Josef Ruederer
Das Erwachen
Josef Ruederer

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Viertes Kapitel.

Der Gankoffen.

Wenn die Dohlen, diese unansehnlichen, schwarzen Vögel mit den klugen Augen und dem leichtgekrümmten Schnabel im ersten Frühjahr zu neuem Leben erwachen, dann umflattern sie in dichten Scharen jene höchste Stelle der Stadt, die seit Jahrhunderten das weitberühmte Wahrzeichen bildet, die Liebfrauenkirche. Dort werden in Nischen und Öffnungen verlassene Nester wieder gewärmt, ein großes Brüten beginnt, und wer den Nordturm hinaufsteigt, der gewahrt das obere Gemäuer des Südturms weiß übersät vom Geschmeiß der in beständiger Bewegung befindlichen Tiere. Wirft man gar ein Steinchen hinüber, dann prasselt es hoch von allen Seiten, daß die Luft erzittert, als ob eine Kugel in feindliches Erdreich geschlagen hätte. In jähem Fluge geht es, an Glockenfenstern und Uhren vorbei, die beiden Kolosse hinauf und hinunter. Die aber ragen unbewegt in der steilen, schmucklosen Gotik, in der sie erbaut wurden, gekrönt von den grünpatinierten Kuppeln, die man errichtete, weil das Geld für den Ausbau der Türme nicht mehr reichte. Auf die oberste Rundung der beiden ungeheueren Äpfel setzte man Knöpfe von blendendem Messing, deren jeder, nach dem maßgebenden Urteil gewiegter Schrannenbesucher, zweieinhalb Scheffel ungemahlenes Korn zu fassen vermag. Auch sonst gehen mancherlei Gerüchte um über die Kirche; die freilich sind nicht so greifbarer Art, sondern mehr in die Sage hinüberreichend, in die zahllosen Familiengrüfte, die der gewaltige Innenraum birgt, in den Tritt des Satans am westlichen Hauptportale sowie in das reichgeschmückte Grab des im Kirchenbanne verstorbenen Kaisers. Unverschiebbar aber stehen darüber, wie die Türme selbst, der Name des fürstlichen Auftraggebers, des Herzogs Sigismund von Bayern, der im Jahre 1468 den Grundstein legte, sowie des Mannes, der das Gotteshaus nicht aus freiliegendem Platze, sondern aus einem Winkelwerk hoher und niedriger Ziegeldächer zur ragenden Säule entwickelte, um es von dort allen Reisenden, die der Stadt nahen, auf Meilen zu zeigen: des Baumeisters Jörg Gankoffen von Polling. Zwanzig Jahre werkelte nach den vorliegenden Urkunden der Unermüdliche an seiner Lebensaufgabe, stieg wohl alltäglich, mit Ausnahme der Sonn und Feiertage, das Schiff wie die Türme hinan, kämpfte, litt, freute sich abwechselnd, wie jeder, der so was zustande bringt, und ging schließlich in das Dunkel zurück, aus dem er gekommen war, wie die Meister von damals es taten, mit kärglichem Lohne bedacht und seinen Nachkommen nichts hinterlassend als dies ewige Denkmal seiner gradlinigen, einfachen Kunst.

Sieht man die vor sich, staunt man mit den unsicheren Empfindungen eines plötzlich überkommenden Schwindels die steilen Ziegelmassen empor, von solcher Größe um so stärker überwältigt, als es weites Zurücktreten auch heute kaum gibt, dann kann man wohl sagen, daß dies Monument ein stolzes Vermächtnis bedeutet. Man muß aber auch beifügen, daß man von ihm um so weniger leben konnte, als die damalige Zeit so gut wie gar nichts nach dem Woher oder gar nach der Persönlichkeit fragte. Man nahm die Kirche so, wie sie dastand, und kümmerte sich nicht um den, der sie geschaffen hatte. Die Gankoffens schlugen sich denn die folgenden Jahrhunderte recht und schlecht durch die Welt, sie verloren sich im Leben, wie das Leben ihre Spur verlor. Die meisten von ihnen dürften überhaupt keine Ahnung davon gehabt haben, daß ein Vorfahre von ihnen jene Kirche in München erbaute, die man draußen stets nannte, wenn man von dieser Stadt sprach. Das erste Licht, das sich in so viel Dunkelheit senkte, flammte auf zu Ausgang des siebenzehnten Jahrhunderts, so etwa vier Dezennien nach der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, an den München immer noch mit Schrecken dachte. War doch der Schwedenkönig in eigener Person durchgezogen, wo er willkürlich brandschatzte und angesehene Geiseln mit auf den Weg nahm. Zur Zeit, als nun die schweren Wunden, die der ungeheuere Schlag hinterlassen hatte, so langsam vernarbten, ließ sich ganz im stillen ein Franz Gankoffen in München nieder, wo er auf mehrere Eingaben das Amt eines städtischen Wagmeisters erhielt. Diesen Mann machte nun mal ein Prälat vom Domkapitel Unserer Lieben Frau bei der Ausstellung eines Totenscheines darauf aufmerksam, daß er merkwürdigerweise denselben Namen trage wie jener, der das kühne Schiff errichtete, unter dem sie sich gerade, von der Sakristei kommend, bewegten. Doch scheint dieser Wink auf den Gankoffen selbst so gut wie keinen Eindruck geübt zu haben. Er behielt die Sache für sich und besprach sie nur einmal mit seiner Ehehälfte, als zufällig sein kleiner Enkel zugegen war, der Max Gankoffen, der viele Jahre später, etwa um 1770 herum, als kurfürstlicher Lottokollekteur sein kärgliches Brot verdiente. So kurz das Gespräch war zwischen den Großeltern, der Bub hatte es gut behalten. Nicht, weil er sich das mindeste daraus machte – er war im Punkte der Tradition genau so gleichgültig wie sein Großvater und wie alle Welt – sondern weil ihm dabei etwas auffiel. Aber auch darüber sprach er nie, ja, er hätte vielleicht die ganze Geschichte mit sich selber zu Grabe getragen, wäre er nicht eines Tages ganz unvermutet durch einen Rat vom Hofe besucht und aufgefordert worden, sich so schnell und so gut als möglich zu kleiden, um dann in der vornehmen Begleitung zur Residenz zu wandern. Seine Frau fing schrecklich zu weinen an, weil sie meinte, der Max habe was veruntreut und werde verhaftet. Aber der wohlparfümierte Herr winkte mit seinen weißen Handschuhen beruhigend ab. Der Lottokollekteur wurde denn auch, nachdem ihm ein paar Lakeien die Kleider ein bißchen zurechtgebürstet hatten, sofort zum Kurfürsten Maximilian III. geführt, dem hochgebildeten Vorgänger des Karl Theodor, der ihm unter freundlichem Lächeln auseinandersetzte, es interessiere ihn, den Nachkommen jenes Mannes vor sich zu haben, der der Hauptstadt des Landes dies unvergängliche Kunstwerk hinterlassen habe. Denn es sei nach einigen Quellen, wie der hohe Herr beifügte, wohl anzunehmen, daß die direkte Deszendenz auf den führe, der da vor ihm stehe. Schon deshalb, weil sich trotz wiederholter öffentlicher Aufforderung kein anderer dieses Namens gemeldet habe. Der so gnädig Angeredete war ob solcher Huld einfach sprachlos. Erst nach und nach merkte er, daß sich diese Sache mit der Herkunft doch nicht so ohne weiteres abtun ließe, wie der Großvater seligen Angedenkens dazumal meinte. Der hatte nämlich – der Enkel besann sich noch ganz genau – zur Gattin geäußert, daß ihm die Weisheit des Domherrn die armselige Suppe nicht um ein Fettauge reicher mache, während eine entsprechende Gehaltserhöhung das viel besser fertiggebracht haben würde. Aber was kümmerten sich die satten Domherren um einen armen, städtischen Beamten! Obwohl nun gerade dieser bittere Witz allein es war, der dem Enkel die Historie vom Jörg Gankoffen warm gehalten hatte, hütete er sich wohl, wie man gerne glauben wird, in diesem Augenblick davon zu erzählen. Er meinte vielmehr nach einer Pause der tiefsten Verlegenheit unter fortwährendem Stottern, daß er sich noch sehr wohl vom Großvater her auf eine höchst bedeutsame Erzählung besinne. Während er das herausbrachte, gelang es ihm, die Gedanken ein bißchen zu ordnen, so daß er beifügte, seine Vorfahren wären immer recht stolz darauf gewesen, von jenem Manne ihre Herkunft ableiten zu können; besonders der Großvater habe was darangesetzt, jenem Domherrn soviel wie möglich von der ganzen Familie zu erzählen. Eben, meinte der Kurfürst, dasselbe möchte er jetzt von dem Enkel hören. Man wolle nachgehen, dem Meister Jörg Gankoffen einen Gedenkstein errichten, man wolle die noch lebenden Gankoffens in Gnaden protegieren. Da aber kam es heraus, daß der arme Lottokollekteur halt nicht das allermindeste wußte. Er stand ratlos vor dem Kurfürsten, er schlug abwechselnd mit der linken und der rechten Hand an die Hosennähte, indem er hastig ausrechnete, ob der Domherr noch etwa am Leben sein und ihn als Lügner entlarven könnte. Als er sich endlich mit gutem Gewissen sagte, daß das einfach unmöglich war, wurde er etwas ruhiger, aber der Angstschweiß lief ihm immer noch von der Stirne. Drum war er heilfroh, als ihm der gütige Herr schließlich huldvoll die Hand zum Kusse hinstreckte, indem er meinte, man werde schon langsam hinter alles kommen. Die Historie gebe es gar nicht, die die heutige Findigkeit nicht entschleiern könnte. Zunächst rücke auf seinen allerhöchsten Wunsch der letzte Sprößling des großen Mannes in den Hofstab als Funktionär ein, wo er außer seinem Gehalte eine Ertrapension von einhundertfünfundsiebzig Gulden pro Jahr beziehe.

Jetzt kannte sich der Max Gankoffen vor Glückseligkeit nicht mehr aus. Der arme Teufel hatte nur dann mit den Seinen zu essen gehabt, wenn es ihm nach qualvollen Mühen glückte, Lose an den Mann zu schwätzen; auch hatte er seinen Namen so gleichgültig hingenommen, wie er auf seinem Buckel einen »Duftschmied« oder »Aidelsrieder« erduldet haben würde. Wer auf der Welt wird denn gefragt, wie er heißen wolle. Ja, der Pate nennt bei der Taufe den Namen irgendeines Heiligen, aber der ihn tragen soll, hat ebensowenig mitzuwählen wie bei dem Bette, in dem er geboren wird. Ein Glück, daß es jetzt anders wurde. Vom heutigen Tage an durfte er der Metze Fortuna endgültig den Rücken kehren und seinen Namen wie einen vom Landesherrn verliehenen Titel tragen. »Gankoffen! Gankoffen!« sagte er immer vor sich hin, als er aus der Residenz taumelte, wobei er fand, der Name klinge ganz wundervoll. Schade, daß sein einziges Kind, der kleine Bub, Karl Albrecht genannt wurde. Aber dessen Erstgeborener mußte Jörg heißen; da gab es nichts anderes, das war man der Familie schuldig. Mit solchen Erwägungen rannte er direkt nach Hause, in ein Rückgebäude der Herzogspitalgasse, und fragte den Mietsherrn, vor dem er sich gestern abend noch auf der Treppe gedrückt hatte, weil er ihm noch den letzten Zins schuldete, mit herausfordernder Miene, ob er wohl wisse, mit wem er bis jetzt zu tun hatte. Das gleiche fragte er seine Frau sowie seinen Buben. Dann rannte er wieder hinaus auf die Straße und in die Kneipe, wo er weiterexaminierte. Dort lachte man ihn aus, denn es war den Leuten höchst gleichgültig, wie der Erbauer der Frauenkirche hieß, auch glaubten sie, der Lottokollekteur sei plötzlich größenwahnsinnig geworden. Als sie ihn nun aber wirklich alltäglich mit gravitätischen Schritten zur Residenz steigen sahen, als sie merkten, wie er sich in Kleidung und Haltung viel besser trug, als ferner die Hofbeamten auf spöttische Fragen höchst ernsthafte Gesichter machten, wurden sie artiger, ja, sie räumten dem Herrn Stabsfunktionär am Stammtisch einen Ehrenplatz ein und horchten gespannt auf die Geheimnisse, die er aus der Residenz zum besten gab. In ihren Familien fragten sie dann selbst die Ehehälften, die Vettern und Basen, ob sie eine Ahnung hätten, wer den Stolz Münchens, die Frauenkirche, errichtet habe. Und wenn die sehr gelassen verneinten, dann warfen die plötzlich so kunstverständig Gewordenen mit »dummen Gänsen« und »Einfaltspinseln« nur so herum, während sie sich gleichzeitig rühmten, den Nachkommen solch hochgeachteten Namens zu ihrem Kreise rechnen zu dürfen. Die Abgekanzelten wollten natürlich auch nicht zurückbleiben, sondern weckten die Nachbarschaft aus dem Dauerschlafe historischer Gleichgültigkeit. Das ging so von Haus zu Haus, bis schließlich die ganze Stadt dem Himmel es dankte, daß er in seiner Gnade wenigstens zwei Mitglieder der hochberühmten Familie erhalten habe, denen man für das wunderbare Gotteshaus mit stillem Gedenken an den großen Ahn unter tiefer Bewegung die Hand drücken konnte.

Diese Hand nahm das ältere Mitglied denn auch überall entgegen, wo man sie hinstreckte. Das unscheinbare Männlein, das bis jetzt nur Fußtritte vom Schicksal bekommen hatte, lebte von Tag zu Tag mehr auf. Da es außerdem kein Faulenzer war, sondern ein rechtschaffener Arbeiter, der sich dankbar erwies für das, was man ihm bot, und im Gegensatz zu dem diebischen, bestechlichen Lakeientum der Residenz stets seine Schuldigkeit tat, stieg sein Ansehen beim Stab wie bei den Bürgern. Der Gankoffen kam voran, er wurde Hofsilberbewahrer, und schließlich bekam er sogar den Titel eines Wirklichen Kurfürstlichen Rates als Beweis der höchsten Zufriedenheit tax- und gebührenfrei verliehen. Was ihm freilich ebensowenig glückte, wie seinem Herrn und Gebieter, dem gütigen Kurfürsten, das war die Weiterführung seines Stammbaums von den Großeltern weg ins Schwäbische hinein, woher sie gekommen waren. Da fehlte jeder Anhaltspunkt, denn der letzte Aufenthalt des Paares in dem Städtchen an der württembergischen Grenze war nur ein vorübergehender gewesen. Keine polizeilichen Recherchen, keine Korrespondenzen mit befreundeten Geheimkanzleien vermochten da das geringste zu ergeben. Wie die zwei über Nacht auf und davon gingen, so waren sie auch über Nacht gekommen. Nur die Einpassierungsliste des Wächters vom Südtor ergab Tag und Stunde der Ankunft des Paares; auch brachte man noch durch eine alte Frau den Geburtsort der Gundula Gankoffen heraus, die nach den Aussagen dieser Freundin in Tirol, dicht am Übergang zum Welschland geboren war. Von dort aber bekam man keine Antwort, so oft man auch hinschrieb; selbst eine Erkundigung bei der Wiener Geheimkanzlei blieb ohne Erfolg. Zuguterletzt stöberte ein österreichischer Aristokrat, der da unten ein halb verfallenes Schloß besaß, das Bild eines Landsknechts auf, das er dem Kurfürsten mit einem devoten Schreiben zur Verfügung stellte. Aber der meinte, das fördere ebensowenig wie alles Bisherige. Die Farben waren halb erloschen; man sah nur noch einen brutalen Mund, ein breites Kinn, darüber einen eisernen Helm, darunter ein rotes Wams. In die Höhe der Brustwarze war ein Name gemalt. Der hätte vielleicht einen Weg weisen können, wenn nicht die sehr kleinen Buchstaben zum Teil von der spröden Leinwand abgesprungen wären. Man konnte nämlich unmöglich feststellen, hieß der Mann Wannkoffen, Pannkaffen, Pannkoffen, noch weniger konnte man sagen, ob der Maler nicht selbst auf ähnlichen Ruf hörte und sich auf diese Weise verewigen wollte.

So stand man denn trotz jahrelanger Bemühung vor einer Mauer, die unüberwindlich erschien, da die einzigen, die vielleicht etwas besser Bescheid wußten, die Eltern des Max schon zu einer Zeit von einer bösen Seuche hinweggerafft wurden, da der Bub erst zwölf Jahre zählte. Der Rat wurde deshalb in so mancher Nacht von einem Alp gedrückt, der ihm die Möglichkeit vorzauberte, die ganze Herrlichkeit könnte, nachdem sie doch eigentlich auf einem Nichts beruhte, wieder ins Nichts zusammenbrechen. Er hatte seit seiner Beförderung für seine Bildung etwas getan und in guten Büchern geblättert. Da fand er in den Märchen von Tausend und Eine Nacht die lustige Geschichte von dem armen Schuster, den man für einen Tag zum Prinzen machte, fürstlich bewirtete und bediente, um ihn dann wieder auf die Straße zu feuern. Das schien dem zu schwindelnder Höhe Gelangten wie ein Gleichnis auf sein eigenes Geschick. Auch trat in solchen Augenblicken der vermeintliche Ahnherr, das Schurzfell um die Lenden, den Hammer in der Hand vor ihn hin, wie er seit kurzem in Stein gehauen aus einer Nische der Frauenkirche ragte. Der drohte ihm mit der Faust und rief mit der hohlen Stimme, mit der Gespenster sich vernehmen lassen, er werde verraten, daß die, die sich so brüsteten mit seinem Namen, nicht das geringste damit zu tun hätten. Fremdes, fahrendes Volk seien sie, was er verleugne. Ein großer, breitschultriger Mann mit mächtigem, wallendem Vollbart, mit hoher Stirne und klaren, schönen Augen stieß das hervor. Ihm zu Füßen sein Lebenswerk, das er wie ein Riese überragte, so sah ihn bei flackerndem Kerzenlicht, in einer durch die Jahrhunderte verkrüppelten Erscheinung, der zitternde Nachkomme, der Max, eine welsche Nase im Gesicht, eine auf beiden Seiten zusammengedrückte Stirne darüber, mit dunkeln Augen und ausgehendem Kopfhaar. Ein boshafter Mensch, ein Ratsschreiber, machte ihn einmal auf den bedeutenden Unterschied aufmerksam, und ein paar andere, die mit am Tische saßen, lachten dazu, so recht dreckig auf Schelmenart, wie man halt lacht, wenn man einen Pinscher sieht, der die Säbelbeine vom Dackel hat und ein entsprechendes Behäng dazu. Doch so oft der arme, gehänselte Rat auch mit schlotternden Knien in die gut geheizte Kanzlei der Residenz kam, Maximilian III. blieb ihm auch weiter gnädig, er machte ihn zum pragmatischen Beamten und starb, bitter beweint von seinem Volke, im Jahre 1777, ohne je wieder auf den Meister Jörg zurückgekommen zu sein. Freilich erlosch mit seinem Tode nicht nur die direkte Linie der Wittelsbacher, sondern auch die ausgiebige Unterstützung, die er den Gankoffens hatte zukommen lassen. Die boshaften Witze mehrten sich, der Erbauer der Frauenkirche trat wieder in den Hintergrund.

Mußte nun der Vater im Laufe der Jahre auch so mancherlei über sich ergehen lassen, ohne daß er in seiner unsicheren Art das geringste darauf erwidern konnte, dem heranwachsenden Sohne, dem Karl Albrecht, durfte keiner mit so einer Anspielung nahetreten. Der war aus stärkerem Holz geschnitzt und in anderen Ideen aufgewachsen. Er hatte es bereits als Kind mit wachsendem Stolze bemerkt, daß da und dort neugierige Blicke auf ihm ruhten, er nannte sich selbst gern einen Gankoffen und empfand es nun um so bitterer, daß bei der Menschheit allmählich der Nimbus schwand, der erst um seine Familie gezogen wurde. Leider war sein Aussehen von Haus aus nicht viel vorteilhafter als das des Vaters; im Gegenteil, die Brust schien noch enger, die Ohren noch weiter abstehend. Aber er verstand sich zu strecken und seine langen, gewellten Haare geschickt um die Kopfdefekte zu legen. Einen Vorsprung über seine Mitschüler hatte er schon dadurch, daß er alle um zwei Schuh überragte. Dazu kam ein ungewöhnlich sicheres, hellbraunes Auge, das keinen ausließ, der ihn anredete, mochte es der Prior des Franziskanerklosters sein, in dem er mit guter Bildung ausgerüstet wurde, oder jener ausgezeichnete Mann, der an ihm vollbrachte, was der Kurfürst an seinem Vater begonnen hatte: sein hoher Gönner, der Kanzler Matthias von Hanapl. In dessen mit seltenen Kunstschätzen angefülltem Hause durfte der junge Gankoffen jederzeit aus und ein gehen; er durfte die Originale des Frans Hals, des Claude Lorrain, des Watteau und der italienischen Meister bestaunen oder mit seinen schier endlosen Armen die in Schweinsleder gebundenen Folianten hinauflangen, die die Wände des Arbeitszimmers bedeckten. Manchmal durfte er mit dem Kanzler selbst in den stillen Stunden des Sonntags Gedankenaustausch pflegen.

Da ging freilich nicht immer alles in Harmonie aus. Der Herr von Hanapl war ein Mann, der wenig von der Schnüffelei hielt, die man in den verstaubten Grüften der Gankoffen zu veranstalten suchte. Er hielt sich an das Leben, nicht an die Toten, und gebrauchte nur deshalb keinen stärkeren Ausdruck über diese Marotte, weil sein hoher verstorbener Herr, den er Freund nennen durfte, der Kurfürst, ihr nun mal gehuldigt hatte. Einmal meinte er sogar, es sei ganz Wurst, woher man stamme, denn in der Welt käme es nicht darauf an, sondern auf das, was man leiste. Sein Vater sei, zum Beispiel, ein reicher Weinwirt gewesen, seine Mutter bloß eine Kellnerin; despektieren ließe er sie deshalb keineswegs, im Gegenteil, er halte ihr Andenken hoch und wolle keine Kronen auf ihre Särge kleben. Man solle überhaupt nicht soviel aufdrehen, soviel tüfteln. Daraus ergebe sich die allgemeine Liebedienerei und Streberei, die jetzt unter dem neuen Regimente wieder in Schwung kämen. Der junge Gankoffen sei ein netter, kluger Bursch, der's weit bringen könne, den er gern bei sich sehe, schon deshalb, weil ihm der unvergeßliche Kurfürst die Familie noch besonders empfohlen habe. Leider stecke zu viel Überschwenglichkeit in ihm, zu viel überspannte Phantasie. Drum besser die Augen weit aufreißen und Menschen und Dinge so sehen, wie sie wirklich seien, nicht so, wie sie nach den dünkelhaften Gehirnen verbohrter Stubengelehrter oder vertrackter Poeten sein sollten. Für ihn, den Kanzler, gab es keine Illusionen mehr auf der Welt. Er hatte in langem Dienste die Menschen gründlich kennen gelernt und sich draußen vor dem Schwabinger Tor sein schönes Haus erbaut, in das er nur die neuen Stücke hereinließ, die er seiner Sammlung einverleibte, oder den, der ihm gerade paßte. Jeden Werktag, Punkt zwölf Uhr und abends Punkt sechs Uhr wanderte er von seiner Kanzlei durch die Theatinerstraße dahin, indem er dabei gern vor sich hinredete wie ein Schauspieler, der einen Monolog hält. Jung und alt kannte und grüßte ihn. Er aber achtete kaum auf jemand, sondern murmelte und lachte halblaut dabei. Tauchte dann sein Garten in der Ferne auf, dann beschäftigte er sich bereits mit den Dingen, die darin vorgingen. Dabei musterte er jeden Käfer, der auf dem Boden herumkroch, oder warf einen Papierfetzen mit seinem langen Stocke zur Seite, der dort lag. Nette Ordnung. Zu Hause bei ihm mußte es anders sein. Da regierte seine Tochter, das Fräulein Sabine von Hanapl, eine der Großmutter nachgeratene, fast bäurische Erscheinung mit drallen Armen und Schenkeln, eine richtige zukünftige Stammutter, die jedes Mannsbild spielend unterbekommen mußte. Freilich war das auch wieder nicht das Rechte, denn die Männer sollten der Weiber Herr werden, meinte der Kanzler. Kein galantes Regiment durfte herrschen, weder im Hause noch im Staate, wie es unter dem Karl Theodor einriß und das ganze Land zu untergraben drohte.

So ging es in ihm fortwährend hoch und nieder von ausgesprochenen Ideen, bis der kleine, bewegliche Mann an seiner Gartentüre landete. Dort setzte er durch den Messinggriff einen ächzenden Draht in Bewegung. Dreimal nacheinander, damit man wußte, daß er es war und kein Bettler. Im selben Augenblicke hallte es von einer vor dem Hause angebrachten Glocke die ganze Gegend ab, als ob von einem Kirchturm die letzten Schläge des Aveläutens ertönten. Das Besitztum war nämlich tief einsam gelegen, als eins der allerletzten der Stadt. Nur schräg gegenüber und durch einen großen Garten nicht minder versteckt lugte noch eine Villa hervor, sonst aber zogen sich von hier die großen Wiesen hinab bis zum deutlich sichtbaren Nicolaikirchlein des Dorfes Schwabing. Befriedigt nickte der Kanzler zu den verschwimmenden Tönen, indem er ausschnaufend stehen blieb, bis die Magd öffnete. Dann trat er ein und schritt die schnurgerade, kiesbedeckte Linie auf sein stattliches Haus zu. Rechts und links wohlgepflegte Boskette unter alten, schattigen Bäumen. Dazwischen Marmorkapitäle, worauf man sich setzen konnte, wenn's einem nicht, wie der Rat gerne meinte, zu stark in das Sitzfleisch zog. Dann kam der in der Mitte des Weges gelegene kleine Springbrunnen, ein Büblein aus Bronze, das ein bißchen Wasser aus einer nimmer sich leerenden Schale in das moosüberzogene Bassin goß. Darauf wuchsen ein paar Seerosen, ein paar Goldfische trieben sich darin herum. Weit verschlungene Wege zogen sich von hier nach allen Seiten des Grundstücks, dessen eigentlichen Umfang das langgestreckte, einstöckige Haus mit seiner weiten Front und den angrenzenden Gebüschen verbarg. Man sah nur noch an überragenden Baumkuppeln sowie am unbegrenzt sich spannenden Firmamente, daß man dahinten noch weit promenieren konnte, ehe man durch die das Ganze umziehenden Eisengitter am Weitergehen verhindert wurde. Ein Verlangen nach Geborgenheit und Friede sprach aus der geschickten Anlage des ganzen Anwesens; es sprach noch viel deutlicher aus einer Aufschrift über der in geschnitzten Ornamenten gehaltenen Türe des ebenmäßigen Hauses mit den hohen Fenstern und den gerafften, weißen Vorhängen. Dort stand nämlich auf einer Marmortafel in goldenen Lettern und in unverfälschtem Dialekte die ganze Lebensauffassung des klugen Besitzers zu lesen, die sich in den höchst einfachen Worten aussprach. »Mei' Ruah möcht' i' hab'n.«

Auch über diese Inschrift sollte es zwischen dem jetzt zum Gerichtsreferendarius ernannten Karl Albrecht Gankoffen und dem Kanzler einmal einen ernsten Disput geben. Der junge Mann wagte es einzuwenden, daß er das zu wenig feierlich, nicht angemessen der weihevollen Stimmung des Ortes fände. Die tiefe Einsamkeit, das herrliche Buen retiro, die uralten Linden und Buchen sowie das unvergleichliche Haus verlangten nach größeren Tönen. Auch stimmten die prachtvollen Innenräume, die kostbaren Boulemöbel, die Gemälde und besonders die weitberühmte Weihnachtskrippe mit den lebensvoll geschnitzten Figuren im Vestibül nicht zu so derber Ausdrucksweise. Malte der bescheidene Bürger, der Käsehändler oder der Lebzelter so etwas auf eines der Häuschen, wie sie sich von der Isar zum Gasteig hinaufzogen oder vor dem Angertore breitmachten, dann mochte so eine Sprache ziemen, in dieser weltentrückten Großartigkeit aber sollte neben dem seltenen Manne ein seltener Schwung regieren. Oh, was gebe es alles für herrliche Disticha, für seltene Epigramme, die gerade über diese Türe paßten. Er wäre stolz darauf, dürfte er suchen helfen und in den Folianten nachschlagen. So redete er fort, vielleicht eine halbe Stunde lang, während er die Haare. die dabei fortwährend über die Stirne fielen, eilends zurückstrich.

Seltsamerweise sekundierte das Fräulein Sabine diesen Ideen, wie sie sich überhaupt in letzter Zeit sehr gern des öfteren mit dem Lockenkopf verbündete. Der Kanzler aber, der dieses Verhältnis gar nicht gerne sah, wurde auf solche Einwände sehr grob, sehr massiv, ja, er schrie seinen in Stein gemeißelten Wahlspruch verschiedene Male so entschieden durch das ganze Haus, daß die beiden die Frage nie wieder aufrollten, sondern sich im geheimen verständigten. Die Sprache der Überschrift wurde ihnen bei solch löblichem Tun bald zur Nebensache, die Sprache des Herzens, wie der junge Gankoffen sehr zierlich sich ausdrückte, zum alles beherrschenden Moment. Für die Köchin des Hauses war es komisch anzusehen, wie ihre Herrin, die sonst so derb dreinzufahren verstand, sich mit einem Male so gewählt ausdrückte und ihr früheres Altbayrisch in ein feines Hochdeutsch hinaufschraubte, das sie nur mit gespitztem Mündchen von sich gab. Vor dem Vater wagte sie das freilich nicht zu tun. Da redete sie, wenn sie mit ihm allein war, wie sonst. Kam aber der Karl Albrecht dazu, dann sauste sie wie eine Schaukel bald nach dieser, bald nach der andern Seite, um allen Parteien gerecht zu werden. Allerdings zum Verehrer hin etwas leiser, damit ihre wunderschöne Sprache nicht gar zu sehr auffiele.

Aus erklärlichen Gründen kam man bei diesen Zusammenkünften zu dreien nie mehr auf den, der sie, ohne selbst was dazu zu tun, ins Leben gerufen hatte. auf Jörg Gankoffen. Um so lebhafter wußte aber der Karl Albrecht von seinem Ahnherrn zu plaudern, wenn er mit Fräulein Sabine allein war. Er hatte mit den Jahren eine Art Chronik angelegt, die er dem Kanzler wohlweislich nicht zeigte, weil er in sie nicht weniger wie alles niederlegte, was er über seine Familie wußte und was er nicht wußte. Das eine bedeutete verflucht wenig, das andere erschloß einen unermeßlichen Born der Phantasie. Dieser wurde noch gesteigert, als der Herr Referendarius bei einem Zivilprozeß, wo er Protokoll führte, die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Aristokraten machte, eines Herrn von Pellegrini, der ihm als die beste Fundgrube für seine Absichten das schöne Land empfahl, dem er entstammte. Denn dort hätten die Landsknechte immer ihre ersprießliche Tätigkeit entfaltet, indem sie alles krumm und klein schlugen, was ihnen in den Weg trat. Der Kanzler warnte zwar, als er von dem Kavalier hörte. Das sei nichts weiter als ein Nachkomme jener Leute, die troßweise von den Prinzessinnen Savoyens, wenn sie sich mit bayerischen Kurfürsten vermählten, in Gestalt von Friseuren, Musikanten, Kammerdienern und weiß der Teufel was über die Alpen geschleppt wurden. Bestenfalls als Geheimsekretäre und Zeremonienmeister. Aber auch dann taugten sie nichts. Das Gesindel gehe nämlich nie mehr zurück, sondern niste sich ein, da naturgemäß in Bayern viel besser zu leben und der Bürger viel leichter über das Ohr zu hauen wäre als drunten im eigenen Land, wo jeder den anderen betrüge. Daher auch die vielen italienischen Namen, die man in Münchens Straßen auf den verschiedenen Firmenschildern anträfe. Allerdings, jetzt nannten sie sich Deutsche, aber trotz der Jahre, die darüber hinweggingen, blieben sie Fremde, denen man nicht über den Weg trauen dürfe.

Während der Kanzler das sagte, meinte Karl Albrecht im stillen, das ginge ihn eigentlich gar nichts an; er habe ja keine Geldgeschäfte mit dem Manne abzuschließen. sondern lasse sich nur von dem wunderbaren Lande vorschwärmen, in dem sein Vorfahre vermutlich gefochten hatte. Gleichzeitig machte er, da er noch nicht genügend Geld besaß. um selbst in das Gelobte Land zu reisen, einen dicken Strich unter seine bisherige Forschung. Er ging nicht mehr von Schwaben nach Welschland hinunter, sondern vom Welschland nach Schwaben herauf. Dabei ließ er sich von seiner neuen Bekanntschaft das Mögliche erklären, er dachte, Land und Leute durch sie zu studieren, um sowohl die Wesensart seiner Familie davon abzuleiten als auch selbst in den Spiegel zu schauen, in dem sie sich bewegt hatte. Aber er mußte leider die Entdeckung machen, daß bei dem ehemaligen Italiener Geographie und Historie bös durcheinander gerieten. Keine Jahreszahl saß, kein Ort hatte seinen Stützpunkt, und die Menschen schor er gleichmäßig über einen Kamm. Der da belehrt sein wollte, wußte selber viel mehr als sein Präzeptor. Nur eins konnte er lernen von dem sonderbaren Menschen mit den beweglichen Händen eines Taschenspielers: eine gewisse Leichtigkeit, die ihm bis jetzt noch fremd war. Der Herr von Pellegrini litt unter keiner allzu großen seelischen Belastung, wenn er was heraussprudelte, und dieses Beispiel ließ den Karl Albrecht so nach und nach die weiteren Entschlüsse fassen, ohne die das Werk nun mal nicht vorangehen konnte.

So biß er denn die Zähne übereinander und schrieb plötzlich energisch drauf los. Das Leben des Jörg tat sich da auf, vom kleinen Haus in Polling weg bis zum unbekannten Grab. Da war kein wichtiger Abschnitt vergessen, da wurde geschildert, wie der Knabe zum erstenmal zur heiligen Kommunion ging, wie er das Mörtelmischen lernte und Steine trug. Auch erfuhr man, wie er endlich selbst Meister wurde, und was er seinem hohen Auftraggeber, dem Herzog Sigismund in echt männlicher Haltung jedesmal vorbrachte, wenn der den Bau besichtigte. Auch die Frau wurde genannt, samt dem munteren Stieglitz, der in einem kleinen Käfig im efeuumrankten Wohnstübchen des glücklichen Paares über der buntbemalten Wiege des letzten Kindes prangte, während sechs andere pausbackige, blonde Sprößlinge fröhlich singend durch den Raum sprangen. Dieser sonnigen Heiterkeit konnte nur der Tod die Spitze bieten, der am selben Tage, wo die gewaltige Schöpfung fertig vor dem Herzog und vor dem Meister prangte, die Sense, die Sanduhr in der Hand, mit dem Glockenschlage zwölf aus dem großen Räderwerk der Kirche trat und den Jörg holte. Freilich, jetzt kam die große, gähnende Lücke bis zur Ankunft des Franz Gankoffen im Schwäbischen. Der einzige Anhaltspunkt, der noch vorhanden war, bot sich in dem Bilde des Wannkoffen, Pannkoffen, Pannkaffen, das man als gänzlich wertlos in einen Winkel der Residenz gestellt hatte. Und vor dem machte der Karl Albrecht, im verborgenen Aufblick zum übermütigen Lachen des Herrn von Pellegrini, den großen, entscheidenden Salto mortale. Er stempelte den wilden Gesellen im roten Wams endgültig zum Gankoffen, er zeugte den Landsknecht zum Sohne des Jörg um und ließ ihn vom König Franz I. von Frankreich feierlich anwerben. Der Tapfere focht bei Marignano in der vordersten Reihe, er warf den Connetable von Bourbon über die Alpen zurück, er wurde Feldhauptmann, er betete, plünderte, liebte und fiel nach einem solch bewegten Dasein in der furchtbaren Niederlage seines Herrn bei Pavia, am 24. Februar 1525, wo er von seinen Kameraden auf Lorbeerzweigen zu Grabe getragen wurde. Jetzt aber, wo er dort ruhte in der italienischen Erde, über die die lauen Lüfte hinweggingen, um Rosen auf das Grab zu wehen, gab es für den Nachkommen kein Halten mehr. Gleichzeitig mit der hochgeschwungenen Kielfeder raste die Kriegsfurie weiter über die Erde, und mit ihr stürmten die Gankoffens, wie sie sich da vermehrt hatten, als unerschrockene Kriegsgesellen in jene Religionskämpfe, die über Deutschland heraufzogen. Sie fochten gegen die aufständischen Bauern, gegen den Schmalkaldener Bund unter Karl V, im Jülich-Cleveschen Erbfolgestreit unter dem Jesuitenkaiser Rudolph II., sie kehrten wieder nach Bayern zurück und stellten sich mit der Liga aufs neue der Pestilenz der Häresie entgegen. Dort rieben sie sich als pflichttreue Nachfolger ihres großen Vorfahren, der auch nur durch den Glauben gelebt und geschaffen hatte, im heiligen Kampfe unter Tilly und dem Friedländer, unter Maximilian I. und Gallas in den Schlachten von Lützen, Nürnberg, von Breitenfeld, Donauwörth vollkommen auf, bis sich der letzte von ihnen todesmüd und schwer verwundet eines dämmernden Winterabends in das kleine Tiroler Dorf schleppte, das zerbrochene Schwert in der Hand, um das der Rosenkranz geschlungen war. Dort fand er Aufnahme in einem stillen Häuschen, unter einem von der scheidenden Sonne rot bestrahlten Gipfel und genas unter der Pflege des Mädchens, das ihn später heiratete, trotzdem er ein Krüppel blieb. Das Kind dieser Ehe war der Franz Gankoffen, der spätere Wagmeister von München, der Urgroßvater des Karl Albrecht.

Als der Urenkel nach monatelangem Schreiben und Brüten an diese Stelle kam, schnaufte er erleichtert auf. Jetzt war er durch, jetzt lag das Schwerste überwunden. Und der Herr von Pellegrini, der sich öfter nach dem Fortgang der Arbeit erkundigte, fletschte wieder sehr vergnügt die Zähne. Man müsse Mut haben auf der Welt, meinte er, noch besser gesagt, Frechheit; ohne die käme man zu nichts. Aber der Karl Albrecht machte ein sehr ernstes Gesicht und verwahrte sich feierlich gegen solch leichtfertige Auffassung seines Lebenswerkes. Für ihn wurde jeder Buchstabe, den er da hinsetzte, zum Evangelium, zum großen Glauben an seine Sache und an eine gewaltige Mission. Drum begnügte er sich nicht mit dem, was er geschaffen hatte, er blieb nicht stehen. Denn jetzt kam der leichtere Teil der Arbeit, jetzt hatte er Material in Hülle und Fülle. Gewiß, man durfte nicht mehr so sehr ins Schrankenlose gehen, da jedes Wort von Zeitgenossen kontrolliert werden konnte. Aber er hatte ja wirklich nichts geschrieben, was er nicht vertreten konnte. So versah er die Chronik auch weiter mit anmutigen Floskeln. Er schilderte seinen Vater, der kurz vorher in Amt und Würden dahingegangen war, er schilderte sich selbst mit einem zufriedenen Rückblick auf das Ganze und mit ergebenem Aufblick zu Gott, der alles so trefflich geführt habe. Selbst den Kanzler und das Fräulein Sabine vergaß er nicht. Er stellte den Herrn von Hanapl als seinen edlen Förderer neben den Kurfürsten, seine Tochter aber malte er aus, viel schöner als sie wirklich war, er schilderte sie, wie sie am Stickrahmen saß, den Blick nach dem verschwiegenen Park gewandt, sinnend und träumend. Das entsprach ihrer Art freilich ebensowenig, denn vom Sinnen und Träumen hatte die Jungfer schon gar nichts an sich. Der Karl Albrecht aber sah sie wirklich so am offenen Fenster, immer wartend und wartend, bis er als letzter Gankoffen den Weg heraufkam und in seligstem Entzücken ihr jauchzend beide Arme entgegenstreckte, in der linken Hand das samtene Barett, das er mit Vorliebe trug, in der rechten die eben vollendete Chronik seines Geschlechts. Ob sie es sein wollte, die da weiter hineinschriebe, um der alten Familie Glück und Zukunft zu verheißen, um ihr dauernden Jungbrunnen zu geben?

Das angebetete Mädchen ließ sich, wie man annehmen darf, nicht zweimal fragen. Sie las als erste das dicke Kompendium im geheimen durch, sie schluchzte aus tiefstem Herzensgrund bei der Lampe in einsamen Nächten über die schweren Leiden der tapferen Gankoffen und nicht zuletzt über die phantasievolle, fast dramatische Darstellung. Dann aber fiel sie dem Karl Albrecht mit ihrem vollen Gewichte an den Leib, indem sie ihre runden Arme so weit als möglich zu seinem Halse emporstreckte. Viel weniger erfreut war der Kanzler, als er die Bescherung vor sich sah. Er fluchte die Gankoffens einzeln durch, vom Jörg an bis zum Karl Albrecht, die echten samt den gedichteten, aber er mußte ja und amen knirschen, wollte er auch weiter seine Ruhe und nicht ein ewiges Geflenn im Hause haben. Brummend und Türen zuhauend tat er das. Selbst dann fand er sich nicht in die Neugestaltung aller Verhältnisse, als die Stadt die Leistung ihres jungen Mitbürgers mit dem Stolze neugeweckten Ehrgeizes begrüßte. Die Münchner hatten es von jeher gern, wenn ihnen geschmeichelt und das rauhe Leben in rosiger Beleuchtung gezeigt wurde. Deshalb fragten sie nicht lange, was da wahr oder erdichtet wäre, sondern nahmen das Buch, wie der Verfasser in seiner Vorrede es ausdrücklich verlangte, als die traumhafte Ergänzung dessen, was der Erbauer ihrer Frauenkirche gesät und geahnt hatte. Denn nicht die nackten Tatsachen seien immer das Wahre, sondern wahr sei einzig, was eben nur so und nicht anders sein könne. Der Kanzler meinte, auch das sei lauter Unsinn, denn es sei eben überhaupt nichts wahr an der Geschichte. Aber ein paar Jahre später hätte er das kaum mehr öffentlich aussprechen dürfen. Denn je mehr die Zeit verstrich, um so erwiesener nahm man an, was da in hoher Poesie und in einem Deutsch dargestellt wurde, das die Zeitgenossen sehr gut fanden. Das Buch wurde in kostbarem Einband dem Reichsarchiv einverleibt, und um jedem Zweifler die Zunge zu binden, machte man den Karl Albrecht Gankoffen zum Direktor dieses Instituts.

Da herrschte er nun, ein in jungen Jahren hochangesehener Mann, und schrieb bald in seiner Kanzlei, bald zu Hause vor dem Schwabinger Tore an der Fortsetzung der Chronik. Erst registrierte er die gesunden Kinder, die ihm Frau Sabine der Reihe nach schenkte, jedes in seiner Art und seinem Aussehen, wobei er nicht verfehlte, Ähnlichkeiten mit den Vorfahren aufzustöbern. Dann kam der Geist der Zeit, die Politik daran, der Einzug Max Josephs, dem er als einer der ersten Männer der Stadt neben dem Adel auf jener Tribüne beiwohnen durfte, auf deren Bretterboden die Residenzbäckin bescheidenen Unterschlupf suchte. Er sah damals die treffliche Frau mit ihrem gelehrigen Enkel sehr wohl und hätte sie, wäre ihm nur ein Schritt nach vorn oder nach rückwärts möglich gewesen, gern die paar Stufen heraufgeholt. Denn, so weit er's auch gebracht hatte, sein Stolz blieb, ein Bürger zu sein. Den Tag, wo er die Urkunde bekam, die ihm diese Eigenschaft verbriefte, nannte er den schönsten seines Lebens. Und als sein Schwiegervater einwandte, das Bürgerrecht könne jeder erwerben, der das nötige Geld besitze und keinen Raubmord begangen habe, verneinte er heftig. Er wolle der Stadt etwas sein, er wünsche mitzureden bei allen öffentlichen Angelegenheiten, mochten sie hoch oder nieder angehen. Das sei aber nur möglich, wenn ihm in allen Ehren das Recht dazu verliehen wurde. Darum zähle auch kein schnöder Mammon mit, der überhaupt nur äußere Form bedeute, kein guter Name, der beim religiösen Menschen selbstverständlich sei, sondern ein höheres Moment. Dasselbe schrieb er in sein Tagebuch, das von der Chronik der Gankoffens mählich zu einer Geschichte der Stadt und des Landes wurde. Freilich geschah nach dem Regierungsantritt des Max Joseph manches, worüber der Karl Albrecht Gankoffen oft ratlos vor dem weißen Papiere saß und am Federkiel kaute. Das waren Augenblicke, wo er oft nicht wußte, ob er überhaupt weiterschreiben sollte, denn in dieser Zeit schien die Welt ihren Kreislauf verändert zu haben. Alles stand Kopf, niemand wußte wo aus und wo an, am letzten die Regierenden. Zum erstenmal wurde einem Protestanten der Stadt die Heimatsberechtigung verliehen, einem Lutherischen, wie das Volk sagte, dessen Vorfahren sich nicht gesträubt hatten, die vor der Wittenberger Kirche angeschlagenen Satansthesen als neue Evangelien anzuerkennen. Nicht genug damit, Graf Montgelas, der Illuminat, der allmächtige Minister, sequestrierte die Klöster, und eines Morgens fand der Reichsarchivdirektor auf seinem Tische zwei Pamphlete, die ihm von unbekannter Hand zugesandt waren: das »neue baierische Vater Unser« und den »neuen baierischen Glauben«. Das erstere lautete.

»Vater unser, der du bist Napoleon, gepriesen werde dein Name, zukomme uns einen Teil von Oesterreich, dein Will geschehe wie in Frankreich also auch in Baiern, gieb uns den Frieden, und vergieb uns unsre Schulden von 1799, so auch wird vergeben unsern Schuldigern, und führe uns nicht in alte Versuchung, sondern erlöse uns von allen Oesterreichern Amen. Gegrüßt seiest du Josepha! du bist voll der Gnaden, der große Napoleon ist mit dir, du bist groß unter den Weibern, und Wohltun ist die Frucht deiner Taten, gute vielgeliebte Mutter der Armee! bitt für uns Baiern, jetzt, und zu jeder Stunde, um den Schutz Frankreichs. Amen.«

Das zweite: »Ich glaube an den Kaiser Napoleon, mächtigen Schöpfer der Republiken und Königreiche, an Maximilian Joseph seinen eingeborenen Sohn unsern HErrn, der empfangen ist von der heiligen Vorsehung, geboren aus dem 18ten Jahrhundert, dem Erlauchten, gelitten unter Franz dem Zweiten, gekreuziget, doch nicht gestorben, und begraben, abgestiegen zu den Franken, am 12ten Oktober wieder auferstanden von der Todesangst, aufgefahren nach München, sitzend zur rechten Hand Napoleons, des mächtigen Vaters; von dannen er kommen wird zu richten die Getreuen, und Heuchler, eine einzige allgemeine Versammlung, Gemeinschaft Europens Potentaten, Ablaß der österreichischen Schulden durch Bezahlung, Auferstehung des baierischen National-Ruhmes, und ein friedliches Leben. Amen.«

Was tun? Karl Albrecht Gankoffen war ein zu guter Katholik, ein zu großer Freund Osterreichs, als daß er sofort eine Antwort finden konnte. Selbst der gewiß nicht verlegene Herr von Pellegrini hätte vielleicht über solche Ereignisse nicht den berühmten Salto mortale machen können. Diesen Herrn konnte man übrigens nicht mehr um Rat fragen. Er war unverschämt geworden, er wollte eine Art Quittung für seine Dienste präsentieren, ja er scheute sich nicht, auszusprechen, daß er staune, wie trefflich sein Freund das Land der Kastanien und Orangen kenne, ohne es je gesehen zu haben. Der Karl Albrecht mußte also mit sich allein fertig werden, um so mehr, als der klügste Mann, den er manchmal vorsichtig aushorchte, sein Schwiegervater eines Mittags, da er gerade ein volles Glas in der Hand hielt und sich herzlich über die große Verwirrung in allen Köpfen amüsierte, glückselig starb, wie er glückselig gelebt hatte. Eine böse Zeit! Frau Sabine jammerte, die Kinder weinten, der Nachkomme des großen Jörg aber sah mit immer größerer Besorgnis in die Zukunft. Über den neuen Herrn und König hatte er nicht zu klagen; der war ihm so huldvoll gesinnt wie Max III. seinem Vater; er lud ihn alle Jahre einmal zur Tafel, nur erlaubte er ihm kein schüchternes Wort des Einwands, sondern wurde sackgrob, wenn gewisse Gesprächsstoffe nur leicht gestreift wurden. Es hieß also warten, in Geduld sich fügen, es hieß wie bei der Chronik, vom Jörg bis zum schwäbischen Städtchen das große, entsprechende Füllsel finden, mit dem man zu schöneren Zeiten weiterknüpfen konnte. Denn daß es nicht immer so bleiben würde, das stand für den poetisch gestimmten Bürger fest. Ein Fanatiker hätte protestiert, öffentlich oder im geheimen; Karl Albrecht war klüger. Er ging dem Kampf aus dem Wege und malte mit seiner Feder die neue Königstadt. Malte den buschigen Kranz der reichen Gärten, die sich zu jener Zeit um den rasierten Festungsgürtel der Stadt zogen, malte die Häuschen und Villen, die darin prächtig versteckt lagen wie seines vor dem Schwabinger Tore. Da sah er in jedes gar tief hinein, schilderte die Familien, die sie bewohnten, schilderte ihre Vorfahren. Dann stöberte er die Architekten auf, er widmete ein Kapitel den Malern, die die Stadt im Bilde festhielten. Schließlich aber schritt er weit hinaus über die Höhen des Gasteigs nach Neuberghausen, indem er herabsah auf das aufblühende München mit seinen Türmen und Dächern. Und da erfüllte es ihn wieder mit Stolz, daß die Frauenkirche halt doch das Höchste von allem war, an das nichts anderes herankonnte. Aber nicht zufrieden damit, streckte er seine Arme aus über die umliegenden Orte und Städte, über das ganze wellige Land der oberbayerischen Hochebene bis zur Donauniederung, immer sichtend und alles in jene Farben tauchend, die aus der Chronik der Gankoffen leuchteten. Die Isar, die wilde Tochter der Berge, wie er sie nannte, diente ihm dabei als Leitfaden von ihrer Wiege im Karwendel bis zu ihrer Mündung. Von ihren plätschernden Wellen ließ er sich treiben und alles erzählen, wie er sich er sich im ersten Teile der Chronik vom Herrn von Pellegrini, oder nein, vom Wannkoffen, Pannkoffen, Pannkaffen zu den Landsknechten des Königs Franz nach Italien geschwungen hatte. Eine reich gesegnete Arbeit, an Schlössern, Gehöften, an Kirchen und Klöstern vorüberführend, bald hinabweisend in finstere Kellergewölbe mit verfallenden Inschriften und Grabsteinen, bald emporleuchtend in glänzende Sakristeien mit goldenen Kelchen und Meßgewändern. Wochen- und monatelang dauerten oft die Reisen, die ihn dabei über das ganze Land führten. Der liebe Gott im Himmel schien ihm vom reinen Äther zuzunicken, und freundliche Wirte und Wirtinnen kredenzten vor ihren schönen Häusern neben einer alten Buche oder Linde auf sauberem Teller dem gelben Postwagen mit dem weiß- und blaugekleideten Schwager, der das Horn blies, ein Glas guten Tirolers. In der Ferne aber, die abgemähten Wiesen hinauf, zogen unter lautem Beten und Singen die Dankesprozessionen für die letzte, gute Ernte. Biederkeit, Frohsinn und Frömmigkeit, wohin man nur blickte. Den Gankoffen überkam jene Rührung, die ihn so leicht packte, wenn er nur eine Glocke schlagen hörte, einen Vogel durch die Luft ziehen sah oder einem Bauern die Hand drückte. So ein Land könne nicht untergehen, meinte er, und er behielt recht. Als er wieder einmal. im Jahre 1825, von Niederbayern zurückkam, sagte man ihm, daß der Kronprinz Ludwig das Erbe des zwar herzensguten, aber zu freigeistigen Vaters angetreten habe. Karl Albrecht Gankoffen atmete leichter. Nun wichen die bangen Tage, und es kamen so schöne, wie man sie im Bayerland kaum mehr zu hoffen wagte. Der neue Monarch zeichnete sofort nach seinem Regierungsantritt den Nachkommen des großen Jörg, der nun als ein höchst gesetzter und wohlüberlegter Mann von imponierender Würde einherschritt, mit besonderer Wärme aus. Er war der Kunst zugetan, er riß das Schwabinger Tor nieder und legte die neue Ludwigstraße an, die sich hinauszog fast bis Gankoffens Garten, er renkte das politische Leben Bayerns wieder in bewährte Bahnen der Disziplin und der Kirche. Ängstlich bedacht auf Tradition, ängstlich bedacht, daß nichts außerhalb des Landes käme, sondern hübsch innerhalb der weißblauen Pfähle verbliebe.

So standen die Dinge, als der einfache Bürger, der Joseph Luegecker, es wagte, klopfenden Herzens an jene Türe zu treten, über die auf einer Marmortafel mit goldenen Lettern seit einigen Jahren die vielsagenden Worte prangten. »Mein Elysium. Gott geweiht und den Musen.«


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