Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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XIX

Am selben Abend noch sah ich den Dämonischen im nächtlichen Klub. Er erzählte, daß Erna vom Pferde gestürzt sei und sich verletzt habe. Er hätte zurück müssen, weil sein Geld zu Ende gegangen sei, die Aufnahmen noch immer nicht begonnen hätten, kein Mensch von der Direktion sich hätte blicken lassen. Infolgedessen habe Erna um ihren Mann telegraphiert.

Es erwies sich, daß Erna schwer krank war. Sie wurde in ein Sanatorium nach Berlin gebracht.

Das war Arnolds schönste Zeit. Denn er durfte bei ihr die ganze Nacht über bleiben, er wohnte im Sanatorium.

Bei Tag empfing sie die Besuche, die einer Künstlerin gebühren, wenn sie einen Unfall erlitten hat. Sie erhielt sämtliche Genugtuungen, die in solchen Fällen in Betracht kommen. Sie erfuhr den ganzen Umfang der Wertschätzung, den man ihr zollte. Nichts Angenehmeres, als eine Art von Nachrufen zu lesen und zu wissen, daß man am Leben bleibt.

Man verschob die Aufnahmen. In manchen Berichten über Feste und Bälle stand es, daß man sie »vermißte«. Oh, süße Einrichtung eines blumengeschmückten Krankenlagers! Glückliche Folge eines schweren Unfalls! Aufgesucht- und Vermißtwerden in einem!

Man mußte sie operieren. Es stellte sich heraus, daß sie eine längere Zeit hinken würde.

Allmählich verschwand ihr Name aus den Blättern. Der Film wurde ohne sie gedreht. Ihre Stellvertreterin hatte gute Kritiken. Die Vorschüsse schränkte man ein. Sie verließ das Sanatorium. Arnold zog in ihre Villa.

Sie verkaufte das Automobil. Sie entließ den Gärtner. Die Freundinnen zogen aus. Das Grammophon nur blieb im Hause. Die Besuche wurden selten. Es schien, daß die jungen Zippers nur von Arnolds Einkünften lebten.

Sie verkauften das Haus und zogen in die Stadt und mieteten eine Wohnung. Zuerst war es eine große Wohnung in einem Vorderhaus. Dann erfuhr Arnold, daß eine ebenso große Wohnung, aber um die Hälfte billiger, in einem Hinterhaus zu vermieten wäre. Und sie zogen in ein Hinterhaus. Man passierte, ehe man zu ihnen gelangte, einen langen Flur, einen geräumigen Hof, in dem Hühner gackerten. Der Portier hielt die Fenster seiner Küche offen. Man roch, was er aß. Jetzt hatte Arnold auch einen Salon. Es war nicht mehr, wie bei ihm zu Hause, ein dunkler, feuchter Salon. Es war ein warmer, trockener. Auf der Kommode standen winzige Buddhas mit Schublädchen in den Bäuchlein. In diesen Schubläden lagen Kleinigkeiten, Abfälle, Bestandteile von den Toiletten Ernas.

Sie hatten ein Dienstmädchen, eine strenge Frau mit einem Angesicht wie eine Baumwurzel, knollig, schwarz. Sie steckte in einer langen blauen Schürze. Das Muster erinnerte mich an die Schürze der Frau Zipper.

Man aß in einem Zimmer, dessen Tür zur Küche führte. Man aß an einem runden kleinen Tisch, jeden Tag ließ Erna neue Blumen bringen.

Mit großer Sorgfalt las sie alle Zeitungen, die sie früher nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte. Seitdem ihr Ruhm verfiel, suchte sie nach den Neuigkeiten der Welt, der versunkenen Welt, mit Qual und Neugier. Da sie sich vorläufig ohne Ziel sah, schien es, daß ihr Verstand sich verringerte. Er war ein Apparat, der nur unter bestimmten Bedingungen funktionierte.

Erna wurde empfindlich, mißtrauisch, weinerlich, eine klägliche kleine Frau. Sie kombinierte immer noch scharf, aber falsch. Sie verdächtigte Arnold, daß er nicht genug für sie arbeite. »Es wäre seine Pflicht«, sagte sie, »mich jeden Tag der Welt ins Gedächtnis zu rufen. Er aber ist froh, daß ich nicht spiele.« Kam er nach Haus, erzählte er, daß er in einer Gesellschaft gewesen sei, so fragte sie: »Hat man von mir gesprochen?« Haarklein mußte Arnold berichten, bei welcher Gelegenheit, warum, wieso die Rede auf Erna gekommen wäre. Er mußte die Kleider der Frauen schildern, seine Gespräche wörtlich wiedergeben. War sie nicht einmal auch von ihrer Mutter ausgefragt worden?

Ihr Gebrechen heilte nicht. Wenn es kalt war, wurde es schlimmer. Man schickte sie im Winter nach Nizza. Allein wollte sie nicht fahren. Arnold mußte sie begleiten. Er bekam sechs Wochen Urlaub. Als sein Urlaub zu Ende war, zwang sie ihn, bei ihr zu bleiben. Sie machten Schulden. Der alte Zipper schickte noch einmal Geld.

Ein halbes Jahr später traf ich Arnold in Monte Carlo. Er spielte und gewann. Es waren keine großen Summen. Aber er konnte mit seiner Frau von den Gewinsten leben. Er gewann jeden Tag ein paar hundert Francs.

»Ich habe gar kein System«, sagte Arnold, »ich gewinne, einfach, weil ich bescheiden bin. Ich gehe jeden Vormittag hierher, langsam, gedankenlos, wie man in ein gleichgültiges Amt geht, wo einem nichts zustoßen kann. Jeden Abend um sechs Uhr löse ich die Marken ein. Nie waren es mehr als tausend Franken. Manchmal sind es hundert, manchmal dreihundert, manchmal siebenhundertfünfzig.«

»Was macht Erna?«

»Es geht immer besser. Sie nimmt zu und sorgt schon wieder fürs Magerwerden. Sie ist entschlossen, wieder zu spielen.

Ich glaube aber nicht daran. – – Sie ist mir übrigens ganz gleichgültig.«

»Gleichgültig?«

»Ja, warum nicht? Ich bin nicht verliebt. Wir leben wie ein altes Ehepaar. Ich bin nur zu faul, um mich von ihr zu trennen. Ich habe mich schon so daran gewöhnt, an diesen Spielsaal, an den täglichen Autocar nach Nizza und zurück, an Erna, die beim Fenster sitzt oder am Wasser. Ich lebe nicht schlecht.«

Ich fuhr weg, Arnold versprach mir zu schreiben. Er schrieb nicht mehr in den nächsten Monaten.

Einmal las ich in einer Zeitung, daß Erna wieder zum Film zurückgekehrt sei. Sie werde nach Amerika gehen.

Einige Monate später sah ich einen amerikanischen Film, in dem sie spielte. Es war ein »Spielfilm«, wie die technische Bezeichnung lautet. Erna war eine Frau in reifen Jahren, Rivalin einer Sechzehnjährigen in dem Kampf um einen Mann in den Vierzigern. Die Sechzehnjährige war ihre Nichte. Diese hatte die meisten Chancen, weshalb Erna Sympathien gewann. Sie siegte am Schluß. Sie hatte klug, aufrichtig und überlegen zu sein, ein wenig hart, voll bitterer Kenntnis des Lebens, skeptisch in bezug auf Männer, aber mit einer genügend starken Quantität Herz begabt, um in der Einsamkeit traurig zu werden; jedoch wieder nicht so sentimental, daß sie etwa geweint hätte. Man sollte vielmehr wissen, daß jede andere an ihrer Stelle geweint hätte. Sie aber war von jenen, welche die Tränen, wie man sagt, tapfer verschlucken. Im Leben wäre sie freilich von der Sechzehnjährigen verdrängt worden. Denn das Leben ist gerecht und sparsam mit Erfolgen gegen jene, die gezeigt haben, daß sie auch ohne äußeres Glück zu bestehen wissen. Die besondere Filmgerechtigkeit der Vereinigten Staaten aber krönte die Verdienste Ernas.

Ich konnte noch erkennen, wie sie leise hinkte. Das Publikum merkte es gewiß nicht. Wahrscheinlich, dachte ich, wird sie in dem zauberhaften Hollywood eine neue Hüfte aus Platin oder auch aus Alabaster bekommen, damit das schwache Bein in einer zuverlässigen Wurzel hafte. Was konnte man nicht alles in Amerika.

Es tat mir leid, daß ich nicht sehen konnte, wie sie drüben ihre Karriere arrangiert hatte. Dieser Film, den ich jetzt sah, gab mir nur eine ferne Ahnung von allen Experimenten, die ihm vorangegangen waren.

Ich ging noch einmal und noch ein drittes Mal in den Film. Immer wieder schien es mir, daß ich aus einer Szene, aus ihrer Miene, aus ihrer Bewegung mehr erraten könnte, als dieses Drama zu geben hatte. Aber ich erfuhr nichts Neues. Ich prägte mir nur ihr Gesicht ein. Sie sah im Film schön aus, so schön, wie man nur in Amerika sein kann. Sie war so edel, wie man nur in Amerika sein kann, wenn man siegreich ist. Sie war so weiblich, so hilfsbedürftig, so rührend in den paar Minuten, in denen ihr eine unerbittliche Einsamkeit drohte, daß man sie für eine vollkommene Frau hielt.

Plötzlich kam von Arnold eine Postkarte, eine Ansichtskarte aus Lissabon, mit einem Gruß. Nach einigen Wochen kam noch eine Karte, diesmal aus Boston. Nach längerer Zeit erhielt ich eine dritte aus Amsterdam. Was war mit ihm geschehen? Was für ein Schicksal wirbelte ihn so heftig in der Welt herum?

Ich sollte es bald erfahren.


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