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Der letzte Satz des opus 59, Nummer 1, das dem Grafen Rasoumoffsky von Beethoven gewidmet ist, war durchgespielt; nun setzten die Herren ab und hielten nach einem Augenblick stummen Ausklingens umfangreiche Kritik. Das Cello meinte, die erste Violine sei beim letzten Allegro nicht richtig mitgekommen; da da da da da, so sei es zu nehmen, nicht da – da – da – da – da. Es sei kein richtiger Zug, kein Tempo im Ganzen gewesen. Darauf wurde von dem Gerüffelten prompt erwidert, man hätte überhaupt alles zu schnell genommen; eine Überstürzung sei hier aber nicht am Platze, sonst käme die Grundmelodie unmöglich zur Geltung. Die sei breit gedacht. Um dies zu beweisen, gab der Musiker ein paar Töne auf seinem Stradivari an. Jetzt mischten sich auch noch die Bratsche, die zweite Violine ein, erst debattierend, dann streichend, und man suchte unter Beihilfe des gleichfalls einsetzenden Cellos zu einer Verständigung über die letzten Töne zu gelangen. Die wurde denn auch unter den Geigen erzielt, während das Cello, eine von Ruggeri geschnitzte Kostbarkeit, starrköpfig bei seiner Meinung blieb. Die andern drei meinten lachend, mit ihm sei ja doch keine Einigung zu erzielen, und man legte jetzt endgültig weg. Dann traten die Herren von den mit Kerzen umrahmten Pulten in die Mitte des Zimmers, an einen runden, aus hellem Kirschbaumholz gefertigten Tisch, indem jeder seinen gepolsterten Stuhl nach sich zog. Dort standen auf filzenen Untersätzen vier steinerne Maßkrüge mit Zinndeckeln. Die Herren nahmen sehr bedächtig Platz, dann holten sie aus den Taschen ihrer Röcke je ein Päckchen aus braunem Papier, über das sie, ebenfalls aus verborgenen Falten, höchst umfangreiche Kreuzerbrote nebst Jagdmessern in Lederetuis legten. Und nun begann, nachdem die Klingen entblößt waren, wie auf Kommando erst das Zerschneiden der Brote in gleichmäßige Stücke, dann das Zerlegen des auf seiner Hülle jetzt frei liegenden Geräucherten, eines Durcheinanders von Schinken und Würsten, den jeder der Musiker auf dem Wege noch kurz vor Ladenschluß beim Charcutier gekauft hatte. Man kaute so ein paar Minuten Gebackenes und Geselchtes in reichlicher Abwechslung, dann wurden, auch wieder wie auf gegebenes Zeichen, die Deckel gelüftet und die Maßkrüge zum Munde gehoben, wo sie geraume Zeit blieben, ehe sie mit einem Seufzer der Erleichterung wieder auf den Tisch gesetzt wurden. Vom Spiel war keine Rede mehr, auch sonst kam zunächst keine fortdauernde Unterhaltung aufs Tapet. Nur einmal meinte der Herr, in dessen Hause gespielt wurde, der Bratschist solle doch einen der gläsernen Leuchter von der Kommode dort auf den Tisch und eine der Kerzen von den Pulten hineinsetzen; es sei zu dunkel. Die zweite Violine sagte darauf, für diese Arbeit lange es schon, denn dasjenige, wo das Essen hineingehöre, finde man auch bei der bisherigen Beleuchtung. Da aber der Stradivarispieler dem Hausvater beistimmend zunickte, blieb die Frage im Sinne der ersten Instanz erledigt, um so mehr, als eine Berufung dagegen nicht mehr erfolgte.
Der herübergeholte Wachsstumpen flackerte erst noch einige Augenblicke herum, dann beleuchtete er mit stiller Durchdringlichkeit die vier Essenden. Und da hätte sich ein geheimer Zuschauer nicht leicht etwas Grundverschiedeneres denken können als diese bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die in jeder Erscheinung eine besondere Eigenart, einen besonderen Stand und eine besondere Kleidung zeigte. Der am stärksten hervorspringende, von grauen Locken umwallte Kopf mit der Adlernase, dem glattrasierten Gesichte und dem spitzen Kinn, gehörte dem Hofmedikus und Universitätsprofessor von Firneusel, einem Herrn in Besuchsrock, mit feierlichem, hohen Vatermörder und tadellos weißem Hemde, das aus der schwarzsamtenen Weste und dem dunkeln Rocke mit seinen schön gestärkten Falten leuchtend hervorsprang. Neben ihm zur Linken saß der Bratschist Glock. Der nannte keinen Stradivari sein eigen wie sein glücklicher Nachbar; er besaß überhaupt kein Instrument und bekam den Caspar da Salò, auf dem er spielte, jedesmal vom freundlichen Gastgeber gepumpt, indem er ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, er möchte ja gut darauf achtgeben. Ein baumlanger Mensch von fünfundzwanzig Jahren, mit zurückgekämmtem Haar, saß er da, verschlafenen Auges, hager und ausgemergelt, indem er alle am Tisch um Haupteslänge überragte. Er war vom Quartett der einzige Musiker von Beruf, der bei Aufführungen mit stärkerer Besetzung im Hoforchester Verwendung fand, des Tags Stunden gab und abends dadurch sein Brot verdiente, daß er in einigen Kneipen, wo Künstler und Studenten saßen, Konzerte veranstaltete. Das fiel ihm um so leichter, als er nicht weniger wie alle Instrumente beherrschte, von der Bratsche herab bis zum Fotzhobel. Nun kam der Meister Sanktjohannser an die Reihe, der weitbekannte Geigenschnitzer. Der sank so weit in den Boden hinein, als der Nachbar darüber hinauswuchs. Gerade noch, daß er über den Maßkrug spitzte, der vor ihm stand. Seine Kleidung, ein brauner Straßenanzug, tat es an Zerschlissenheit dem dunkelgrauen des Glock gleich, seine Wäsche schien an den Ecken des Kragens und der Manschetten beinahe noch schwärzer umrändert. Hingegen hob sich das schmale, von struppigem Vollbart umrahmte Gesicht mit dem kurzgeschorenen Haupthaar wesentlich von dem bei aller Magerkeit auffallend runden Schädel des Musikanten ab. In der lose gebundenen, rotfarbenen Krawatte aber stimmte er wieder mit ihm überein. Die zweite Violine, die er in dem Quartett vertrat, nannte er Laien gegenüber eine Amati, und das Instrument gab auch wirklich den wunderbar süßen Ton wie das Kunstwerk des vielgenannten Italieners. In Wahrheit hatte sie der Sanktjohannser selber geschnitzt. Um die Unbegreiflichkeit dieses Versteckenspiels richtig zu verstehen, muß man wissen, daß das bewegliche Männlein, das sonst sehr trotzig die einmal gefaßte Meinung zu vertreten pflegte, sich auf seinem Gebiete so gut wie gar nichts zutraute und die Wirkung der eigenen Leistung zu erhöhen glaubte, wenn er sie, wo er nicht gerade gezwungen war, zu verkaufen, hinter dem Namen einer fremden verbarg. Darüber machte ihm niemand grimmigere Vorwürfe als der vierte, der noch am Tische saß, der Hausherr, der Rat Bauriedl vom Ministerium der Finanzen. Kam die Unterhaltung auf dieses Gebiet, dann zog sich der mittelgroße, behäbige Fünfziger jedesmal wie ein Igel zusammen. Die wenigen Haare über der Glatze schienen sich zu sträuben, die Schultern wuchsen empor, die Oberlippe mit dem stachligen Schnurrbärtchen ging auf und nieder, und die goldene Brille flog, durch eine rasche Handbewegung gestoßen, die Stirne hinauf. Auch zog er die Uhrkette, die, durch einen Reifen am Halse zusammengehalten, in beide Taschen der seidenen Weste mündete, bald herauf, bald herunter, indem er zischende Laute von sich gab. Schärfe im Ausdruck sowie ein forschendes Juristenauge, das den Delinquenten noch einmal in Grund und Boden verdonnert, ehe es ihn dem Scharfrichter überliefert, war überhaupt die hervorstechende Seite im Wesen dieses Mannes, der sein kostbares Cello nebst dem nicht weniger wertvollen Caspar da Salò an Ort und Stelle im Süden für verhältnismäßig billiges Geld bei Auktionen erstanden hatte, wo die Schafsköpfe nicht ahnten, was sie versteigerten.
Mit dieser besonderen Titulatur freimütig um sich zu werfen, hielt der Herr Rat im allgemeinen und im besonderen für seine berechtigte Eigentümlichkeit. Man sagte ihm sogar in München nach, er habe als erster den boshaften Witz über den Obelisken am Karolinenplatz in die Welt gesetzt und auf die Inschrift hingewiesen, die zwischen abgehäuteten Schafsköpfen von den mit Napoleon nach Rußland gezogenen Bayern lakonisch behauptete. »Auch sie starben für das Vaterland.« Möglich wäre es immerhin gewesen, daß er so was erfand, denn sein Haß gegen alles Auswärtige trat deutlich bei jeder Gelegenheit hervor. Schafsköpfe waren für ihn, die mit der abenteuerlichen Expedition nach Griechenland hinuntergingen, und Schafsköpfe vor allem jene, die sich von den Trabanten des Ministeriums Abel für römische Interessen einfangen ließen. Den letzteren schenkte er neben dem beißenden Spott auch noch die große Verachtung. Der Herr Rat reichte nämlich in jene Zeit hinüber, wo die Säkularisation der Klöster noch ihre unmittelbare Wirkung auf Volk und Priester ausübte. Wenn nun der Sammler in ihm auch nur mit stiller Wut daran denken konnte, wie liederlich damals die Lümmel von ungebildeten Staatsbeamten mit den kostbarsten Schätzen der Abteien verfuhren, indem sie erlesene Bücher und Stiche auf Heuwagen durch die Bauern von dannen fahren ließen, wenn er dreimal die Faust ballte, weil in der Verwaltungssauwirtschaft der sogenannten guten, alten Zeit die so mühelos erworbenen Ländereien, die Wälder, die Seen der reich gesegneten Pfründen um ein paar lumpige hundert Gulden verschleudert wurden, nur damit man sich nicht mehr mit ihnen zu plagen brauchte, wenn er all diesen Morast eines stinkfaulen Bureaukratismus, gelagert auf dem Boden einer heillosen Korruption, vor seine Augen hielt, dann sagte er sich doch zu gleicher Zeit, daß, wie immer es zuging, einmal der Anfang gemacht werden mußte mit der Aufräumung des alten, terroristischen Systems der Pfaffen. Die hatten dieses Land unbehindert jahrhundertelang vergewaltigt, und ihre Wirtschaft war noch viel schlimmer als die der Beamten. Er konnte das so recht bei den Bauern beobachten, draußen auf dem Landgerichte in Erding, wo er zwei Jahre praktizierte. Dort war in der Verwaltung Dreck Trumpf, aber die Geistlichkeit hatte noch immer einen darüber auszuspielen. Erst benahm sie sich freilich recht schön geduckt, aber nach der Julirevolution in Paris und dem Hambacher Fest, wo einige besoffene Hanswursten in der alles besser wissenden Pfalz die Republik für Deutschland proklamieren wollten, schnellten sie unter Assistenz des scheu gewordenen Königs wieder empor, bis ihnen der alte Fuchs, der Abel, der nicht einmal ein Bayer war, nicht einmal ein Katholik von Haus aus, sondern nur ein suspekter Renegat, die volle Glorie zurückgab und noch die Märtyrerkrone daraufsetzte. Nun sollten die Staatsdiener wieder die Beichtzettel abliefern, die Protestanten mußten niederknien bei der Fronleichnamsprozession, und ein Denunziantentum ohnegleichen scheuchte den Sichersten des Nachts den Schlaf aus den Augen. Doch es stand bereits etwas im Hintergrund, was dagegen Front zu machen drohte, ein geheimnisvolles, unausgesprochenes Moment. Noch vermochte keiner zu sagen, worin es bestand und doch, es legte sich dieses große Fragezeichen, ohne daß der Rat seine Gedanken nur mit einem Worte äußerte, auch heute über das bei Bier und Wurst versammelte Quartett. Sonst wurden die Zungen durch die leiblichen Genüsse schnell gelöst, man zündete die Pfeife an und griff, wenn die erste ausgeraucht war, mit Behagen wieder zum Fiedelbogen. Heute aber ging man um das Thema, das auf dem Rat, dem Hofmedikus sowie dem Geigenmacher gleichmäßig ruhte, vorsichtig herum, da man wohl wußte, daß an diesem Tische höchst verschiedene Ansichten beisammen saßen, die wohl von Bach, Beethoven, Mozart und Haydn geeint werden konnten, nicht aber durch gegenseitigen Zuspruch. Der Sanktjohannser endlich meinte, nur um die Stille zu unterbrechen, die er als lebhafter Mensch nicht leiden mochte, sein Charcutier salze in letzter Zeit so auffallend stark; er werde es ihm das nächste Mal stecken. Da die anderen durch fortgesetztes Schweigen die volle Zufriedenheit mit ihren Lieferanten kundzugeben schienen, setzte er nach einer Pause wieder ein. Es dürfe wohl jeder auf der Welt aussprechen, was ihm passe und was nicht. Die Metzger, ob sie Kälber oder Schweine schlachteten, seien nun mal durch die Bank Gauner. Nur zeige sich manchmal, daß der angebliche Wohlstand doch nicht den soliden Boden habe, den man voraussetze. Heute mittag sei er zum Beispiel am Schuldturm vorbeigegangen. wie sie gerade einen von der Bande einlieferten, den man noch gestern als das Muster von Solidität gepriesen habe. Darauf gab der Glock, der Musiker, nachdem er die letzten Fettschnitten von seinem Papier mit dem Messer in den Mund geschoben hatte, zurück, das Leben im Schuldturm sei gar kein so übles, wie man immer meine; die Herren da drinnen lebten gar lustig in Freuden und ließen sich gar nichts abgehen. Es gebe Bier, für angesehenere Leute auch Wein und des Sonntags einen Kuchen. Er selber sei einmal in diesem Loche gewesen, wo er sich durchaus wohlgefühlt habe. Leider sei er am dritten Tage schon wieder freigekauft worden, da man ihn notwendig zu einem Konzert brauchte. Diese Äußerung lockte den Herrn Rat aus seiner schwer erhaltenen Ruhe heraus, und er bezeichnete sie mit schnarrender Stimme als eine Frivolität. In dem Turme da unten am Kosttor sehe er keineswegs das Ende aller Dinge, aber renommieren dürfe man nicht damit wie mit einem Orden, den man von allerhöchster Stelle bekomme. Schulden, gleichviel, ob sie nun durch eigene Fahrlässigkeit oder durch wirkliche Not entstanden, seien eine Sache, über die man am besten den Mantel der christlichen Nächstenliebe breite, je dicker, um so entsprechender. Er drehte sich dabei, den geöffneten Maßkrug in der Hand, zum Hofmedikus hinüber, nicht als ob er nötig hätte, von ihm eine Bestätigung seiner Worte zu erhalten – so etwas verlangte der höchst selbständige Mann nie – sondern nur, als wollte er jeden niederbügeln, selbst einen Universitätsprofessor, wenn der hier eine andere, eine unsolide Meinung entwickeln könnte. Ein solcher Kraftaufwand war aber gar nicht notwendig. Der Herr von Firneusel, der schon längst fertig war mit dem Essen, drehte mit der Rechten einige Brotkugeln und meinte achselzuckend, ihn wundere heutzutage gar nichts mehr. Denn, was geschehe, was geredet werde, entstamme alles der Ausgeburt dieser wahnsinnigen Epoche, der mangelnden Disziplin, vor allem aber der immer stärker um sich greifenden Gottlosigkeit. Nicht in den vierziger Jahren glaube man zu leben, sondern 1806, wo der verrufene, bayerische Staatsminister französischen Ursprungs, dessen Namen er nicht einmal aussprechen wolle, im Verein mit den Ideen des größten Lumpen, der das verabscheuungswürdige Pamphlet, die »Pucelle d'Orléans« schrieb, mit Voltaire, die Religion samt dem Heiland mit Stumpf und Stiel wegrasieren wollte.
Mit diesen Sätzen, die von Wort zu Wort an Schärfe gewannen, bis sie sich zuletzt zur vollen Verbissenheit steigerten, schien das Zeichen zur allgemeinen Debatte gegeben. Die Schleusen waren geöffnet; losgelassen stürzten die zurückgedämmten Wogen des angesammelten, politischen Ungewitters über die Köpfe des Stradivari, des Ruggeri und Pseudo-Amati dahin. Nur der Caspar da Salò, der Musiker, verhielt sich im allgemeinen gleichgültig, machte nur manchmal eine kurze Zwischenbemerkung und tippte mit der Spitze des Goldfingers die versprengten Bröseln seines Brotes zusammen, die er sodann, eins nach dem andern, auf die Zunge legte. Um so heftiger fuhr dafür sein Nachbar, der Sanktjohannser, herum. Er sprang auf, er sprang nieder, er zerrte an seiner Krawatte. So einfach sei das doch nicht, meinte er. Vom Voltaire habe er keine Ahnung, weil er so was nicht lese und Französisch überhaupt nicht verstehe. Aber von der Geistlichkeit, da habe er schon manches Stückl erlebt. Erst neulich, da sei ein Kooperator gekommen und habe bei seiner Base, einer alten, anständigen Frau, eine ganz infame Erbschleicherei begehen wollen. Überhaupt, wenn er auch einerseits sage, daß die Religion gewiß notwendig sei, so müsse er doch anderseits . . . Jetzt wußte er plötzlich nicht mehr recht weiter. Aber auch wenn er noch Material gehabt hätte, er wäre doch nicht mehr dazugekommen, es anzubringen, denn plötzlich fuhr ihm der Rat mit einer ellenlangen Armbewegung über das nach allen Seiten spritzende Mundwerk. Was er sagte, braucht nach der Entwicklung seines ganzen Programms nicht mehr aufgezählt zu werden, nur die zwei bis drei Schläge auf den Tisch seien registriert, mit denen er, nachdem so ziemlich alles ausgeschöpft war, seine Ansicht aufs kräftigste unterstützte. Er habe das letzte für möglich gehalten, was aber der Hofmedikus in dieser Stunde vorbrachte, übersteige den höchsten Gipfel. Von Gottlosigkeit werde hier geredet, ja, was in aller Welt verlange man denn dann noch, wenn der jetzige Druck nicht genüge, wenn man noch mehr Heiligkeit, vor allem noch mehr Scheinheiligkeit für nötig hielte. Wollte man der lieben Bavaria für immer gute Nacht sagen, dann à la bonne heure! Dies Land besitze nun mal ein Vorrecht auf unveräußerliche Dummheit, nun möge man auch noch Hypotheken darauf nehmen. Zitternd vor Aufregung erhob sich der Angegriffene. »Sie beleidigen unsern großen König!« »Bitte, davon hab' ich kein Wort gesagt!« »Aber Sie zielen indirekt darauf. Und das dulde ich nicht! Ludwig I. ist ein Mann, um den uns die Welt beneidet; das klassische Zeitalter steht unter ihm auf.« »Das klassische Zeitalter. Gewiß, Herr Hofmedikus, wir sehen überall griechische Bauten erstehen, wir zitieren die Antike und die Renaissance in einem Atem; wir schicken unsre braven Altbayern hinaus, damit sie für die Freiheit der Athener und anderer Rastelbinder kämpfen; nebenbei aber sind wir selber bis zum Hals geknebelt und vegetieren dahin wie im finstersten Mittelalter.« »Da haben Sie's, jetzt schimpfen Sie schon direkt.« Mehrfach hatte der Sanktjohannser es darauf angelegt, in diesem Disput seine Persönlichkeit zur Geltung zu bringen; er suchte bald an dem Hofmedikus auf und nieder zu langen, bald hielt er dem Rat beide Hände vor das Gesicht, als hätte er einen Tauben vor sich, mit dem er sich durch Zeichen verständigen müsse. Doch der endlose Arm des Beamten wies ihn immer zurück, wie ihn auch die befehlende Stimme nicht aufkommen ließ. »Ich sage lediglich, daß uns der König schon sehr verschiedene Gesichter während seiner Regierung gezeigt hat. Bei der merkwürdigen Veranlagung dieses Temperaments, das schon als Kronprinz große Ertravaganzen zeigte, ist es daher gar nicht ausgeschlossen, daß es uns über kurz oder lang mit etwas Neuem verblüfft und das ganze Ministerium für immer zum Teufel jagt. Hoffen wir's wenigstens!« »Respekt, Herr Rat, so spricht ein Beamter, aber was wunder' ich mich? Der Liberalismus war ja immer ein Vorrecht Ihrer Kaste.« »Beamter hin, Beamter her! Ich bin so frei, nebenbei auch noch ein Mensch zu sein. Wenn das den Gottsöbersten nicht paßt, dann sollen sie mich 'nausschmeißen . Ich bleib' hier in der Burgstraße, wo ich dreißig Jahre schon wohne, weiter sitzen, ich schnitze mir unter Anleitung vom Meister Sanktjohannser ein großartiges Cello und spiel' euch allen zum Alten Hof hinunter eine Melodie auf, daß mir der ganze Staat Bayern kreuzweis den Buckel rauf und runterrutschen kann.« Unwillig schüttelte der Hofmedikus den Kopf, indem er seinen langen Rock zuknöpfte. »Auf einen solchen Ton bin ich nicht gewohnt einzugehen.« Jetzt mischte sich der Musiker hinein, den diese Unterhaltung sichtlich langweilte. Er hatte sich erhoben, daß er wie ein Goliath über die ganze Gesellschaft und den Hofmedikus, der auch schon recht hochgewachsen war, hinausragte. Dann ergriff er mit der linken Hand die Bratsche, mit der Rechten den Fiedelbogen und schwang sie bis dicht an die Decke des niederen Zimmers, indem er mit gellender Stimme die Herren einlud, ein neues Spiel zu beginnen. Entweder das Kaiserquartett von Haydn oder das Mailänder von Mozart. »Sie, Sie, fuchteln Sie mir nicht so mit meinem kostbaren Instrument herum!« schrie der Rat.
Der Hofmedikus winkte ab. Er habe genug für heute. Damit zog er einen gestrickten Geldbeutel heraus und zählte sieben Kreuzer auf den Tisch, sechs für die Maß, einen als Trinkgeld für das Dienstmädchen, das sie geholt hatte. Aber da legte sich der Sanktjohannser ins Zeug. Er suchte zu begütigen, indem er meinte, es wäre doch schade, wegen so einer Bagatelle den ganzen Abend zu ruinieren. Er zahle wenigstens noch nicht, der Glock überhaupt nicht, und das Kaiserquartett sei wirklich eine schöne Sache. Politisieren könnte man freilich noch viel, besonders er hätte noch so manches auf dem Herzen, aber jetzt solle man sich vertragen. Die Zeiten seien sowieso übel genug. Erst jüngst sei er beim Duschlbräu gewesen, um Hühner am Spieß zu essen, die man nirgends besser richte wie dort. Was er da für Reden gehört habe, wolle er lieber nicht andeuten. Allen Ernstes sprach einer dafür, die Gewerbefreiheit in Bayern einzuführen. Ginge das durch, dann sollte es ihn gar nicht wundern, wenn auch noch die Geigen in Fabriken gemacht würden. »Was Sie da sagen, ist durchaus richtig,« unterbrach ihn der Hofmedikus. »Nur vergessen Sie, der Sie zuerst der Geistlichkeit was am Zeuge zu flicken suchten, gefälligst nicht, daß der Schwindel der Gewerbefreiheit nichts weiter ist, als die leidige Konsequenz der alles überziehenden Aufklärung. Wollen Sie die alten Meister hochhalten, dann halten Sie auch die Religion hoch.« Darauf brachte der Sanktjohannser nichts anderes hervor, als daß sie ja, Gott sei Dank, alle vier noch ihre guten, alten Instrumente hätten. Weil dem aber so sei, müsse auch endlich darauf gespielt werden. Da, dem Herrn Hofmedikus sein Stradivari verlange dringend nach Beschäftigung, und dem Herrn Rat sein Ruggeri dürfe nicht mehr untätig den Schmerbauch in die Luft strecken. Fort mit der Kerze vom Tisch, zurückgestellt auf das Pult, »und jetzt, meine Herren, erster Satz: da li la la – la!« So sang er und stellte die Violine zugleich auf den Ton ein. Während er sprach und hantierte, stieg der Glock mit gelassenen Schritten durch das Zimmer, der Rat aber, der im Finstern noch am Tische geblieben war, meinte nach einigem Räuspern endlich, mit der Gewerbefreiheit sei es allerdings dieselbe böse Sache wie mit der nun herrschenden Freizügigkeit. Wertlose Produkte, Entäußerung des Besitzes, freche Manieren, zudringliche Art würden künstlich großgezüchtet. Er könne so manches Lied davon singen. Es seien jetzt ein paar Jahre her, da kam zu ihm ein Bauer vom Lande, draußen vom Dachauer Moos, der Luegecker, der jetzige Wirt von der Schießstatt. Drüben, in seinem Bureau in der Theatinerstraße, im Ministerium, sei das gewesen. Er glaubte anfangs nicht richtig zu hören, als der Kerl sein Anliegen vorbrachte, dann aber habe es sich herausgestellt, daß man von ihm wissen wollte, ob der Bahnhof dahin käme, wo der ehemalige Bauer seine Wirtschaft betreibe. Na, er habe den Lackl gehörig abfahren lassen; aber ein Zeichen der Zeit bleibe es immerhin, daß ein Mensch, der kaum die juchtenen Hosen ausgezogen hatte, sich vermesse, mit so was zu kommen. Der Hofmedikus, den die unvermutete Wendung des ganzen Streites immer mehr zu belustigen schien, fragte, ob das, was der Herr Rat hier erzählte, nicht mit dem übereinstimme, was er vorhin von dem jetzt herrschenden Geiste behauptet habe. »Durchaus nicht,« meinte Bauriedl höchst gelassen. »Die Ultramontanen verdammen wohl die Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, wo's aber darauf ankommt, daß ein Geschäft dabei für sie herausschaut, verbünden sie sich damit, wie sie sich mit allem zusammentun, was eben nützlich ist. Warum auch nicht? Der Wahlspruch dieser Herren lautet ja: ›Der Zweck heiligt die Mittel‹.« Und als Beweis führte er den alten Schwefler, den Gankoffen, an. Auf den habe sich nämlich der Luegecker, als er in die Enge getrieben wurde, schließlich berufen, ja er sei sogar nach zwei Jahren wieder gekommen und habe ausdrücklich auf den Karl Albrecht als den Schuldigen hingewiesen.« »Auf den Reichsarchivdirektor!« rief der Hofmedikus. »Überlegen Sie sich, Herr Rat, was Sie sagen! Der verehrungswürdige Greis ist einer unserer allerersten Männer. Ein unantastbarer Charakter wie sein Sohn, der Maler, von dem ich mich rühmen darf, daß er mein bester Freund ist.« Der Rat blieb jetzt bei jedem seiner Worte äußerst gelassen. »Ich pflege mir stets vorher zu überlegen, was ich sage, Herr Hofmedikus!« »Nun, dann erwidere ich Ihnen, daß kein Gankoffen je eine Spekulation anrührt.« »Geleugnet haben sie's freilich,« nickte der Rat, »aber wie kommt der Wirt auf den Namen? Wie kann er sich herausnehmen, darauf Bezug zu nehmen? Vor allem, wie kommt es, daß sich der alte Fuchs, der Gankoffen, bald darauf selbst danach erkundigte? Natürlich auch wieder hübsch hinten herum und nicht direkt, weil man's ja sonst gemerkt hätte.« Jetzt erwiderte der Firneusel nichts mehr, aber er schritt erregt durch das Zimmer. Sein Gegner nickte ihm lächelnd zu, wenn er ihm das Gesicht hinwandte, und fügte beruhigend bei, die Herren könnten Sturm laufen, soviel sie wollten, seine Ruhe störe das nicht, und die Ruhe der bayerischen Verwaltungsmaschine noch viel weniger. Eines werde hübsch nach dem andern erledigt; selbst die Eisenbahn habe sich zu gedulden, auch wenn sie noch so schnaufe, nicht minder die Herren Adjazenten, die auf den neuen Bahnhof nur deshalb warteten, damit sie ihr Schäfchen ins Trockene brächten. Nachdem er das alles heraus hatte, zog er es vor, nichts mehr ins Treffen zu führen, sondern rückte seinen Stuhl wieder zum Pult, indem er die Geige ergriff. Der Sanktjohannser hingegen, zufrieden, daß er mit seiner Politik so durchdrang, hob jetzt dem Herrn Rat das Cello hinüber, und zwar mit aller Vorsicht, damit er ja keine Grobheiten bekomme wie der Glock. Dann bat er, dem Beispiel des Herrn Hofmedikus zu folgen, der, sichtlich betroffen, sein Instrument schon in der Hand hatte. Und wie er nun alles so recht schön beisammen zu haben glaubte, fühlte sich der kleine Mann, dem nichts schlechter bekam als eine unverdaute Rede, bemüßigt, noch eine politische Bemerkung zu machen, weil er immer das dunkle Gefühl hatte, bei der ganzen Unterhaltung zu kurz gekommen zu sein. So meinte er denn, während sich jetzt alle vier zum Spiel gruppierten, er kenne sehr wohl das Grundübel der gesamten Misere, wie sie jetzt in ganz Deutschland auf religiösem Gebiete durch die Gewerbefreiheit, durch Freizügigkeit und noch soundsoviel anderes regiere. Doch daran trage nicht Bayern die Schuld, nicht der Abel, nicht der Herr Reichsarchivdirektor oder beileibe gar der König, sondern die Neunmalgescheiten da oben im Norden, die alles reformieren wollten und selbst doch gar nichts verstünden, die Preußen.
Er glaubte, damit etwas recht Gescheites zu sagen, was das letzte der etwa noch vorhandenen gereizten Stimmung auf Prügelknaben übertrug, denen er bei jeder Gelegenheit gerne eins auswischte, und bei denen man in München auch ziemlich sicher sein konnte, daß die anderen nicht zurückblieben. Doch die erwartete Wirkung blieb aus, es herrschte nur eine höchst merkwürdige Stille, die sich immer stärker auszuwachsen drohte. Der Glock, der inzwischen für alle die Noten aufgelegt hatte, klopfte daher mit dem Bogen sehr ärgerlich auf die Decke der Geige, wie ein Kapellmeister, der falsche Tempi unterbricht. Dann fragte er, ob man jetzt spielen wolle oder nicht. Der Rat und der Hofmedikus sahen sich an. Die Preußen waren nämlich ein gar heikles Thema, bei dem so manche Erinnerungen der verschiedensten Art aus der Versenkung emporstiegen. Das fortwährende Rivalisieren der beiden Staaten, das Hinum-Herum der bayerischen Politik, die gegenseitige Eifersucht, dagegen doch wieder die Heiraten der bayerischen Fürsten nach Berlin hinauf und der von Berlin herunter hatten ein klares Verhältnis niemals aufkommen lassen. Mit dem anderen Nachbarstaat, mit Österreich, befand man sich völlig im Einklang. Das hatte zwar, im ausgesprochenen Gegensatz zu Preußen, die Bayern bei jeder Gelegenheit überfallen, ausgeplündert und verkleinert. Aber das machte weiter nichts. Es war derselbe Bruderstamm, gegen den man weder was sagen durfte noch wollte, vor allem, es war dieselbe Religion. Ein üppiges Kloster nach dem andern zog sich von der alten Bischofsstadt Passau zwischen weitgestreckten Höhen die Donau entlang bis zur einzigen Kaiserstadt hinab, deren Namen jedem Münchner, der sie kannte oder nicht kannte, ein lüsternes Schnalzen entlockte. Was aber wußte man von da droben? Daß alles in enge Krawatten gezwängt einherstolzierte wie ein hölzerner Kleiderständer, daß ein hochnäsiger Ton herrschte wie auf dem Kasernenhof, daß die Kirchen so nüchtern im Innern waren wie die unseren nur im ersten Verputz des eben vollendeten Rohbaues.
Und da knüpfte der Hofmedikus so allmählich an. Er meinte, die Preußen seien zwar recht phantasielos, ohne Geschmack, ohne künstlerisches Empfinden. Im übrigen schätze er sie als arbeitsame, fleißige Leute, denen er jederzeit gebe, was ihnen zukomme. Allerdings auch kein Tüpfelchen mehr. Sie seien eine Großmacht, wenn auch nicht von der Bedeutung der bayerischen, die den wahrhaft deutschen Gedanken viel größer, viel umfassender repräsentiere. Da helfe kein Drehen, kein Wenden, keine Entstellung von geschichtlichen Tatsachen. Wo die Opportunist es erfordere, wie Anno 13 nach der Auflösung des Rheinbundes, werde man auch in Zukunft Schulter an Schulter mit ihnen marschieren, ebenso behalte man sich völlige Aktionsfreiheit vor für einen anderen Fall, der auch wieder kommen könnte. Denn die Gegensätze bestünden nun mal, sie seien auch nicht so leicht zu überbrücken, nachdem es sich hier um eine Art Supremative handle. Preußen verfolge mit brennendem Neid das Emporkommen des Südstaates, und es habe auch allen Grund dazu. Das brachte er ohne jede Erregung, ohne persönliche Spitze heraus, indem er am Schlusse mit zufriedener Miene als erster Geiger das Zeichen zum Anfang geben sollte. In diesem Augenblicke bat ihn aber der Rat noch um Gehör. Er hatte der Rede stillschweigend zugehört, jetzt holte er ein in simples Holz gerahmtes Bild von der nächsten Wand. Ein Graukopf mit funkelnden Augen, mit langer Nase und faltigem Gesichte sah über einer dunkelblauen Uniform und dem Ordensstern unter dem Dreimaster hervor. Dies Konterfei hielt der Hausherr statt aller Antwort dem Hofmedikus hin. Ob er den kenne? fragte er. Ein ironisches Lächeln antwortete vom Pulte herauf. »Der Intimus desselben. der die ›Pucelle‹ geschrieben hat.« »Friedrich der Große«, nickte der Rat. Wieder dasselbe Lächeln. »Sie nennen ihn mit diesem Epitheton ornans?« »Weil er's verdient!« wetterte der Rat. »Zum Kuckuck nochmal, wen haben denn wir in unserer armseligen Geschichte, den wir dem da an die Seite stellen könnten?« »Na, na, na«, beschwichtigte der Firneusel. Aber der Rat ließ nicht los. »Sie können mir nicht einen einzigen nennen, der nur halb so viel im Kopf gehabt hätte wie dieser große Feldherr.« »Gut,« kam es energisch zurück. »Unseren gewaltigen Kurfürsten Maximilian I., der dem Bayerland seinen Glauben gerettet, die Liga gegründet und die Schlacht am Weißen Berge geschlagen hat!« »Na, da sind wir glücklich beim alten Thema!« ächzte der Rat. Und als sein Gegenüber, auch jetzt wieder verbindlich lächelnd, erwiderte, er meine ja nur, schrie er heftig, er meine ja auch nur. Jetzt kam der Sanktjohannser, sehr bestürzt über das, was er angerichtet hatte, und erklärte, er habe halt ebenfalls nur so gemeint. Der Musiker aber, der in diesem unharmonischen Zwischenspiel nicht minder seine Meinung haben wollte, sagte zum zweitenmal, man solle jetzt wirklich anfangen, oder er gehe auf und davon. »Seien Sie still,« belehrte ihn der Hofmedikus, »Sie sollen froh sein, daß Sie mitspielen dürfen.« Der Glock sah ihn einen Augenblick groß an, dann griff er ohne viele Umstände nach seinem Radmantel und dem Hut, die in einer Ecke auf dem Stuhle lagen. Die Herren möchten sich, wie sie da beisammen hockten, von jetzt an einen andern suchen. Damit wünschte er gute Nacht und wandte sich zur Türe. Doch der Rat hielt ihn zurück. »Nein,« eiferte er, »so was gibt es nicht. Wenigstens nicht bei mir im Hause. Da ist mir einer so lieb wie der andere, denn man kommt zusammen, um miteinander zu musizieren, nicht aber, um sich gegenseitig zu desestimieren. Das kann sich ein jeder gesagt sein lassen, selbst wenn er einer ist, der täglich beim König aus und eingeht.«
In die bedenkliche Schwüle, die auf dies Aufeinanderplatzen folgte, brachte der Hofmedikus ganz unerwartet dadurch einen frischen Luftzug, daß er wie umgekrempelt dem Glock plötzlich die Hand hinstreckte. Er tat das weniger aus besonderem Edelmut als aus dem starren, religiösen Gefühl heraus, das ihn bei jeder seiner Handlungen bewußt wie unbewußt beherrschte. Zorn war eine Sünde; dafür mußte gebüßt werden. Nicht nur im Beichtstuhl, sondern auf der Stelle. Diese Überzeugung behielt er zwar für sich, er sagte aber den anderen, man dürfe ihm nicht böse sein. Er stehe nun mal diesen beiden Faktoren, der Religion und den Preußen, nicht objektiv gegenüber. Er könne es einfach nicht. Auch sei er in der letzten Zeit unmöglich für völlig normal zu nehmen. Es bereite sich etwas vor im Lande und in der Stadt, über das er nicht reden dürfe, auch nie reden werde, aber es sei eine Sache, die ihm fast das Herz abdrücke, da sie die unübersehbarsten Konsequenzen für das Vaterland bringen könne und seiner Meinung nach direkt von Berlin angezettelt sei. Das alles gehe ihm so nahe, daß er heute lieber nicht mehr zum Fiedelbogen greife, sondern einpacken und nach Hause gehen wolle. Damit trank er sein Bier aus und legte den Stradivari fein säuberlich in den mit Samt ausgeschlagenen Kasten, wo er ihn mit einem seidenen Tuche bedeckte. Der Rat und der Glock achteten diesen Willen, nur der Sanktjohannser war sehr unruhig geworden. Er rannte umher, er zupfte bald an der Krawatte, bald an seinem Barte, dann aber drehte er sich, nachdem er gleichfalls sein Instrument geborgen hatte, energisch zum Hofmedikus. Erst brachte er gar nichts heraus, er riß nur den Mund auf und deutete mit dem Zeigefinger fortwährend nach der Uhrkette des Gelehrten, so daß man glauben mochte, einen Menschen vor sich zu haben, der die erste Silbe vor Stottern nicht anschlagen konnte. Plötzlich aber, als er merkte, daß sich alles zum Gehen anschickte – der Rat, der jedesmal die Treppe hinunterleuchtete, hatte bereits eine Kerze in den Leuchter gesteckt – machte er einen Satz in die Luft hinaus, soweit er nur konnte. »Das . . . das . . . Herrgott nochmal, das, was der Herr Hofmedikus meint, das ist . . . wahrhaftig, genau dasselbe ist's, was ich vorhin sagen wollte. Ja, ja, die Preußen sind schuld daran!«
Es war eine der umfangreichsten Reden, die der Sanktjohannser in seinem Leben ohne Unterbrechung gehalten hatte. Darum verfehlte sie denn auch ihre Wirkung nicht. Der Rat stellte den Leuchter noch einmal weg; dann sah er erst auf den Musiker, der den Kopf schüttelte, gleich darauf auf den Hofmedikus, der ganz weiß geworden war. Fast gleichzeitig bat er den Sanktjohannser, sich deutlicher auszudrücken. Der aber merkte, daß er schon wieder etwas verpatzt hatte. Verdutzt sah er zu dem hinüber, der das heikle Thema zuerst angeschlagen hatte, indem er mit beiden Händen Belegungen machte, als wollte er nachhelfen. Denn von dort, meinte er im stillen, müsse jetzt die Steigerung folgen wie in einem Roman, und zwar nicht in einem, der an der schönsten Stelle abbricht, um die Fortsetzung für die nächste Nummer zu verheißen, sondern in einem, wo man unbehindert bis zum Schlusse seine Neugierde befriedigen kann. Doch der Hofmedikus kniff die Lippen noch fester zusammen und sah auf den Boden herab wie zur Erde, die auf einen Sarg herniederfällt. Keine Bewegung gab er von sich, ja, man hätte glauben mögen, er wäre regelrecht versteinert, hätte man nicht den Atem gehört, den er in gewissen Pausen von sich stieß. Als aber der Sanktjohannser nun endlich den schüchternen Versuch machte, ihn bei seinen Titeln anzureden, drehte er sich energisch um und ging zum Fenster. Das riß er mit jäher Bewegung auf und sah hinab in den Alten Hof, der die Burgstraße abschloß. Dort schien der Mond auf diesen ältesten Teil der Stadt, auf die umgitterten Fenster der ehemaligen Residenz der Herzöge Bayerns sowie auf das Wasser eines kräftig plätschernden Brunnens, das sich in einem großen Holzbecken sammelte. Kein anderer Laut drang von da unten herauf, und die Stille diesem weltabgeschiedenen Schlupfwinkels übertrug sich, wie schon öfter an diesem bewegten Abend, auf das ganze Quartett. Man stand herum und wußte nicht recht, was man tun sollte. Selbst der Rat blieb stumm, nur klopfte er, die Hände auf dem Rücken, dann und wann mit dem Fuße zum Boden nieder. Da auf einmal setzte die Uhr der Peterskirche ein, ein bißchen gewöhnlich und bauernmäßig gestimmt, dann kam viel heller, aber auch nicht viel schöner, die vom Heiliggeist, bis am Schluß mit behaglichen Brummtönen die Schläge der berührten Salve Regina-Glocke von Unserer Lieben Frau sich hineinmischten, in die auch noch mit hellaristokratischem Gebimmel die Uhr der Residenz tönte. Zehn gewichtige Schläge hallten durch die reine Herbstluft.
»Es ist spät,« sagte der Hofmedikus. »Gute Nacht, Herr Rat, gute Nacht, Glock . . . Sie aber, Herr Sanktjohannser . . .« Er hielt ein und sah auf den Geigenmacher herab wie ein Sperber, der sich einen Spatzen leistet. »Nehmen Sie sich in acht mit solchen Reden, wie Sie sie eben geführt haben. Schauen Sie, daß Sie sich dabei nicht den Schnabel verbrennen. Kein Wort! Sie werden wohl selbst wissen, es gibt politische Gefängnisse in München. Ich bringe Sie nicht hinein, aber über kurz oder lang wird das schäbige Denunziantentum in unserer Stadt großwachsen, das der Herr Rat schon heute in unseren Mauern glaubt. Das merken Sie sich in Ihrem Interesse!« Damit nahm er seinen Hut und ging die steile Treppe hinunter. Er tat das sehr umständlich, Schritt für Schritt, ja, mit größter Vorsicht, denn der Hausherr, der dazu leuchtete, marschierte, wie jedesmal, am Schluß der Kolonne, so daß nur jener was sah, der dicht vor ihm ging. Das war heute der Sanktjohannser, und zwar kroch er nicht wenig verschüchtert daher. So kamen sie am zweiten Stockwerk des alten Hauses vorüber; als sie aber am ersten waren und die beiden an der Spitze nicht mehr die Hand vor den Augen sahen, hielt der Rat den Geigenmacher mit dem Griff eines Gendarmen fest, der den Verbrecher packt. Dann ließ er sich von ihm was ins Ohr flüstern. Ein paar Augenblicke nur, aber die genügten ihm. Denn er wäre beinahe ausgerutscht vor Lachen und hätte sein Amt als Fackelträger vergessen. Erst die ungeduldigen Rufe der nun an der festverschlossenen Pforte Angelangten setzten ihn wieder in Bewegung. Nun stieg er in aller Gemütsruhe hinunter, öffnete und leuchtete in den Bogen hinaus, der die Durchfahrt von der Burgstraße zum Alten Hof bildete. »Addio!« rief er den Abziehenden nach. Dann blieb er noch einen Augenblick in der frischen Luft stehen, indem er aufs neue lachte. Und er lachte immer noch, als er in die Wohnung zurückkam, ja er tat es so laut, daß er dabei das Licht ausblies. »Macht nichts«, sagte er vor sich hin. Dann tappte er nicht in das Zimmer zurück, das man verlassen hatte, sondern in ein ganz kleines, unscheinbares, von höchstens drei Schritt im Geviert, wo er eine Talglampe anzündete. Wie in einer Werkstatt sah es dort aus. Unter dem Fenster, das da rings vom Dache umgeben war, stand eine Art Hobelbank, an deren Seiten Hohleisen, Schnitzmesser, Leimtiegel, Bohrer und andere Gerätschaften in entsprechende Ösen gelassen waren. Der Rat sang mit halblauter Stimme die ersten Töne des Rasoumoffsky-Quartetts vor sich hin, um dabei seinen langen Rock auszuziehen. Dann setzte er sich in Hemdärmeln an die Bank, indem er mit Bedacht ein in Celloform zurechtgesägtes Ahornholz, den Bodens des werdenden Instrumentes, aus einem Fache hervorholte. Das sah er sehr selbstgefällig an, er klopfte es ab wie der Arzt, der auskultiert. Endlich nahm er eines der Hohleisen und begann zu schaben, jeden Eingriff auf das behutsamste abwägend. Dabei sah er wieder so ernst aus wie sonst im Leben. Denn diese heikle Arbeit erforderte einen ganzen Mann. Zehn Jahre schuf er bereits an diesem Instrument; würden weitere zehn vergangen sein, dann sollte was in die Welt gehen, das sich mit jedem Ruggeri und Guarnieri messen und als ein Bauriedl der Nachwelt überliefert werden konnte. Deshalb achtete er keine Mühe, er achtete auf keine Zeit. Die Glocken der Stadt tönten in den vorgezeichneten Absätzen regelmäßig in das Zimmer herein, während Feile und Schnitzmesser ächzten. Aber der Herr Rat vergrub sich immer fester in das Pensum des Tages, das heute, wo gespielt wurde, noch nicht erledigt war. Auf einmal aber legte er Holz und Eisen auf die Seite. Und da fing er wieder zu lachen an, so laut, so herzlich, wie zuvor auf der Treppe. Erst waren ihm die zwei Oberschlaucherln, der Luegecker und der Gankoffen, eingefallen, die zu schieben meinten, während sie selber geschoben wurden, dann aber dachte er an das, was der Sanktjohannser auf das kategorisch gestellte Verlangen ihm zugeflüstert hatte. Das machte ihm erst recht viel Vergnügen, und er wiederholte, indem er sich endlich zum Bettgehen anschickte, die vorgestammelten Worte seines Meisters im Cellobauen. »Unser König hat eine neue Geliebte! Die ist aber nicht so harmlos wie die früheren, nein, sie ist eine internationale Hochstaplerin, und die Preußen haben sie ihm zugetrieben. Eigens deswegen, damit wir in Bayern vor aller Welt die Lackierten sind.«