Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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VI

Der Postsekretär Wandl zog in den Salon. Man ließ alles dort stehen, wie es gestanden war. Man öffnete, wie sonst nur vor Ostern, wenn Zippers Bruder aus Brasilien kommen sollte, die Tür vom Flur zum Salon. Das Klavier blieb. Wenn der Postsekretär Wandl nicht zu Hause war, durfte Arnold üben. Er war ein gutmütiger Mann, der Sekretär Wandl. Er zahlte, ohne daß man es gefordert hätte, einen anständigen Preis. Die Frau Zipper bezahlte das Lexikon, Darwin, Schiller, Haeckel und den Greißler für drei Monate. Es gab wieder Emmentaler, jeden Abend, Salami und Bier. Wie vor vielen Jahren ging Zipper wieder am Nachmittag ins Kaffeehaus.

Es war ein lärmendes Kaffeehaus, wo die meisten Gäste Karten spielten. Der Rauch der Zigaretten und Zigarren stand kalt über ihren Köpfen, kalt, schwer und fest, in Knäueln, Klumpen und Blöcken. Die Männer saßen in Hemdärmeln, die Kellner standen hinter ihnen, sahen zu, wie sie spielten. Man mischte Karten mit zauberhafter Geschwindigkeit. Man warf sie auf die Tische, sie klatschten auf, als wären sie ins Wasser gefallen. Die Spieler riefen einander harte Worte zu, eine rätselhafte Art fremder Zauberflüche, es sah aus, als stritten sie heftig, indessen sie lachten. Kreide lief kreischend über trockene Täfelchen. Nasse Schwämmchen lagen auf Schalen, merkwürdige Tiere. Vom anderen Ende des Saales kam ein leises Klappern von Billardkugeln herüber.

Der Raum war halb dunkel. Es war das Dämmerlicht einer Grotte, eines Verschwörerhauses, eines Freimaurersaals. Er erregte meine Phantasie. Trat man aus dem Kaffeehaus in das helle Sonnenlicht, so war es, als wäre man mitten aus einem Traum geweckt worden. Saß man drinnen, so hatte die Zeit aufgehört. Über der Kasse hing zwar eine Uhr, sie tickte sogar, wurde jeden Abend vom Oberkellner Franz aufgezogen, aber sie hatte keine Zeiger. Was konnte schrecklicher sein als diese Uhr? Sie ging und ging, in ihrem verborgenen Innern lief die Zeit ihren regelmäßigen Lauf, aber man sah es nicht. Man wußte nur, daß Stunden schwinden, aber wie viele, das wußte man nicht. Die Menschen, die dort saßen, sahen trotzdem jedesmal auf die Uhr, sie bildeten sich wahrscheinlich ein, jetzt wüßten sie die Stunde. Das Ticken, das sie hörten, beruhigte sie offenbar.

Dort saß Zipper und spielte Sechsundsechzig, jeden Nachmittag, von drei bis sechs Uhr. Er spielte und verlor. Er verlor keine großen Summen, aber er verlor immerhin so viel, daß er anfing, billigere Zigarren zu rauchen und schließlich eine Pfeife mit dem billigsten Tabak. – »Eine Pfeife«, erklärte er damals, »ist viel gesünder als eine Zigarre, von der Zigarette ganz zu schweigen. Man sieht vor allem, was man raucht. – Für manche Menschen riecht es vielleicht nicht angenehm«, sagte er noch, wenn seine Frau am Tisch war. Manchmal aber brachte er eine Zigarre nach Haus, eine Trabucco, vielleicht hatte sie ihm jemand geschenkt. Sie steckte einzig und einsam in seinem Zigarrenetui, das ganz schlaff und welk geworden war, mit hängenden Backen. Sie war außerdem noch in ein Stück Zeitungspapier eingewickelt. Am Abend rauchte sie Zipper, tat drei Züge, sah sie an, tat noch einen Zug, legte sie vor sich hin, drehte sie, betrachtete sie von allen Seiten, tat, als suchte er an ihr nach irgendeiner Wunde, steckte sie wieder in den Mund und schwieg. Den Stummel steckte er sorgfältig in seine gelbe alte Bernsteinspitze und rauchte ihn so lange, bis ein kleines armseliges Stummelchen zurückblieb. Dieses holte er mit einem Bleistift heraus, reinigte es von der Asche, zerkrümelte es und schüttete es in seinen Tabaksbeutel.

Es ging ihm immer schlechter, dem alten Zipper. Aber je trauriger es mit seinen Einnahmen aussah, desto mehr gesellschaftliche Ehren häufte er an.

Jetzt gehörte er schon drei Wohltätigkeitsvereinen und mehreren Geselligkeitsklubs, und in jedem hatte er irgendein Amt. Hier war er Kassierer und dort Obmann und dort Vizepräsident und dort Sekretär. Ein paar Abende im Monat mußte er für Versammlungen, Feiern, Generalrapporte »opfern« – wie er sagte. Je schäbiger, älter, farbloser sein schwarzer Anzug wurde, je grauer und schmutziger seine weiße Krawatte, desto häufiger zog er sich festlich an.

Manchmal hatte er seine großen Tage. Da mußte er Reden halten. Zwei Wochen vorher setzte er eine Rede auf, und zwei Wochen lang lernte er sie auswendig. Es kamen in jeder Rede dieselben Wendungen vor, aber der alte Zipper war so fest davon überzeugt, daß er immer wieder besonders originelle Gedanken niedergeschrieben hatte, daß er sich verpflichtet fühlte, sie zu vergessen. Er ging hin und her im Zimmer, in dem alle saßen, und lernte laut, eindringlich und feierlich. Frau Zipper mußte ihn abhören. Obwohl sie die Rede längst auswendig wußte, nahm sie das Manuskript zur Hand und folgte mit dem Zeigefinger jeder Zeile. »Pause!« sagte sie, sooft Zipper allzuschnell von einem Gedankengang zum andern hastete.

Meine verehrten Anwesenden! – so begann jede Rede. Und Zipper memorierte auch die Ansprache jedesmal. Wir alle konnten die Rede schon auswendig, außer Cäsar, dessen Kopf widerstandsfähig war gegen jeden Eindruck. Wir alle konnten die Rede schon, es gab Stunden, in denen sie ganz selbständig und obwohl ich mich gegen sie wehrte, in meinem Gehirn abrollte, wie von einer Spule ein Faden, der kein Ende nimmt.

Frau Zipper und Arnold gingen zu den großen Abenden Zippers, manchmal nahm er auch mich mit. Man saß in dem Gesellschaftsraum eines Kaffeehauses, im Untergeschoß, von ferne hörte man aus der heiteren Oberwelt das Klirren der Tassen, das Stimmengewirr der Gäste, ein paar Takte einer Musik. Sooft die Tür aufging, drang der reiche Lärm mit ganzer Kraft in den tiefen Raum, es war, wie wenn man sich mitten in der Straße die Ohren zuhielte und sie wieder für einen Augenblick offen ließe, um sie dann wieder zu verdecken. Man ahnte, daß dort oben schöne, lebendige, kräftige Dinge sich abspielten. Hier aber saß Frau Zipper bleich im schwarzen Flitterkleid, dicke Herren und dicke Damen neben und hinter ihr, Arnold stand im Hintergrund des Saals, etwas blaß und zitternd, und auf dem Podium stand, grell beleuchtet, der Herr Zipper, den Zylinder in der Hand, und im Innern des Zylinders lag das Manuskript seiner Rede. Er konnte sie immer noch nicht. Frau Zipper flüsterte lautlos vor sich hin, jedes Wort der Rede, noch ehe es ihr Mann ausgesprochen hatte.

Sie flüsterte und bebte.


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