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Laßt uns den Menschen stets gegen unvorhergesehene Unfälle waffnen. In jeder Jahreszeit darf Emil mit bloßen Füßen im Zimmer, die Treppe herab und im Garten umher laufen. Statt darüber zu zürnen, werde ich seinem Beispiele folgen; ich werde lediglich dafür Sorge tragen, alles Glas aus dem Wege schaffen zu lassen. Die Arbeiten und Spiele, zu deren Ausführung wir uns der Hände bedienen müssen, werde ich ebenfalls bald besprechen. Uebrigens soll er seine Füße in allen Bewegungen üben, die der körperlichen Ausbildung förderlich sind und sich in allen Stellungen eine leichte und sichere Haltung zu erwerben suchen; er soll lernen weit und hoch springen, auf einen Baum klettern, über eine Mauer steigen und dabei stets das Gleichgewicht bewahren. Alle seine Bewegungen und Geberden sollen nach den Gesetzen der Schwerkraft schon lange zuvor geregelt sein, ehe die Statik sich einmischt, sie ihm zu erklären. Aus der Art, wie sein Fuß auftritt und wie sein Körper auf den Beinen ruht, muß er merken, ob seine Haltung gut oder schlecht ist. In einer sicheren Haltung liegt stets eine gewisse Anmuth, und in der festesten drückt sich auch stets die größte Feinheit aus. Wäre ich Tanzlehrer, so würde ich die äffischen Kunststücke des Marcel, Ein berühmter Tanzlehrer zu Paris, welcher, da er seine Leute sehr gut kannte, sich in seiner Kunst aus Schlauheit wie ein Ueberspannter geberdete und ihr eine Wichtigkeit beilegte, die man vorgeblich lächerlich fand, trotzdem man ihm gerade wegen derselben in Wahrheit die höchste Ehrfurcht bewies. In einer anderen nicht minder frivolen Kunst sieht man noch heute einen gewöhnlichen Marktschreier in der Rolle eines einflußreichen Mannes und zugleich Narren erscheinen, und ebenfalls mit nicht geringerem Erfolge. In Frankreich wird diese Methode stets sichere Erfolgs erzielen. Das wahre, und deshalb anspruchslosere und weniger aufschneiderische Talent macht dort kein Glück. Die Bescheidenheit ist daselbst die Tugend der Dummköpfe. die nur für das Land, in welchem er sie zum Besten gibt, gut sein mögen, gewiß nicht machen lassen, sondern ich würde meinen Zögling, anstatt ihn mit Luftsprüngen zu beschäftigen, an den Fuß eines Felsens führen. Hier würde ich ihm zeigen, welche Stellung er nehmen, wie er Körper und Kopf halten, welche Bewegung er machen, in welcher Weise er sich bald des Fußes, bald der Hand bedienen müsse, um ohne Mühe einen schroffen, unebenen und rauhen Pfad verfolgen und beim Hinauf- und Hinabsteigen stufenweise vorwärts kommen zu können. Lieber will ich ihn mit einer Gemse als mit einem Ballettänzer wetteifern lassen.
Während das Gefühl seine Thätigkeit auf die nächste Umgebung des Menschen concentrirt, dehnt das Gesicht die seinige nach außen hin aus; darin liegt eben die Ursache, daß wir durch dasselbe so oft getäuscht werden. Mit einem einzigen Blicke umfaßt der Mensch die Hälfte seines Gesichtskreises. Wie sollte er sich nun unter dieser Menge gleichzeitiger Eindrücke und der Urtheile, die sich auf diese gründen, in keinem einzigen irren? Deshalb können wir uns auf das Gesicht unter allen unsren Sinnen am wenigsten verlassen, gerade weil es am meisten in die Ferne gerichtet ist, und weil seine Thätigkeit, die der aller übrigen Sinne weit vorauseilt, zu schnell und zu ausgedehnt ist, um durch dieselben berichtigt werden zu können. Ja noch mehr, die perspektivischen Täuschungen sind uns sogar nothwendig, um den Raum beurtheilen und seine Theile unter einander vergleichen zu können. Würden sich die erblickten Gegenstände unserem Auge nicht so falsch darstellen, so vermöchten wir in der Entfernung nichts zu unterscheiden. Ohne die Abstufungen hinsichtlich der Größe und Beleuchtung könnten wir gar keine Entfernung abschätzen, oder würde es vielmehr gar keine für uns geben. Wenn uns von zwei gleichen Bäumen derjenige, welcher hundert Schritt von uns entfernt ist, eben so groß und deutlich wie der nur zehn Schritt entfernte erschiene, so würde die Vorstellung in uns erweckt werden, sie stünden unmittelbar neben einander. Wenn wir alle Dimensionen der Gegenstände in ihrer wirklichen Größe erblickten, so würden wir keinen Raum unterscheiden, und Alles müßte uns so erscheinen, als ob es sich unmittelbar auf unserem Auge befände.
Der Sinn des Gesichts hat zur Beurteilung der Größe der Gegenstände und ihrer Entfernung nur ein einziges Maß, nämlich den Winkel, welchen sie in unserem Auge bilden; und da dieser die einfache Wirkung einer zusammengesetzten Ursache ist, so läßt das Urtheil, welches er hervorruft, jede besondere Ursache unbestimmt oder wird nothwendiger Weise unrichtig. Denn wie soll ich durch das bloße Sehen unterscheiden, ob der Winkel, unter welchem ich einen Gegenstand kleiner als einen anderen erblicke, seine Entstehung der größeren Kleinheit oder der größeren Entfernung desselben zu verdanken hat?
Deshalb muß man hier einer der vorigen entgegengesetzten Methode folgen; anstatt den Eindruck des Gesichtes zu vereinfachen, muß man ihn verdoppeln, ihn beständig durch einen anderen berichtigen, muß das Organ des Gesichtes dem Organe des Gefühls unterwerfen und die Heftigkeit des ersteren durch den schwerfälligen und geregelten Gang des letzteren gleichsam zurückhalten. Lassen wir dieses Verfahren außer Acht, so bleiben unsere Abschätzungen vermittelst des Auges sehr ungenau. Es fehlt unserem Blicke an Genauigkeit und Sicherheit, die Höhen und Tiefen, Längen und Entfernungen richtig zu beurtheilen. Zum Beweise jedoch, daß nicht sowol der Sinn selbst als vielmehr seine Verwendung die Schuld trägt, braucht man nur auf die Erfahrung hinzuweisen, daß die Ingenieure, Feldmesser, Architekten, Maurer, Maler im Allgemeinen einen sichreren Blick als wir haben und die Größe des Raumes richtiger abschätzen. Weil ihnen ihr Geschäft eine Erfahrung gibt, die wir uns leider zu erwerben verschmähen, so hat für sie der Sehwinkel durch die ihn begleitenden Erscheinungen, welche in ihren Augen das Verhältniß der beiden Ursachen dieses Winkels genauer bestimmen, durchaus keine Zweideutigkeit mehr.
Alles, was dem Körper Bewegung verschafft, ohne ihn Zwang anzuthun, ist von den Kindern leicht zu erhalten. Es gibt tausenderlei Mittel, um ihnen für das Messen und die Distanzenschätzung Interesse einzuflößen. Hier steht ein sehr hoher Kirschbaum; wie sollen wir es anstellen, um Kirschen abzupflücken? Sollte wol jene Leiter an der Scheune groß genug sein? Da ist ein sehr breiter Bach; wie werden wir hinüber kommen? Sollte vielleicht eines der Breter auf dem Hofe von einem Ufer bis zum andern reichen? Wir haben Lust von unseren Fenstern aus im Schloßgraben zu angeln; wie viel Faden muß unsere Schnur lang sein? Ich möchte zwischen diesen beiden Bäumen eine Schaukel anbringen; wird ein Seil von zwei Klaftern ausreichen? Man erzählt mir, daß in dem anderen Hause unser Zimmer fünfundzwanzig Fuß im Quadrat enthalten wird; glaubst du, das es für uns passen werde? Wird es größer sein als unser jetziges? Wir haben großen Hunger; da sehen wir zwei Dörfer. Welches werden wir zuerst erreichen können, um daselbst unsern Hunger zu stillen? U.s.w.
Es war mir einmal die Aufgabe gestellt, ein träges und faules Kind im Laufen zu üben, welches von selbst weder zu dieser noch zu irgend einer andren Körperbewegung Neigung hatte, obgleich man es für den Soldatenstand bestimmt hatte. Es hatte sich einmal, ich weiß nicht aus welchem Grunde, die fixe Idee in ihm festgesetzt, daß ein Mensch seines Ranges nichts zu thun noch zu wissen brauchte, und daß ihm sein Adel Arme und Beine, so wie jede Art von Verdienst vertreten müßte. Um aus einem solchen Junker einen schnellfüßigen Achill zu machen, dazu würde selbst Chiron's Geschicklichkeit schwerlich hingereicht haben. Die Schwierigkeit war um so größer, da ich ihm durchaus keinen Befehl ertheilen wollte. Ich hatte auf Erziehungsmittel, als da sind Ermahnungen, Versprechen, Drohungen, Wetteifer, den Wunsch zu glänzen und ähnliche, zu denen ich allerdings berechtigt war, ein für alle Mal verzichtet. Wie konnte ich nun demselben, ohne ihm etwas zu sagen, Lust zum Laufen machen? Selbst zu laufen wäre, von der damit verbundenen Unannehmlichkeit ganz abgesehen, ein wenig Erfolg verheißendes Mittel gewesen. Außerdem kam es auch noch darauf an, diese Uebung zugleich als Lehrmittel zu benutzen, damit sich die Thätigkeit der Urteilskraft daran gewöhnte, mit der des Körpers Hand in Hand zu gehen. Ich will erzählen, wie ich es angestellt habe; ich, d.h. derjenige, welcher in diesem Beispiele das Wort ergreift.
Wenn ich meinen nachmittäglichen Spaziergang mit ihm antrat, steckte ich bisweilen zwei Kuchen von der Sorte, welche er am liebsten aß, in die Tasche; auf dem Spaziergange Einem ländlichen Spaziergange, wie man sogleich sehen wird. Die öffentlichen Promenaden in den Städten sind für die Kinder beiderlei Geschlechts gefährlich. Hier bildet sich in ihnen der Keim zur Eitelkeit und die Sucht, sich bemerkbar zu machen. Im Luxembourg, in den Tuilerien, vorzüglich aber im Palais royal gewöhnt sich die Pariser Jugend jenes unverschämte und läppische Wesen an, welches sie dem Gelächter Preis gibt und dem Spotte und der Verachtung von ganz Europa aussetzt. aß jeder von uns einen und recht zufrieden und vergnügt kehrten wir nach Hause zurück. Eines Tages bemerkte er, daß ich drei Kuchen bei mir hatte. Er hätte sechs essen können, ohne sich den Magen zu verderben; schnell verzehrte er den seinigen, um sich den dritten zu erbitten. »Nein,« sagte ich zu ihm, »ich hätte Lust ihn selbst zu essen, oder ihn mit dir zu theilen; aber ich verspreche mir noch mehr Vergnügen davon, einen Wettlauf zwischen diesen beiden kleinen Knaben hier um denselben anzusehen.« Ich rief sie, zeigte ihnen den Kuchen und erklärte ihnen, unter welcher Bedingung ihn einer von ihnen erhalten sollte. Das hieß ihren Wünschen entgegenkommen. Der Kuchen wurde auf einen großen Stein, welcher das Ziel vorstellte, gelegt; die Rennbahn wurde bestimmt; wir setzten uns. Auf ein gegebenes Zeichen rannten die Knaben ab. Der Sieger erbeutete den Kuchen und aß ihn vor den Augen der Zuschauer und des Besiegten ohne Gnade auf.
Dies Vergnügen war mehr werth als der Kuchen; aber Anfangs hatte es keinen durchschlagenden Erfolg und brachte keine Wirkung hervor. Allein deshalb verlor ich weder die Hoffnung noch ließ ich mich zu überstürzender Eile verführen. Erziehung der Kinder ist ein Geschäft, bei dem man verstehen muß, Zeit zu verlieren, um solche zu gewinnen. Wir setzten unsere Spaziergänge fort; oft nahm ich drei, mitunter auch vier Kuchen mit, und von Zeit zu Zeit wurde davon einer, auch wol zwei für die Läufer bestimmt. War der Preis auch nicht groß, so waren dafür auch die, welche um denselben kämpften, nicht ehrgeizig; wer ihn indeß davontrug, wurde gelobt und gefeiert; Alles ging dabei sehr festlich zu. Um es nicht an Abwechselung fehlen zu lassen und das Interesse zu erhöhen, steckte ich eine längere Rennbahn ab und gestattete, daß mehr Bewerber an dem Rennen Theil nahmen. Kaum waren sie am Ablaufspunkt angetreten, so blieben dann alle Vorübergehenden stehen, um zuzuschauen. Der Beifall, den dieselben spendeten, ihre lauten Zurufe, ihr Händeklatschen feuerten die Läufer an. Zuweilen sah ich jetzt schon, wie mein Jünkerlein vor Aufregung zitterte, sich erhob und aufschrie, wenn einer im Begriff stand den anderen einzuholen oder gar hinter sich zu lassen; für ihn waren es olympische Spiele.
Indeß wendeten die Wettläufer zuweilen auch kleine Kriegslisten an; sie hielten sich gegenseitig fest, oder warfen einander zu Boden, oder schleuderten sich einander Steine in den Weg. Dies gab nur Veranlassung, sie zu trennen und von verschiedenen, jedoch vom Ziele stets gleich weit entfernten Punkten aus laufen zu lassen. Man wird sogleich den Grund dieser Vorsicht begreifen; denn ich muß diese wichtige Angelegenheit bis auf die kleinsten Nebenumstände erörtern.
Verdrießlich, vor seinen eigenen Augen regelmäßig Kuchen verzehren zu sehen, auf deren Genuß er selbst lüstern war, merkte der Herr Junker doch endlich, daß auch das Schnelllaufen Vortheil bringen könnte, und da er gewahrte, daß es ihm ebenfalls nicht an zwei Beinen fehlte, begann er sich heimlich im Laufen zu üben. Ich hütete mich natürlich, ihm zu erkennen zu geben, daß ich es bemerkte; aber ich gewann daraus schon die Ueberzeugung, daß meine Kriegslist gelungen war. Als er sich für hinreichend geübt hielt (und ich las seinen Entschluß in seinen Gedanken, noch ehe er sich desselben ganz klar geworden war), stellte er sich, als ob er mir den letzten Kuchen abquälen wollte. Ich weigere mich; er besteht darauf und sagt endlich mit unwilliger Miene zu mir: »Nun gut! Legen Sie ihn auf den Stein, stecken Sie die Rennbahn ab, und dann werden wir ja sehen!« – »Gut!« erwidere ich lächelnd, »kann denn aber ein Junker auch laufen? Du wirst dir dadurch nur größeren Appetit verschaffen, aber nichts erhalten, denselben zu stillen.« Durch meine spöttische Bemerkung nur noch mehr gereizt, strengt er sich auf das Aeußerste an und trägt den Preis um so leichter davon, da ich nur eine sehr kurze Bahn gewählt und den besten Läufer absichtlich ausgeschlossen hatte. Man wird begreifen, daß es mir, nachdem er einmal diesen ersten Schritt gethan hatte, leicht wurde, ihn in Athem zu erhalten. Bald fand er an dieser Uebung einen solchen Geschmack, daß er, ohne daß ich ihm eine besondere Begünstigung zu Theil werden ließ, fast sicher war, meine Straßenjungen im Laufen zu besiegen, wie lang auch immer die Bahn sein mochte.
Der Vortheil, den ich auf diese Weise erreicht hatte, war noch mit einem anderen verknüpft, den ich keineswegs vorausgesehen hatte. So lange er den Preis nur selten davontrug, aß er den Kuchen fast stets allein, wie es seine Mitbewerber machten. Als er sich jedoch an den Sieg gewöhnte, wurde er großmüthig und theilte oft mit den Besiegten. Dies war für mich eine wichtige moralische Beobachtung, und ich lernte hieraus das wahre Princip der Großmuth kennen.
Indem ich fortfuhr, mit ihm an verschiedenen Stellen die Punkte zu bestimmen, von denen gleichzeitig ausgelaufen werden sollte, machte ich, ohne daß er etwas merkte, die Entfernungen ungleich, so daß der Eine, welcher, um das Ziel zu erreichen, eine größere Strecke als der Andere zu durchlaufen hatte, augenscheinlich benachteiligt war. Obgleich ich indeß meinem Zögling die Wahl überließ, verstand er doch keinen Nutzen daraus zu ziehen. Ohne sich um die Entfernung zu kümmern, zog er regelmäßig den besten Weg vor, so daß ich, da seine Wahl leicht vorauszusehen war, es so ziemlich in meiner Hand hatte, ihn ganz nach meinem Belieben den Kuchen verlieren oder gewinnen zu lassen, und dieser Umstand war ebenfalls in mehr als einer Hinsicht nützlich. Da es indeß in meiner Absicht lag, daß ihm die Ungleichheit auffiele, so bemühte ich mich, sie ihm recht bemerklich zu machen. Obgleich er nun im Allgemeinen bequem und träge war, so war er doch bei seinen Spielen so lebhaft und hegte so wenig Mißtrauen gegen mich, daß ich die größte Mühe hatte, es so einzurichten, daß er meinen Betrug merken mußte. Trotz seines Leichtsinnes erreichte ich doch endlich meinen Zweck. Nun machte er mir Vorwürfe. Ich versetzte jedoch: »Worüber beklagst du dich? Darf ich etwa bei einem Geschenke, welches ich machen will, nicht die Bedingungen bestimmen, unter welchen allein der Empfänger es erhält? Wer zwingt dich denn zur Theilnahme am Wettlaufe? Habe ich dir versprochen, gleiche Bahnen zu machen? Hast du nicht die Wahl? Suche dir also die kürzeste aus, Niemand wird dich daran hindern. Wie ist es nur möglich, dich gegen die Einsicht zu verschließen, daß ich dich dadurch gerade begünstige, und daß die Ungleichheit, über welche du Beschwerde führst, völlig zu deinem Vortheile ausschlägt, wenn du nur sie dir zu Nutzen zu machen verstehst.« Das war deutlich; er begriff es vollkommen; um indeß richtig zu wählen, mußte er sich die Sache genauer ansehen. Zuerst wollte er die Schritte zählen, allein mit den Schritten eines Kindes läßt sich nur langsam und noch dazu unrichtig messen. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, die Zahl der täglichen Wettläufe zu vermehren, und sollte nun etwa dadurch das Vergnügen einen leidenschaftlichen Charakter annehmen, so mußte man die zum Laufen bestimmte Zeit ungern mit dem Abmessen der Rennbahnen verlieren. In ein so langsames Verfahren vermag sich die Lebhaftigkeit der Kindheit nur schwer zu finden. Er übte sich deshalb, besser zu sehen und eine Entfernung nach dem Augenmaße richtiger abzuschätzen. Seitdem hatte ich wenig Mühe, diese Neigung zu erhöhen und zu nähren. Einige Monate reichten hin, um durch fortwährende Versuche und durch stete Verbesserung der Irrthümer das Augenmaß bei ihm dergestalt auszubilden, daß, wenn ich einen Kuchen für ihn absichtlich auf einen etwas entfernten Gegenstand legte, sein Blick fast eben so sicher war als die Kette eines Feldmessers.
Da das Gesicht unter allen Sinnen derjenige ist, von dem man das Urtheil des Verstandes am wenigsten trennen kann, so gehört viel Zeit dazu, um richtig sehen zu lernen. Wir müssen die Eindrücke des Gesichtssinnes lange mit denen des Gefühls verglichen haben, um den ersten dieser beiden Sinne daran zu gewöhnen, uns einen treuen Bericht über die Gestalten und Entfernungen abzustatten. Ohne das Gefühl, ohne die fortschreitende Bewegung vermöchten uns auch die schärfsten Augen von der Welt keine Idee vom Raume beizubringen. Für eine Auster muß das ganze Weltall nur ein Punkt sein, und es würde derselben auch nicht anders erscheinen, selbst wenn eine menschliche Seele sie unterrichtete. Nur durch Gehen, Tasten, Zählen, Messen lernt man die Ausdehnungen schätzen; aber wenn man auch beständig Messungen vornähme, so würde doch der Sinn, falls er sich nur auf das Instrument verließe, sich keine Sicherheit und Genauigkeit erwerben. Das Kind muß auch nicht sofort vom Messen zum Abschätzen übergehen; zum Anfange muß es, während es fortfährt das, was es nicht im Ganzen zu vergleichen vermag, theilweise zu vergleichen, an die Stelle der Theile, welche es durch Messung erhalten hat, solche setzen, welche ein Ergebniß seiner Abschätzung sind, und sich, anstatt das Maß immer mit der Hand anzulegen, daran gewöhnen, sich dabei lediglich seiner Augen zu bedienen. Indeß wünschte ich, daß man die ersten Versuche desselben durch wirkliche Messungen prüfte, damit es seine Irrthümer verbessern könnte, und daß es, wenn in dem Sinne etwa noch eine Täuschung vorhanden ist, dieselbe durch ein besseres Urtheil berichtigen lernte. Man hat natürliche Maße, die sich fast überall gleich bleiben, nämlich die Schritte eines Mannes, die Spannweite seiner Arme, seine Größe. Wenn das Kind die Höhe eines Stockwerks schätzt, so kann ihm sein Hofmeister als Maßstab dienen; schätzt es dagegen die Höhe eines Thurmes, so berechne es ihn nach der Höhe der Häuser; will es die Meilenzahl eines Weges wissen, so gehe es von der Zahl der Stunden aus, die man auf Zurücklegung desselben verwenden muß. Vor allen Dingen thue man dabei nichts für das Kind, sondern lasse es Alles selbst thun.
Ueber die Ausdehnung und Größe der Körper kann man nicht richtig urtheilen lernen, wenn man nicht auch ihre Gestalten kennen und sogar bildlich wiedergeben lernt; denn im Grunde beruht diese Nachbildung schlechterdings nur auf den Gesetzen der Perspective, und man ist nicht im Stande, die Ausdehnung nach dem bloßen äußeren Scheine abzuschätzen, wenn man nicht ein gewisses Verständniß von diesen Gesetzen hat. Die Kinder, die von einem starken Nachahmungstrieb beseelt sind, versuchen Alles zu zeichnen. Ich wünschte, daß mein Zögling diese Kunst eifrig triebe, nicht gerade um der Kunst selbst willen, sondern um einen sicheren Blick zu erlangen und seine Hand geschmeidig zu machen. Im Allgemeinen kommt es sehr wenig darauf an, ob er diese oder jene Kunst versteht, wofern er sich nur die Schärfe des Sinnes und die körperliche Gewandtheit erwirbt, welche uns diese Uebung zu verleihen vermag. Ich werde mich deshalb auch sehr hüten, ihm einen Zeichenlehrer zu geben, welcher ihn nur Nachbildungen nachbilden und Zeichnungen abzeichnen lassen würde. Mit meinem Willen soll er keinen anderen Lehrer als die Natur, keine andere Vorbilder als die Gegenstände selbst haben. Er soll das Original selbst vor Augen haben und nicht das Papier, auf welchem es dargestellt ist. Ein Haus soll er nach einem Hause, einen Baum nach einem Baume, einen Menschen nach einem Menschen zeichnen, damit er sich gewöhne die Körper und die Gestalt, unter welcher sie uns erscheinen, genau zu beobachten und nicht falsche und herkömmliche Abbildungen für richtige Darstellungen anzusehen. Ich werde ihn sogar abhalten, etwas, ohne den Gegenstand vor Augen zu haben, rein aus dem Gedächtnisse zu zeichnen, bis zu dem Augenblicke, wo sich die Umrisse desselben durch häufige Beobachtungen seiner Einbildungskraft fest eingeprägt haben, aus Besorgniß, er könne dadurch, daß er bizarre und phantastische Figuren an Stelle der wahren Formen der Dinge setze, die Kenntniß der Verhältnisse und den Geschmack an den Schönheiten der Natur verlieren.
Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt, daß er auf diese Weise viel Papier verderben wird, bevor er einen Gegenstand erkennbar darzustellen im Stande ist; daß er sich erst spät die Eleganz der Contouren und den leichten Pinselstrich des Malers erwerben und es vielleicht niemals zu der Fähigkeit bringen wird, die malerischen Effecte richtig zu beurtheilen, ja daß es ihm vielleicht stets an dem guten Geschmack im Zeichnen fehlen wird; dafür wird er indeß sicherlich einen schärferen Blick, eine sichrere Hand, die Kenntniß der wahren Größen– und Formenverhältnisse der Thiere, Pflanzen und Naturkörper, sowie eine richtigere Behandlung der Perspective erlangen. Und gerade darauf war ich ausgegangen; meine Absicht ist nicht sowol, daß er die Gegenstände nachbilden, als daß er sie vielmehr kennen lerne. Ich will zufrieden sein, wenn er im Stande ist, mir eine Akanthuspflanze zu zeigen, und will ihm dann gern vergeben, wenn er die Akanthusblätter am korinthischen Säulenkapitäl auch nicht vollendet schön zeichnen kann.