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Ein Anderer als Emil würde, wenn er diese Unterredung verstanden hätte, – und man wird sich dessen noch erinnern, wie man nach meiner Methode ein Kind zum Verständnisse bringen kann – sich versucht fühlen, mir nachzuahmen und sich als reicher Herr zu gebahren. In diesem Falle würde ich mich wenigstens zu verhindern bemühen, daß es in prahlerischer Weise hervortrete. Da würde mir noch angenehmer sein, daß er sich mein Recht anmaßte und heimliche Geschenke machte. Es wäre ein in seinem Alter liegender Betrug, und auch der einzige, den ich ihm verzeihen würde.
Ich weiß, daß alle diese durch den Nachahmungstrieb hervorgerufenen Tugenden weiter nichts als Affentugenden sind, und daß eine gute That nur dann sittlich gut genannt werden kann, wenn man sie um ihrer selbst willen vollbringt, und nicht, weil Andere sie thun. Indeß in einem Alter, wo das Herz noch nichts empfindet, muß man die Kinder wol Handlungen nachahmen lassen, die ihnen zur zweiten Natur werden sollen, bis sie dieselben später aus eigener Ueberlegung und aus Liebe zum Guten zu vollbringen vermögen. Dem Menschen, ja selbst dem Thiere ist der Nachahmungstrieb angeboren. Diese Sucht zur Nachahmung ist von der Natur weislich geordnet. Der Affe ahmt dem Menschen nach, welchen er fürchtet, nicht aber den Thieren, welche er verachtet; er erkennt das für gut an, was ein höher stehendes Wesen thut. Unter uns dagegen ahmen die Lustigmacher jeglicher Gattung das Schöne nach, um es herabzuwürdigen und es lächerlich zu machen. In dem Gefühle ihrer Niedrigkeit suchen sie das, was besser ist als sie, zu sich herabzuziehen, oder man erkennt, wenn sie sich die Gegenstände ihrer wirklichen Bewunderung nachzuahmen bemühen, an der Wahl der Gegenstände den schlechten Geschmack der Nachahmer. Sie gehen weit mehr darauf aus, Andere zu täuschen oder ihre Talente bewundern zu lassen, als besser und weiser zu werden. Der tiefere Grund der Nachahmung unter uns entspringt der Sucht, beständig aus sich herauszutreten. Gelingt mir die Erziehung Emils, so wird derselbe sicherlich diese Sucht nicht theilen. Wir wollen deshalb auf das scheinbar Gute, was sie möglicher Weise hervorbringen könnte, gern verzichten.
Wenn ihr alle eure Erziehungsregeln einmal gründlich untersuchen wolltet, würdet ihr sie alle gleich widersinnig finden, besonders aber in wie weit sie Tugend und Sittlichkeit betreffen. Die einzige sittliche Lehre welche für die Kindheit geeignet und gleichzeitig für jedes Lebensalter von höchster Wichtigkeit ist, lautet: Füge niemals irgend Jemand etwas Böses zu. Selbst die Vorschrift, Gutes zu thun, ist, wenn sie jener nicht untergeordnet wird, gefährlich, falsch und voller Widerspruch. Wer thäte denn durchaus nichts Gutes? Jedermann kann sich wenigstens auf einzelne gute Handlungen berufen, der Böse eben so gut wie alle Uebrigen. Er macht aber auf Kosten von hundert Unglücklichen nur einen Einzigen glücklich, und eben daher stammt all unser Elend. Gerade die erhabensten Tugenden sind negativer Natur und außerdem auch die schwierigsten, weil sie die Oeffentlichkeit nicht lieben und sogar über das dem menschlichen Herzen so süße Vergnügen erhaben sind, unsern Nächsten befriedigt von uns scheiden zu sehen. O, zu wie größerem Segen muß nicht derjenige seinen Mitmenschen gereichen, der ihnen nie etwas zu Leide thut, wenn es überhaupt einen solchen gibt! Welcher Unerschrockenheit der Seele, welcher Charakterstärke bedarf er zu diesem Zwecke! Aber nicht durch Anstellung gelehrter Untersuchungen über diesen Grundsatz, sondern durch den Versuch, ihn zur Ausführung zu bringen, lernt man erst, wie groß und schwer es ist, hierin Erfolge zu erzielen. Die Vorschrift, nie Jemandem zu schaden, schließt die andere in sich, sich so wenig als möglich zur menschlichen Gesellschaft zu halten, denn in der gegenwärtigen socialen Lage bringt das Glück des Einen nothwendig das Unglück des Andern hervor. Dies beruht im Wesen der Sache und nichts läßt sich daran ändern. Nach diesem Principe möge man beurtheilen, wer der bessere Mensch ist, der sich in der Gesellschaft bewegt, oder der der Einsamkeit den Vorzug gibt. Ein berühmter Schriftsteller behauptet, nur der Böse suche die Einsamkeit auf; ich dagegen stelle den Satz auf: nur der Gute lebe für sich allein. Wenn dieser Satz auch weniger geistreich klingt, so ist er dafür desto wahrer und vernünftiger, als der erstere. Welches Böse könnte der Schlechte in der Einsamkeit anstiften? In der Gesellschaft schmiedet er seine schädlichen Pläne. Will man etwa dieses Argument auf den Guten anwenden, so antworte ich darauf mit der Erörterung, der ich diese Anmerkung beigefügt habe.
Das sind einige flüchtige Andeutungen über die Vorsicht, welche ich bei Ertheilung solcher Verhaltungsregeln für Kinder berücksichtigt zu sehen wünschte, die man zuweilen nicht umgehen kann, ohne sie der Gefahr auszusetzen, sich oder Anderen Schaden zuzufügen, und vorzüglich schlimme Gewohnheiten anzunehmen, die man späterhin nur mit Mühe würde wieder ausrotten können. So viel können wir uns aber versichert halten, daß sich diese Nothwendigkeit bei Kindern, die erzogen sind, wie sie sein sollen, nur selten herausstellen wird, da sie unmöglich eigensinnig, boshaft, lügnerisch, habsüchtig werden können, wenn man die Laster, die sie dazu machen, nicht selbst in ihre Herzen gesäet hat. Demnach bezieht sich das, was ich über diesen Punkt gesagt habe, mehr auf die Ausnahmen als auf die Regeln, aber diese Ausnahmen werden um so häufiger sein, je mehr Gelegenheit die Kinder haben, aus ihrem Kreise herauszutreten und die Laster der Erwachsenen anzunehmen. Nothwendiger Weise bedürfen solche Kinder, die ihre Erziehung inmitten der großen Welt erhalten, eines früheren Unterrichts als diejenigen, welche man in der Einsamkeit erzieht. Diese Erziehung in stiller Zurückgezogenheit würde demnach schon aus dem Grunde den Vorzug verdienen, weil sie der Kindheit die zur Reife nöthige Zeit gewährt. Es gibt aber auch noch eine andere entgegengesetzte Art von Ausnahmen hinsichtlich derjenigen, welche glückliche Anlagen über ihr Alter befähigen. Wie es Menschen gibt, die nie das kindliche Wesen ablegen, so gibt es umgekehrt wieder andere, die so zu sagen niemals Kinder gewesen, sondern beinahe unmittelbar von der Geburt an in das männliche Alter getreten sind. Leider sind diese letzteren Ausnahmen sehr selten und sehr schwer zu erkennen, und ein weiterer Uebelstand ist, daß fast jede Mutter, in der Einbildung es gebe Wunderkinder nicht im Geringsten daran zweifelt, das ihrige gehöre zu denselben. Ja, noch mehr, sie halten die ganz alltäglichen und gewöhnlichen Erscheinungen, wie Lebhaftigkeit, glückliche Einfälle, Flatterhaftigkeit, fesselnde Naivetät, für etwas ganz Außerordentliches, während es doch nur die charakteristischen Merkmale dieses Alters sind, welche es am augenscheinlichsten beweisen, daß ein Kind eben nichts als ein Kind ist. Ist es wirklich etwas so Bewundernswerthes, wenn derjenige, den man unaufhörlich reden läßt, welchem man Alles zu sagen erlaubt, welcher sich um keine Rücksicht, um keine Anstandsregel zu kümmern braucht, zufälliger Weise auch einmal einen guten Einfall hat? Es würde im Gegentheile weit bewundernswerter sein, wenn es nicht so wäre, gerade wie es dasselbe Staunen erregen müßte, wenn der Astrolog unter tausend Lügen nicht auch einmal eine Wahrheit vorhersagte. Sie werden noch so lange lügen, sagte Heinrich IV., bis sie endlich einmal die Wahrheit sagen werden. Wer nach Witzen hascht, braucht nur recht viele Albernheiten zu sagen. Gott beschütze die armen Gecken, die keinen anderen Verdiensten ihre Bewunderung zu verdanken haben!
Wie die kostbarsten Diamanten in die Hände der Kinder, so können auch die glänzendsten Gedanken in das Gehirn, oder vielmehr die witzigsten Worte in den Mund derselben kommen, ohne daß darum die Gedanken oder die Diamanten ihnen angehören. In keiner Beziehung gibt es für dieses Alter ein wahres Eigenthum. Mit den Worten, die ein Kind spricht, verbindet es nicht dieselbe Bedeutung, die sie für uns haben; es legt ihnen nicht dieselben Begriffe unter. Diesen Begriffen, wenn es überhaupt solche hat, fehlt es in seinem Kopfe an logischer Ordnung und Zusammenhang; in allen seinen eigenen Gedanken findet sich nichts Festes, nichts Bestimmtes. Prüfet einmal euer vermeintliches Wunderkind. In gewissen Augenblicken werdet ihr bei ihm allerdings den gewaltigsten Thätigkeitstrieb, eine Geistesschärfe finden, welche die Wolken durchdringt; gewöhnlich aber wird euch derselbe Geist schlaff, matt und wie von dichtem Nebel umhüllt erscheinen. Bald eilt er euch vorauf, bald bleibt er unbeweglich. In dem einen Augenblicke möchtet ihr ausrufen: »Es ist ein Genie!« und in dem nächsten: »Es ist ein Einfaltspinsel!« Ihr würdet euch beide Male täuschen; es ist eben nur ein Kind. Es ist ein junger Adler, der sich in einem Augenblicke in die Lüfte emporschwingt, und im nächsten wieder in sein Nest zurücksinkt.
Behandelt es deshalb, wie es euch auch in euren Augen erscheinen mag, seinem Alter gemäß, und hütet euch, seine Kräfte durch zu große Uebung und Anspannung derselben zu erschöpfen. Wenn sich das junge Gehirn erhitzt, wenn ihr gewahrt, daß es überzuschäumen beginnt, so lasset es Anfangs in Freiheit ausgähren, stachelt es aber niemals an, weil ihr sonst befürchten müßtet, daß es sich sonst ganz verdunste; und wenn nun die überschüssigen Dünste verdampft sein werden, dann haltet den übrig gebliebenen Geist zurück, zügelt ihn, bis daß mit den Jahren Alles in belebende Wärme und wirkliche Kraft übergeht. Andrenfalls werdet ihr Zeit und Mühe umsonst verschwenden, euer eigenes Werk zerstören, und nachdem ihr euch unbesonnen an all diesen entzündlichen Dünsten berauscht habt, wird euch nichts übrig bleiben als ein kraftloser Bodensatz.
Vielversprechende, sich bemerkbar machende Kinder pflegen gewöhnliche Menschen zu werden, das ist ein anerkannter und richtiger Erfahrungssatz. Nichts ist schwieriger, als bei den Kindern die wirkliche Beschränktheit von der nur scheinbaren und trügerischen, welche das Anzeichen starker Seelen ist, zu unterscheiden. Es scheint anfänglich befremdend, daß diese beiden Extreme einander so ähnliche Kennzeichen haben, indeß ist dies gar nicht anders möglich; denn in einem Alter, in welchem der Mensch noch keine wahren Ideen hat, besteht der ganze Unterschied zwischen dem Begabten und dem Beschränkten darin, daß sich der Letztere nur falsche Ideen aneignet, der Erstere dagegen, da sich ihm keine andern darbieten, lieber auf alle verzichtet. Sie ähneln einander also insofern, daß der Eine zu nichts fähig ist, während dem Andren nichts gut genug scheint. Das einzige Kennzeichen, welches ihre Verschiedenheit hervortreten läßt, hängt vom Zufall ab. Er macht den Letzteren vielleicht mit irgend einer seine Fassungskraft nicht übersteigenden Idee bekannt, während der Erstere beständig derselbe bleibt. Der junge Cato galt während seiner Kindheit in seiner ganzen Familie für einen Schwachkopf. »Er ist schweigsam und starrköpfig,« lautete das einstimmige Urtheil. Erst in dem Vorzimmer des Sulla lernte ihn sein Onkel recht kennen. Wäre er nicht in dies Vorzimmer gekommen, so hätte er vielleicht bis zum Alter der Vernunft für einen Dummkopf gegolten. Hätte kein Cäsar gelebt, so hätte man vielleicht diesen nämlichen Cato, welcher das unheilvolle Genie desselben durchschaute und alle seine Pläne, wenn sie auch noch so weit ausgesponnen waren, voraussah, immer für einen Träumer gehalten. O wie leicht kann sich doch Jeder täuschen, der so vorschnell über die Kinder aburtheilt! Er ist oft mehr ein Kind als diese selbst. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ein Mann Der Abbé de Condillac. in schon vorgerückterem Lebensalter, der mich mit seiner Freundschaft beehrte, bei seiner Familie wie bei seinen Freunden in dem Rufe eines beschränkten Kopfes stand; in der Stille reifte hier aber ein ausgezeichneter Geist heran. Plötzlich enthüllte er sich als hervorragender Philosoph, und ich zweifle nicht, daß ihm die Nachwelt einen ehrenvollen und glänzenden Platz unter den tüchtigsten Philosophen und tiefsten Metaphysikern seines Jahrhunderts anweisen wird.
Achtet die Kinder und urtheilt nicht vorschnell über sie, weder im Guten noch im Bösen. Glaubt ihr, daß ihr es mit Ausnahmen zu thun habt, so laßt sich dieselben erst lange zeigen, bewähren und bestätigen, ehe ihr ihrethalben zu einer besonderen Methode greift. Gewähret der Natur einen langen Spielraum, bevor ihr an ihrer Stelle handelnd auftretet, und hütet euch, ihre Wirkungen zu verhindern. Ihr behauptet, den Werth der Zeit zu kennen, und wollt keine Zeit verlieren. Ihr sehet aber nicht ein, daß eine schlechte Anwendung der Zeit ein weit größerer Zeitverlust ist, als eine vollkommene Unthätigkeit, und daß ein schlecht unterrichtetes Kind der Weisheit weit ferner ist, als ein solches, welches man noch gar nicht unterrichtet hat. Ihr fühlt euch beunruhigt, wenn ihr es seine frühesten Jahre in voller Unthätigkeit hinbringen sieht! Wie? Dünkt euch glücklich sein nichts? Haltet ihr es für nichts, daß ein Kind den ganzen Tag fröhlich umherspringt, läuft und spielt? In seinem ganzen Leben wird es nicht wieder so beschäftigt sein. Plato erzieht in seiner Republik, deren Bestimmungen man gewöhnlich für so hart und streng hält, die Kinder unter lauter Festlichkeiten, Spielen, Gesängen und Zeitvertreib. Man könnte sagen, daß er Alles gethan zu haben glaubt, wenn er sie in der Kunst, sich zu belustigen, unterrichtet hat; und Seneca sagt an der Stelle, wo er von der alten römischen Jugend redet: »Sie war unaufhörlich auf den Beinen, man lehrte sie nichts, was sie hätte sitzend lernen müssen.« Nihil liberos suos docebant, quod discendum esset i(?)centibus. Epist. 88. Hatte dieselbe aber deshalb einen geringeren Werth, wenn sie das männliche Alter erreicht hatte? Heget also keine Furcht wegen dieses sogenannten Müßiggangs. Was würdet ihr wol von einem Manne sagen, der, um das Leben völlig auszunützen, niemals schlafen wollte? Ihr würdet sagen: »Dieser Mann ist ein Thor; er gewinnt dadurch nicht an Zeit, sondern beraubt sich derselben vielmehr; um dem Schlafe zu entfliehen, läuft er dem Tode entgegen.« Bedenket nun, daß es sich hier um denselben Fall handelt, indem die Kindheit die Zeit ist, in welcher die Vernunft noch im Schlafe liegt.
Aus der scheinbaren Leichtigkeit, mit welcher Kinder lernen, entspringt für dieselben ein offenbarer Nachtheil. Man übersieht, daß eben diese Leichtigkeit der Beweis dafür ist, daß sie nichts lernen. Ihr glattes und noch ungetrübtes Gehirn wirft wie ein Spiegel die Objecte, die man ihm vorhält, wieder zurück; aber nichts haftet, nichts dringt ein. Das Kind behält nur die Worte; die Ideen werden zurückgestrahlt. Wer nun das Kind diese Worte wiederholen hört, versteht sie, das Kind allein versteht sie nicht.
Obgleich Gedächtniß und Urtheilskraft zwei wesentlich verschiedene Fähigkeiten sind, so entwickelt sich in Wahrheit die eine doch nur mit der andren. Vor dem Alter der Vernunft nimmt das Kind keine Ideen, sondern nur Bilder auf, und der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß die Bilder nur absolute Abbildungen sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, die Ideen dagegen Begriffe der nach ihren Beziehungen bestimmten Gegenstände sind. Ein Bild kann sich in dem Geiste, der es sich vorstellt, ganz allein vorfinden, aber jegliche Idee setzt andere voraus. Wenn man sich etwas vorstellt, sieht man nur; wenn man dagegen begreift, vergleicht man. Die Eindrücke, welche wir empfangen, sind lediglich passiver Natur, während sich alle unsere Begriffe oder Ideen aus einem activen urtheilenden Principe bilden. Dies werde ich weiter unten beweisen.
Ich behaupte demnach, daß die Kinder, da in ihnen die Urtheilskraft noch nicht geweckt ist, auch kein wirkliches Gedächtniß haben. Sie behalten Töne, Figuren, Eindrücke, aber selten Ideen, noch seltener Ideenverbindungen. Man wird meinen, mich durch den Einwand, daß sie doch einige Elemente der Geometrie lernen, widerlegen zu können; aber gerade dieser Umstand spricht für die Wahrheit meiner Behauptung; man beweist damit nur, daß sie, weit davon entfernt, sich selbst ein Urtheil zu bilden, nicht einmal die Schlüsse Anderer zu behalten vermögen, denn wenn ihr die Methode dieser kleinen Mathematiker aufmerksam beobachtet, werdet ihr bald bemerken, daß sie nur den genauen Eindruck der Figur und die Ausdrücke des Beweises behalten haben. Bei dem geringsten neuen Einwurfe wissen sie nicht aus und ein; drehet die Figur um, und sie wissen sich eben so wenig zu helfen. Ihr ganzes Wissen besteht aus aufgenommenen Eindrücken, nichts ist Eigenthum ihres Verstandes geworden. Selbst ihr Gedächtnis ist nicht vollkommener und entwickelter als ihre übrigen Fähigkeiten, denn fast immer müssen sie als Erwachsene die Dinge noch einmal lernen, von denen sie sich in der Kindheit nur die Worte angeeignet haben.
Trotzdem bin ich weit davon entfernt, mich dem Wahne hinzugeben, daß den Kindern jede Art von Urtheilskraft fehle. Ich habe beim Schreiben hundertmal die Bemerkung gemacht, daß es bei einem größeren Werke unmöglich ist, mit denselben Worten auch stets denselben Sinn zu verbinden. Es existirt keine Sprache, die eine solche Fülle von Ausdrücken, Wendungen und Redensarten besäße, als die Ideen Modificationen erleiden können. Die Methode, alle Ausdrücke zu definiren und unaufhörlich die Definition an die Stelle des Definirten zu setzen, ist schön, aber unausführbar. Denn wie ist es möglich, den Zirkel zu vermeiden? Die Definitionen hätten schon ihr Gutes, wenn man sich zu ihrer Bestimmung nur nicht der Worte bedienen müßte. Trotzdem bin ich überzeugt, daß man sich bei aller Armuth unserer Sprache doch klar ausdrücken kann, freilich nicht dadurch, daß man den nämlichen Worten auch immer den nämlichen Sinn beilegt, sondern in der Weise, daß bei jeder Anwendung eines Wortes die damit verbundene Bedeutung durch die Ideen, welche sich darauf beziehen, zur Genüge bestimmt wird, und daß demnach jeder Satz, in welchem sich das in Rede stehende Wort vorfindet, gleichsam die Definition bildet. Bald sage ich, den Kindern fehle die Urtheilskraft, und bald lasse ich sie wieder mit ziemlicher Schärfe urtheilen. Ich glaube mich hierbei in Bezug auf meine Ideen keines Widerspruches schuldig zu machen; allein ich kann nicht in Abrede stellen, daß meine Ausdrücke oftmals den Schein des Widerspruches annehmen.
Im Gegentheil habe ich die Bemerkung gemacht, daß sie über Alles, wovon sie ein Verständniß haben, und was sich auf ihr augenblickliches und fühlbares Interesse bezieht, sehr richtig urtheilen. Man täuscht sich nur über ihre Kenntnisse, indem man ihnen solche zutraut, die sie nicht besitzen, und sie über Dinge urtheilen läßt, die sie nicht zu fassen vermögen. In einen gleichen Irrthum verfällt man, wenn man ihre Aufmerksamkeit auf Betrachtungen lenken will, die sie noch in keiner Weise berühren, wie z. B. auf ihr einstiges Interesse, auf ihr Glück, sich zur Menschheit zählen zu dürfen, auf die Achtung, in der sie als Erwachsene stehen werden, lauter Redensarten, die, weil sie an Wesen verschwendet werden, denen jegliche Voraussicht mangelt, völlig bedeutungslos für dieselben sind. Nun erstrecken sich aber alle erzwungene Lernversuche dieser armen Unglücklichen auf Gegenstände, die ihrem Geiste völlig fremd sind. Man möge nun selbst beurtheilen, wie viel Aufmerksamkeit sie denselben werden schenken können.
Die Pädagogen, welche uns die Kenntnisse, die sie ihren Schülern beibringen, mit großer Prahlerei vorzählen, werden bezahlt und sind deshalb gezwungen, eine andere Sprache zu führen, indeß läßt ihre eigene Handlungsweise durchblicken, daß sie genau wie ich denken. Denn was bringen sie ihnen am Ende bei? Worte, nichts als Worte, und immer wieder Worte. Unter den verschiedenen Wissenschaften, in denen sie sich zu unterrichten rühmen, hüten sie sich diejenigen auszuwählen, welche den Schülern zu einem wirklichen Nutzen gereichen würden, weil es sich bei diesen um ein sachliches Wissen handelt, was sie ihnen niemals mitzutheilen im Stande sind. Deshalb wählen sie nur solche, mit denen man vertraut zu sein scheint, wenn man sich ihre äußere Terminologie angeeignet hat, als Wappenkunde, Geographie, Chronologie, Sprachen u. s. w., alles Studien, die dem Menschen überhaupt, und nun vorzüglich erst dem Kinde, so fern liegen, daß es ein Wunder wäre, wenn ihnen auch nur ein Gegenstand derselben ein einziges Mal im Leben zum Nutzen gereichte.
Man wird sich wundern, daß ich das Studium der Sprachen in die Zahl der für die Erziehung unnützen Gegenstände rechne. Indeß möge man sich erinnern, daß ich hier nur vom Lernen in dem ersten Lebensalter rede, und was man auch immer sagen möge, so glaube ich nicht, daß, die Wunderkinder natürlich ausgenommen, je ein Kind vor dem Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren wirklich zwei Sprachen gelernt habe.
Ich räume ein, daß das Studium der Sprachen, wenn dasselbe nur in dem Erlernen von Worten, d. h. von einzelnen Wortbildern und Klängen bestände, für die Kinder angemessen wäre; da indeß die Sprachen sich verschiedener Bezeichnungen bedienen, so modificiren sie damit auch zugleich die Ideen, welche jene ausdrücken. Der Geist bildet sich nach der Sprache; die Gedanken nehmen unwillkürlich die Färbung des Idioms an. Die Vernunft allein ist etwas Gemeinsames, der Geist jeder Sprache prägt sich dagegen in einer besonderen Form aus, eine Verschiedenheit, welche wenigstens theilweise recht wohl die Ursache oder auch die Wirkung der einzelnen Nationalcharaktere sein könnte. Was diese Vermuthung zu bestätigen scheint, ist der Umstand, daß die Sprache bei allen Völkern der Welt dem Wechsel der Sitten folgt und sich in Übereinstimmung mit diesen erhält oder verändert.