl wie auf dem Lande. Erzähle man doch heute noch im ganzen Dorfe von dem wunderschönen Offizier, der der Schwiegermutter seine Reverenzen gemacht habe. Einige der Dorfältesten hätten auch einwandfrei festgestellt, daß der Joseph Luegecker dem französischen Windbeutel verflucht ähnlich sehe. Und sie glaube das auch. Warum habe er nicht dieselbe Kartoffelnase wie seine Vorfahren und die übrigen Bauern im Dorf? Woher kämen denn seine auffallend kleinen Hände, die keine Feldarbeit vertragen konnten? Und vor allem, woher kämen seine überspannten, seine abenteuerlichen Ideen? Sie kenne ihn gut, sie wisse wohl, daß er morgen fallen lasse, was er heute wie verrückt beginne. Wie war es denn bei der Übernahme des Verwalterpostens? Da sei er erst darauf aus gewesen wie der Teufel auf die arme Seele, und jetzt räsoniere er auf die Herrschaft. Nun gut, die Sache da mit der Wirtschaft sei nun mal abgeschlossen; es sei nichts mehr dagegen zu machen. Auch scheine sie ihr ja nicht gerade schlecht, schon deshalb nicht, weil man sich draußen auf dem Lande in letzter Zeit wirklich zu hart tat. Das eine aber sage sie ihm: diesmal dürfe er nicht wieder davonlaufen, um alles liegen und stehen zu lassen. Gehe man einmal nach der Stadt, dann bleibe man auch da. So einfach wie das Kappenwechseln sei diese Geschichte nicht. Drum, wenn er nicht aushielte, dann mochte er gehen, wohin er wollte. Sie kralle sich fest, sie bliebe auf dem Posten mit ihrem Buben, mochte sie auch zugrunde gehen.

Das alles brachte sie in so bestimmter, unwiderleglicher Art hervor, daß der Luegecker kein Wort dagegen riskierte. Nicht einmal auf die Anspielungen, die seine Mutter und seine römische Nase betrafen, ging er ein. In früheren Tagen, wenn sie von diesem Thema anfing, war er immer sehr grob geworden; einmal hatte er sogar einen schönen Empirespiegel von der Wand gerissen und nach ihr geworfen. Als sie aber in ihrer nachdrücklichen Art regelmäßig alles wiederholte, indem sie ihm dabei mit ihren klugen, grauen Augen fast bis in den Magen hinuntersah, zuckte er bloß die Achseln. Was sollte er auch erwidern? Seiner Herkunft war kein Mensch auf dieser Welt sicher, am letzten in der grauslichen Zeit vor dreißig Jahren. Da war eine allgemeine Völkerwanderung, ein Hin- und Herum, wobei sich niemand mehr auskannte. Was Wunder also, wenn seine Mutter sich auch mal verschaut hätte? Er trug es ihr jedenfalls nicht nach, wenn ihm auch ein Franzos, wie er offen sagen mußte, als Vater höchst ausgefallen vorgekommen wäre. Denn er hatte nun mal für diese Lügenschüppel, für diese Schwindler und Süßholzraspler nicht das mindeste übrig. Da er es aber im Augenblick für besser fand, hierüber keine Meditationen anzustellen, trieb er ganz einfach sein Pferd an und war froh, als sich ihm bald darauf durch die immer näher rückende Stadt Gelegenheit bot, die Unterhaltung in neue Bahnen zu lenken. »Gelt, zwanzig Jahr bist nicht mehr da gewesen?« fragte er die Frau. Sie nickte stumm. Ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie die Stadt betreten, bei der Fronleichnamsprozession, zu der die Mutter sie mitnahm, damit sie den Herrn Erzbischof samt der Monstranz und dem ganzen Hofe bestaunen konnte. Seit jenem Tage war sie über die Felder des Heimatdorfes nur hinausgekommen, wenn sie in Dachau allmonatlich auf den Markt ging. Darauf meinte der Luegecker wieder, sie würde große Augen machen, denn das sei eine andere Welt geworden. Damit sie sich aber drinnen ein bißchen zurechtfinde, wolle er eigens einen Umweg nehmen und Schritt fahren. Er sagte das gerade am Ende der großen Lindenallee, als die ersten Häuser der Stadt dicht vor ihnen lagen. Zur Linken tauchte die Erzgießerei auf, dann kam ein Brauhaus, zur Rechten lagen vereinzelte Villen und Privathäuser, darunter schöne, stattliche Behausungen in Empire und Barock, von weiten, schattigen Gärten umgeben. So ging es in pfeilgerader Richtung die Briennerstraße hinab auf eine große Wiese zu, aus deren üppig wuchernden Grashalmen und Brennesselstauden plötzlich zwei funkelnagelneue Bauwerke mit mächtigen Säulen und ragenden Giebeln in blendender Reine zum Himmel strebten.

Und an dieser großartigen Stelle, die damals noch frei gegen Westen lag, hielt Joseph Luegecker jetzt endgültigen Einzug in München. Er empfand selbst etwas von der Bedeutung des Augenblickes; deshalb drehte er sich nach rückwärts, ob alles noch da wäre, Kisten, Taschen, samt dem nachtrabenden Pferd. Dann rief er hü! und rollte an der griechischen Pracht vorbei. Der ehemalige Dachauer Bauer nickte teils befriedigt, teils erstaunt, wie einer, der, obwohl er den Führer macht, nicht recht weiß, was er erklären soll. So etwa wie die kleinen Lazzaroni, die sich einem im Süden als Ciceroni anbieten und erst dann finden, daß alles sehr schön sei, wenn es der Fremde sagt. Mit jedem Schritte vollzog sich so in ihm der Übergang zum werdenden Städter. In Gedanken zog er schon den Kittel aus, indem er den langen Rock dafür eintauschte. Dann stieß er seine schweigsame Ehehälfte an, die so gar nicht auf das Neue eingehen wollte, sondern den Korb auf dem Schoße gleichmäßig festhielt. »Ha?« fragte er, indem er mit der Hand einen Kreis auf die umliegende Pracht beschrieb. Und als die Frau wieder stumm blieb, meinte er, die Dinge da hätten alle ganz extrige, ausländische Namen, die er wohl schon öfter gehört habe, doch leider nicht behalten könne. Da meinte die Frau endlich, er behalte überhaupt so schwer was im Gedächtnis. Sie habe ihm vorgestern noch ausdrücklich gesagt, er solle doch ja das Mutterschwein dem Schusterbauern anbieten, der fünf Gulden mehr dafür geben wollte wie der Gmeinwieser. Natürlich habe er's wieder vergessen. Das brachte den Luegecker etwas aus seiner künstlerischen Sammlung, so daß er für ein paar Augenblicke gar keine Worte fand. Als sie aber bald darauf um einen schön angelegten Platz fuhren, um ein mit Blumen bebautes Rondell, aus dessen Mitte in stolzer Höhe ein bronzener Obelisk zum Himmel ragte, fand er sich wieder. Es wies die Frau auf diese neue Sehenswürdigkeit, indem er gleichzeitig meinte, das mit der Sau habe seine besondere Bewandtnis. Es sei ihm nicht eingefallen, so eine wichtige Sache zu verschwitzen, nur sei der Unterhändler Faist gerade des Weges gekommen, um die letzten Formalitäten zu erledigen. Und da habe er sich halt doch gesagt, daß der Verkauf des Anwesens noch wichtiger sei als der von dem Mutterschwein. »Natürlich,« brummte die Frau, »wer hat's wieder machen müssen? Ich hab's wieder machen müssen!« Dem Luegecker gingen die Augen fast über. »Ja, hat der Schusterbauer die Sau gekriegt?« fragte er ganz verdutzt. »Meinst du, ich laß fünf Gulden aus?« gab sie spitzig zurück. Jetzt lachte der Mann ganz überglücklich, indem er sie mit der linken Faust ein paarmal fest auf den Rücken schlug. »Bist halt eine, sag's ja, du bist eine.« Und er erklärte wieder die Schönheiten der Stadt wie ein Fremdenführer. »Da wohnt der König!« sagte er bedeutungsvoll, als sie die Briennerstraße mit den vielen Privatpalais langsam durchquert hatten und über den Odeonsplatz, an der Theatinerkirche vorbei, der Residenz zustrebten. Es war ein gewaltiger Palast mit vorspringendem Mittelbau und ragenden Säulen, der da gegen Norden die altehrwürdige Residenz der Kurfürsten wie ein trotziges Bollwerk flankierte. Fast noch mehr tat das der im Florentiner Stil gehaltene Südbau mit den kolossalen Spiegelfenstern. Die blitzten, daß es nur so eine Art hatte, und schienen fast so hoch wie das Häuschen, das sie im Dachauer Moos bewohnten. Die Frau aber schüttelte den Kopf. »Kosten muß das was!« meinte sie. »Sakrisch viel«, nickte der Luegecker. Und er fügte bei, es träfe nicht nur die Zivilliste, auch das Land ginge es an. Da, zum Beispiel, den Prachtbau – er wies auf das neue Hoftheater – den hätten nach dem großen Brande die Bürger aus ihrer Tasche bezahlt. Die würden überhaupt gehörig geschröpft und müßten blechen, daß ihnen die Augen übergingen. »Hast dein Geld noch?« fragte die Frau. Mit jäher Bewegung fuhr der Luegecker nach der verborgenen Katze. »Natürlich«, sagte er sichtlich erleichtert. Man schien aber auf der anderen Seite des Wagens die Antwort durchaus nicht so selbstverständlich zu finden, denn man forschte weiter. »Und die Abmeldung? Die Legitimation?«

Jetzt durchfuhr es den Luegecker von oben bis unten. Herrgott, seine Frau kannte ihn wirklich. Die Papiere hatte er beim Onkel Landrichter in Dachau, dem Bruder seiner Mutter, liegen lassen. als ob's abgebrauchte Zündhölzeln wären. Freilich war das zu begreifen, denn jeder Gang den Schloßberg hinauf kostete ihn die allergrößte Überwindung. Schon die weiten Gänge, die hohen Türen flößten unwillkürlich Respekt und Atembeklemmung ein. Wurde man endlich vorgelassen, dann stand man noch lange nicht dem Gestrengen gegenüber, der Zivil- und Justizverwaltung in einer Person vereinte, sondern einem grantigen Schreibergesellen mit frechen Manieren. Nun hieß es warten und allen Blödsinn anhören, den der Substitut in hochnäsigem Tone an den Petenten hinredete; dann endlich durfte an die Türe eines Gemaches geklopft werden, ganz schüchtern und bescheiden, damit es ja nicht vordringlich aussehe. Da drinnen richtete sich dann hinter einem Pulte ein hagerer Mann auf mit einer braunen Perücke, der sich fortwährend die Augen wischte und alle fünf Minuten die Brillen vertauschte, eine geräucherte mit einer durchsichtigen, die durchsichtige mit der geräucherten. Dieser glattrasierte, wächserne Totenschädel gehörte dem Herrn Onkel, der zugleich der Herr Landrichter war und wenig Spaß verstand. Er konnte Stockprügel bereits verordnen, wenn einer der Bauernburschen zu laut mit der Geißel knallte, ja, er durfte durch denselben Büttel, der die Fünfundzwanzig im Hofe unten auf einer eigens konstruierten Bank niedersausen ließ, jeden Bauern und Bürger vor dem Bilde des Königs, das dort an der Wand in schreienden Farben hing, zur Abbitte begangener Verbrechen auf die Knie zwingen. »Herr Onkel . . .«, begann der Luegecker, als er die Papiere anmeldete. Die Gegenrede war weniger familiär, trotzdem sie sich auf dem traulichen Du bewegte. Es wurde dem Petenten energisch bedeutet, daß hier keinerlei verwandtschaftliche Rücksichten in Betracht kämen. Dann folgte eine Moralpauke über den geplanten Fortzug aus der Gegend. Das sei so eine neumodische Sache, eine alberne Nachäfferei. Aber man wisse ja, schnöde Gewinnsucht sei das einzige, was heute noch regiere; Solidität gebe es keine mehr. Allerdings, der Luegecker könne machen, was er wolle, man hätte auch in Bayern leider nun mal die Freizügigkeit gestattet und müsse ihm die Papiere verabfolgen, aber zu bezahlen hätte er die vorgeschriebenen Sporteln, und zu warten hätte er auch. Von heute auf morgen ginge das nicht, denn hier sei keine Nudelbäckerei.

Dieser letzten Versicherung hätte es wohl kaum bedurft, denn daß in diesen ungemütlichen, hohen Räumen, wo es nur nach Aktenstaub roch, nicht jene wohlschmeckenden Leckereien bereitet wurden, die als gekneteter Teig auf die umgebogene Kniescheibe gepreßt wurden, um dann, wie der Volksmund sagte, als »Ausgezogene« in Welt und Magen zu wandern, das merkte der Luegecker auch ohne den Zuspruch des Herrn Onkels. Unter dem freien Himmel der Großstadt gediehen diese Kostbarkeiten so gut, wie sie nirgends gerieten, und gerade jetzt, während er sich ärgerte, daß er die Hauptsache vertrödelt hatte, ohne die er sich gar nicht niederlassen konnte, stieg ihm der Duft von Nudeln auf einmal in die von der Gattin als römisch bezeichnete Nase. Wie eine Erlösung wirkte das auf ihn, denn er fühlte selbst, jetzt kam der bessere Teil der Fahrt. Bis da war die Kutschiererei, unausgesetzt von dem »Ja mein!« und »I' sag's ja.« seiner Ehehälfte überschüttet, am Barockbau des Törringschen Palais vorbei, die Dienerstraße hinabgegangen, schön langsam Schritt für Schritt, da es wie mit einem Schlage nicht mehr rascher voranging. Fuhrwerk auf Fuhrwerk stemmte sich nämlich entgegen, bis sie endlich auf dem Hauptplatze der Stadt, der Schlagader Münchens, ankamen. Dort strömte heute um so stärker alles Leben zusammen, weil Samstag, also Schrannentag war. Ein im ersten Augenblicke unübersehbares Gewimmel, über das die verschiedenen Häuser herausragten. Gleich zur linken Hand, wo sich der etwas unregelmäßige Platz zu einer Verengung, dem Eiermarkte, zusammenschob und auf einem Hause das Bild des Riesen Onuphrius zeigte, lag das unförmige, alte Rathaus, ein breitgeformter, plumper Kasten mit drei hohen Fenstern in der Front und dem angrenzenden Türmchen. In voller Breite gegenüber, zu ebener Erde eines bunt bemalten Hauses winkte, von Ketten und Schilderhäuschen abgeschlossen, die Hauptwache, zur rechten Hand prangte das Regierungsgebäude des Isarkreises, ein etwas aus dem behäbigen Rahmen fallender, nicht übler Renaissancebau mit dem Fischbrunnen davor, und in der Mitte des Ganzen thronte auf einer roten Marmorsäule, neu vergoldet, die gekrönte Jungfrau Maria mit dem Kinde. Was dem Platz aber erst die letzte Eigenart verlieh, das waren die nach italienischer Art erbauten Lauben, die sogenannten Finsteren Bögen, die rings in die stattlichen, mit Erkertürmchen verzierten Häuser des schönen Gevierts gebrochen waren. Aus ihnen stiegen, neben dem schon angedeuteten Schleimhautkitzel der Nudeln, die nicht minder verheißungsvollen Gerüche von Käse, frischer Leinwand und Sauerkraut in angenehmer Abwechslung zum Himmel empor, zu jenem Maienhimmel, von dessen wolkenloser Höhe der Petersturm sowie die beiden mächtigen Kuppeln Unserer Lieben Frau mit ehrwürdigen Gesichtern auf das Treiben herabblickten. Dieses war ein äußerst reges, ja, es schwirrte, summte und wogte nur so hin und her. Bauern, Melber, Bäcker, Brauer, mit Wagen, Pferden und Säcken, so dicht ineinandergefahren, so Hand an Hand, so Brust an Brust, so Mund an Mund, in regstem, fortwährendem Handeln, daß der Luegecker nur an der äußersten Ecke grad mit Müh' und Not noch vorbeisteuern konnte. Dicht gegenüber dem Rathaus tat er das, wo er sich bei einer altrenommierten Tabakfirma in Eile für zwei Kreuzer Brasil erstand.

»Siehst, da paßt's mir schon besser,« meinte die Frau, die so lange die Zügel hielt. »Das überspannte Zeug da droben, das mag ich nicht.« Sie sah auch auf einmal viel freundlicher drein, sie deutete auf die feilgehaltenen Getreidesorten und ließ sich von einer Verkäuferin ein Stück Käs in den Wagen reichen, das sie, immer den Korb auf dem Schoß, mit gutem Appetit verzehrte. Der Mann aber, der den kurzen Aufenthalt benützte, sich eine Geselchte in den Mund zu stecken, schrie plötzlich im dicksten Kauen, so laut es nur ging. »Jessas, da geht ja der Faist.« Richtig, es war der Unterhändler, der den Verkauf des Anwesens nach vieler Mühe zustande gebracht hatte, ein kleiner, dicker Vierziger mit einem Strohhut und bös strapaziertem Nankinganzug. Quecksilber in seiner ganzen Bewegung, immer auf dem Sprung hinzuhorchen und gegebenenfalls zu vermitteln, zeigte er, wo er bei den Bauern aus und ein ging, mit Vorliebe seinen Taufschein vor. Der bestätigte ihm nämlich, daß er am dritten Tage nach seiner Geburt in der Dreifaltigkeitskirche in München dieses Sakramentes teilhaftig geworden war und den Namen Ferdinand erhalten hatte. Das wirkte bei manchem Abschluß fördernd und beruhigte die Seele ängstlicher, christlicher Gemüter; nur bei Frau Luegecker verschlug es in keiner Weise. Sie meinte, er solle den Wisch nur ruhig wieder in die Tasche stecken, denn sie sei bereit, ihm auf seine schwarzen Haare und geschlitzten Augen, auf die Plattfüße und die ungeheuren Ohren, vor allem aber auf seine kniffige Geschäftspraxis schlagend zu beweisen, daß er halt nach Jerusalem gehöre, dessen Abzeichen kein Weihwasser der Welt hinwegwaschen könne. Christ sei mal Christ, und wer's nicht habe, der könne es auch nicht nachwachsen lassen. Daß der Faist diese Liebenswürdigkeiten in keiner Weise krummnahm, bewies er durch die überaus herzliche Art, womit er die beiden Landleute begrüßte. »Herr Luegecker! Frau Luegecker, ein Glück, daß ich Sie treffe.« Damit sprang er ohne viele Umstände auf den Sitz und zwängte sich neben die beiden. Durch die Kaufingerstraße ging es so fort, während der Faist die nötigen Erklärungen über seine Zudringlichkeit gab. Er sei eben draußen gewesen in der Schießstatt und habe alles schön herrichten lassen, damit nichts fehle beim Einzug. Jetzt sei geputzt, gelüftet, daß es nur so eine Freude sei, auf den üblen Gestank hinauf, den der Vorgänger hinterlassen habe. Eigentlich gehe ihn das ja gar nichts an, aber er sei nun mal nicht so wie seine Herren Geschäftsbrüder, die auf und davon liefen, wenn beim Notar protokolliert war; nein, er kümmere sich um seine Leute, wie sich der Luegecker bald überzeugen werde. Denn außer der frisch renovierten Schießstatt habe er noch eine große, große Überraschung für ihn in petto. Was das wäre? Das könnte er erst an Ort und Stelle demonstrieren, hier nicht. Denn hier liefen nur Krämer und Dreiquartlprivatiere herum, dies Projekt aber sei eine Sache für Leute mit den größten Gesichtspunkten, eben für den Herrn Luegecker. Madame zweifle? Dann möge sie sich mit ihm und ihrem Gatten allmählich umsehen, sie möge Erkundigungen einziehen wo immer sie wolle, am besten gleich im Ministerium selber. Das sei freilich stark ultramontan, aber so sehe nun mal heute die Mode aus. Außerdem bedeute das eine Gewissenssache, die niemand was angehe. Die Leute da drinnen wahrten doch alle den Blick für diese Zeit, und die sei nun mal groß, trotz ihrer Bigotterie, wie der Ludwig I., der sie aus dem Boden gestampft habe.

Bei der Nennung dieses Namens verstummten alle die verächtlichen Zwischenrufe, mit denen der Luegecker die lange Rede des Unterhändlers begleitete. Sogar die Frau, die nur mit größtem Widerstreben zugehört hatte, sagte nichts mehr. Erstens, weil der Faist mittendrin gegenüber der Michelskirche behend vom Wagen in ein kleines Geschäft sprang, um dort ein rosaseidenes, mit bunten Blumen besätes Tuch zu kaufen, das er ihr jetzt mit galanter Bewegung als Geschenk überreichte, zweitens, weil sie das Bild des Königs im Zimmer des Herrn Onkels vor sich sah, jenes furchtbare Bild, das jede Beleidigung auf das schwerste geahndet hätte. Doch sei es zu ihrer Ehre gesagt, daß es nicht die praktischen Gründe allein waren, die den Ausschlag gaben. Der König Ludwig verstand sich auch sonst besser in Respekt zu setzen und eine stärkere Gänsehaut auf dem Rücken zu erzeugen wie sein vor fünfzehn Jahren verstorbener gutmütiger Vater, den man ob seiner bürgermäßigen Manieren und ob seiner Leutseligkeit schlechthin den Maxl nannte. Kam er dahergerannt durch die Straßen, so schnell, daß die Adjutanten kaum folgen konnten, dann wich alles ehrerbietig aus vor dem mageren Manne, der den Kopf bald nach rechts, bald nach links schleuderte sowie Schultern und Arme in fortwährender Bewegung hielt. Jeden, der ihn grüßte, sah er durchbohrend an; vergaß aber einer diese schuldige Ehrenbezeugung, dann brachte er's, war er mal bei übler Laune, ruhig fertig, ihm ohne viele Umstände den Filz herunterzuhauen. Eine Unruhe, die sich, im Gegensatz zu der Bierseligkeit des selig entschlafenen Vorgängers, auch im öffentlichen Leben wie in der Politik geltend machte. Überall wurden Baugerüste errichtet, überall wurde gepinselt, ja, jetzt sollte sogar, wie der Faist beifügte, das Szepter über das Meer ausgestreckt werden. Ob der Herr Luegecker, die Madame, in Dachau draußen wohl schon was gehört hätten vom fernen Griechenland? Dort sitze seit mehreren Jahren des Königs Sohn als Herrscher; zahllose Bayern wanderten aus, um in Athen, zu Füßen der Akropolis, eine neue Welt aufzubauen und bayerischen Handel dahin zu tragen. Wenn das nicht großartig sei, dann wisse er nicht, was man großartig nennen könne. ihm jedenfalls flösse so viel Aktivität die größte Hochachtung ein.

Der Luegecker sah einen Augenblick von der Michelskirche in gerader Richtung am Jesuitenkloster vorbei, das mit seinem ernst erhabenen Baustil weit in die Neuhauserstraße hineinsprang. Nicht künstlerische Erhebung war es, die den Betrachter dorthin zwang, sondern mehr eine Verlegenheitspause sowie der Überschlag der ganzen Fahrt, die in diese Richtung ging. Dann drehte er sich wieder zum Faist zurück. Ob das, was er da gesagt habe, etwa gar sein Geheimnis wäre, das er eigens reserviert habe? Wenn er ihn und seine Frau vielleicht zu Griechen machen wolle, dann bedanke er sich für so einen Schwindel; er bleibe im Lande und nähre sich redlich. Auch die Frau bekreuzigte sich bei der Aussicht, in der Nationaltracht mit dem rotsamtenen Häubchen und wallenden Pumphosen der Hellastöchter herumzusteigen, indem sie den Faist einen Bazi nannte. Der wollte eine Verteidigungsrede beginnen, um sich schnell von solchem Verdachte zu reinigen, er sagte ausdrücklich, er wolle sein Wort halten, und was dergleichen Redensarten mehr. Aber der Luegecker meinte höchst kategorisch, er solle das Maul halten, indem er seine Ehehälfte den großen Bau des Stadtgerichtes entlang, die weite Gasse auf ein neues Kloster hinabwies. Das sei das Hollandeum, der Sitz der Benediktiner, und da hinein käme der Bub, wenn er ihn am Sonntag von Dachau abhole. Da drinnen könne er dann studieren, Jurist werden, um einmal später dem Vater vernünftigere Ratschläge zu geben wie der Wurschtlkramer, der Unterhändler. Dann drehte er sich nach der anderen Seite und wies auf zwei stattliche, bürgerliche Häuser gegenüber der Michelskirche. »Der Pschorr, der Gaiglbräu.« Und zwar sagte er das in einem Tone, in den sich Bewunderung wie Neid mischten. Denn ein so gottsmiserables Bier die zwei Protzen oft zusammensotten, so viel Wasser sie hineinpantschten, sie hatten's doch im Leben zu was gebracht. Auf solide Weise, ohne nach Griechenland zu gehen. Davon kam er, wie überhaupt im Leben, wenn er mal von etwas angefangen hatte, nicht mehr weg. Er hänselte und stichelte den Unterhändler in einemfort, während er mit dem Fuhrwerk auf das Karlstor lossteuerte, um von da an großen, freiliegenden Gärten vorbei, die Schützenstraße hinaus, direkt auf die Schießstatt zu streben.

Von dem Häuserrondell an gerechnet, das dieses Tor in ansehnlichem Halbbogen umsäumte, bedeutete der Weg dahin bei dem trägen Tempo des Wagens höchstens die fünf Minuten. Doch sie genügten, den Luegeckers einen Überblick über ihr künftiges Heim und dessen Umgebung zu gewähren. Der zusammengepferchte Komplex der Stadt lockerte sich nämlich hier außen mit einem Schlage; auch ohne Wälle und Zugbrücken war es vor dem Tore zu jener Zeit noch wie vor einer Festung, unter deren Schutz erst so nach und nach menschliche Ansiedlungen erstehen. Neue Straßenanlagen waren freilich schon abgesteckt, auch schielte bereits die erste protestantische Kirche über den breiten Platz. Aber hinter ihr sowie hinaus gegen die Theresienwiese zogen sich nur wenige Häuserstöcke durch die Gevierte. Ja, man sah von den großen Gärten, die sich in der Richtung der Schießstatt gegen Westen dehnten, zwischen einzelnen Bauten der Bayerstraße völlig frei hinaus bis zur Sendlinger Kirche. Von dort sowie von der Anhöhe, die sich gegen Pasing zog, grüßten mächtige Bierkeller mit ihren Mauern wie hinausgeschobene Schanzen; in gerader Linie aber, dicht neben der alten Wirtschaft vom Sterngarten, lag, von Kastanien umwachsen, in einer Mulde ganz versteckt der Platz, wo die Hauptschützengesellschaft der Haupt- und Residenzstadt jeden Mittwoch und Samstag zu löblichem Tun zusammenkam. Es war ein schöner, behäbiger Bau, nicht unähnlich dem des Kadettenkorps, das nicht weit davon neben dem Sterngarten sich gegen den Karlsplatz hinstreckte. Dicht davor, neben Bänken und Tischen, die Sonntagsausflüglern als Ruhepunkt dienten, thronte ein hoher, mit Holz verschlagener Pumpbrunnen, und zwischen den hohen Fenstern des ersten Stockwerks befanden sich in regelmäßigen Abständen lustige Freskomalereien: ein paar »Oberlandler« in der alten Tracht, mit den langen Röcken und den hohen Hüten, Tölzer und Lenggrieser, die ob ihrer Schießkunst damals gerühmt wurden. Im ragenden Frontgesimse sah man den Tell mit der Armbrust und dem Knaben.

An dieser Stätte litt es den Faist nicht mehr länger. Nur ächzend hatte er das abgezwungene Stillschweigen ertragen; jetzt mußte er das Bild fertigmalen, das er in der ersten Eile nur andeutungsweise zu skizzieren vermochte. Er half der Frau von ihrem Sitze herunter, dann band er die Stricke los und lud die Kisten ab. Während er aber alles ins Haus trug, begann er den Luegecker in eine Unterhaltung zu ziehen. Für was er ihn denn eigentlich ansehe? »Meinetwegen für einen Schweinehund, ja, sogar für einen Juden; das alles kann ich tragen, nie und nimmer aber lasse ich einen Dummkopf auf mir sitzen! Athen für die Großkaufleute, München für die kleinen. Daß diese dabei auch große werden können, will ich Ihnen, mein Lieber, auf dieser Stelle beweisen. Da, drehen Sie sich um zur Stadt, schauen Sie zurück auf den Sterngarten und auf die umliegenden Wiesen. Wissen Sie, wem die gehören? Den Gankoffens, einer uralten Münchner Familie . Sehr berühmte Leute, wie man behauptet, hochangesehen, hochfein, aber geschäftlich jedenfalls völlig versimpelt wie die Mehrzahl aller Hiesigen. Vor allem, wie es scheint, ohne jede Ahnung, daß auf diesem Grund und Boden eine Million zu verdienen ist und zehn andere dazu. Das glauben Sie nicht? Sie sind wirklich so kurzsichtig, so beschränkt wie die andern? Herr Luegecker, das ist gar nicht möglich. Darum, wenn ich Ihnen für einen Rat gut bin, dann nehmen Sie die achttausend Gulden Erspartes, die Sie liegen haben, samt dem bißchen elterlichen Vermögen, kaufen Sie mit mir die zwei Plätze da vor der Schießstatt und fragen Sie hinterher nach zwanzig Jahren den Bürgermeister, was die ganze Stadt München samt ihm selber koste. Immer noch schwankend? Na, da muß ich's Ihnen verraten, das große, große Geheimnis, da muß ich Ihnen sagen, warum Sie ins Ministerium hineingehen sollen, aber halten Sie sich fest, damit Sie nicht umfallen vor freudigem Schreck. Oder noch besser, gehen Sie mit mir um die Schießstatt herum, damit ich's Ihnen gleich vor Augen führen kann. Was man selbst sieht, braucht man nicht erst lang erklärt zu bekommen.« Er nahm ihn bei der Hand, der Luegecker griff an das Zaumzeug des Schimmels, der Schimmel setzte den Wagen in Bewegung, während die Frau mit dem zweiten Pferde hinterher marschierte. Als sie aber um das Gebäude herum waren, wies der Faist über die Kugelfänge hinaus zu den Bierkellern. Dort sah man am Horizont eine leichte, weiße Rauchwolke zur Höhe steigen. »Was ist das?« fragte er mit triumphierendem Gesichte. Der Luegecker war verlegen wie jeder, mit dem man so Fangball spielt, ohne daß man ihm sagt, was eigentlich dabei herauskommen soll. »Weiß nicht!« brummte er. »Wahrscheinlich wird's dem Hackerbräu sein Rauchfang sein.« »Falsch geraten!« grinste der Faist. »Es ist die kolossale Sache, die jetzt die ganze Welt überzieht, die Eisenbahn! Die erstreckt sich schon von Nürnberg nach Fürth, jetzt geht sie seit einem Jahre von München nach Lochhausen, bald aber auch nach Augsburg hinüber, und dann überall hin, wo Leute reisen, wo sie Güter befördern wollen. Drum bleibt es auch nicht bei der elenden Einsteighalle, die man kurzsichtigerweise dreißig Minuten vor der Stadt angelegt hat. Der Bahnhof wird nächstens weiter hereingerückt werden. Und wissen Sie, wo er hinkommt, mein lieber Herr Luegecker? Direkt auf die Schießstatt.«

Wenn der Unterhändler. der sich mit jedem Satze immer mehr hineinsteigerte, geglaubt hatte, durch diesen letzten Trumpf eine niederschmetternde Wirkung zu erzielen, dann sollte er sich getäuscht sehen. Joseph Luegecker hielt allerdings beim Ausspannen seines Schimmels einige Augenblicke ein, indem er den gewandten Redner mit offenem Munde anstarrte. Plötzlich aber platzte er mit puffendem Laut los, wie eine dickgefüllte Schweinsblase, in die mit einem Knicker hineingestochen wird. Ja, er drehte sich, immer den Zügel in der Hand, direkt auf dem Absatz herum. »Die Eisenbahn?« schrie er. »Der neumodische Schwindel? Und mit so was soll ich mich einlassen? Nein, lieber Herr Faist, auf den Leim kriech' ich ebensowenig wie auf den griechischen. Und wollen Sie wissen, warum? Weil nichts herausschaut bei der ganzen Geschicht'! Kann nicht rentieren, nicht in die Höhe kommen, der Unfug. Jawohl, Unfug. Oder ist es was anderes zu nennen, wenn man hinter so einem vergrößerten Kastanienbrater in offenen Kutschen herumfährt und sich Kleider und Sonnenschirme verbrennen läßt? Ist es was anderes, wenn man das ganze, schöne Land samt Ackern und Wiesen durch Schienen verschandelt und dem Bauern das Letzte wegnimmt, was er noch hat, seinen Boden? Mein lieber Herr Faist, besteht das große Geheimnis, von dem Sie gesprochen haben, nur darin, dann lassen Sie sich heimgeigen, je eher, desto besser. Ich mach' nicht mit, nein, ich tu's nicht, denn, mag ich mich nun auch in der Stadt niederlassen, so viel gehör' ich doch noch zum Bauern, daß ich seinen Schaden nicht geduldig ansehen kann, daß ich . . .« Er besann sich und lachte wieder hell auf. Plötzlich aber nahm er einen ganz anderen Ton an und sah so ernst drein, als ob ihm eine Erleuchtung gekommen wäre. »Nein,« sagte er ganz beruhigt und überlegen, »er kann dem Bauern ja gar nicht an, der Hokuspokus da. Denn, sagen Sie mal selbst, wenn er wirklich eingeführt wird, ich meine, wenn so ein Gleis von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf geht, wenn's dampft und stinkt, die Felder ruiniert, die Menschen zusammenfährt, was wird denn dann . . . Jawohl, Sie Garg'scheiter, Sie, was wird dann aus dem, was ich da an der Hand hab'? Was soll aus dem Roß auf der Welt werden? Das hat doch auch seine Bestimmung. Soll man's nun einfach abschlachten und auffressen, soll man's auf den Schindanger schmeißen, weil's ein paar Hanswurschten einfällt, nur noch mit der Eisenbahn zu fahren? Soll man überhaupt die ganze Schöpfung umkrempeln, damit ein paar Spekulanten auf ihre Rechnung kommen?«

Er redete noch lange so fort und fand auch keinen Widerspruch mehr, denn der Faist empfahl sich schließlich mit schwer gekränkter Miene. Da ging ihm der Luegecker aber nach, sein lebendiges Beweismaterial, das Pferd, am Zügel, indem er fortwährend wiederholte: »Was soll denn dann aus dem Roß werden? Sie . . . Was aus dem Roß werden soll, frag' ich.« Und er hätte es wohl noch hundertmal geschrien, bis zum Karlstor und Schrannenplatz hinein, wäre nicht endlich die Frau, die sehr aufmerksam zugehört hatte, gekommen, um ihn ohne viele Worte in Stall und Haus zu drängen. Sie versorgten die Braune samt dem Schimmel, sie zogen den Wagen gemeinsam in die Remise, dann gingen sie langsam um das ganze Haus herum, sperrten die Türe auf und traten über die Schwelle. Während sie aber durch die mit bunten Scheiben, seidenen Fahnen und Geweihen bedeckten Zimmer und Säle wanderten, durch diese Räume, die nur am Abend bei Beleuchtung ihre Wirkung erzielten, im klaren Licht des Maientags aber vermodert und muffig dalagen, während sie die hölzernen Schießstände öffneten, um hinauszusehen gegen die weit entlegenen Erdaufwürfe der Kugelfänge, hinter denen weit und breit kein Gebäude mehr sichtbar war, während sie im ersten Stockwerk die paar Zimmer besichtigten, die ihnen als Wohnräume dienen sollten, wiederholte der Luegecker wie mechanisch dann und wann immer noch seine letzten Worte von den Rössern, die zuschanden werden sollten. Dabei lachte er höhnisch und schüttelte fortwährend den Kopf. Plötzlich aber sagte er nichts mehr, denn seine Frau winkte ihm aus einer Ecke ganz geheimnisvoll mit dem Zeigefinger, er möge zu ihr kommen. Er folgte ihr, indem er glaubte, es fehle irgend etwas im Hause, worauf sie ihn stoßen wollte. Sie aber neigte sich an sein Ohr, und trotzdem außer ihnen zu dieser Stunde im ganzen Hause nicht eine menschliche Seele war, sprach sie so leise, daß er's selber kaum verstanden hätte, hätte nicht in jedem der Worte wieder jener Nachdruck gelegen, den sie immer anwandte, wenn sie etwas herausbrachte. In ihre Augen sah er nicht, sondern er stierte geradeaus und hätte sich am liebsten an die Stirne gegriffen, als sie ihm jetzt auseinandersetzte, es koste ja nichts, wenn er einmal hinginge zu dem Menschen da, zu dem hohen Herrn, von dem der Unterhändler, der Faist, gesprochen habe. Erkundigen könne man sich immerhin als vorsichtiger Mensch. Wenn es dann wirklich auf Wahrheit beruhe, daß der Bahnhof auf den Platz komme, wo sie jetzt herumstiegen, dann könne man ja alles Weitere sehen.


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