Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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II

Die Familie Zipper wohnte in dem Viertel der kleinen Bürger, in dem die Wohnungen aus zu engen Zimmern bestehen, dünne Wände haben und nutzlosen Zierat enthalten.

Es gab einen außerordentlich noblen Raum in der Wohnung Zippers. Er lag hinter dem Schlafzimmer. Man hätte ihn auch vom Flur aus erreichen können. Dort aber war die Tür geschlossen. Sie öffnete sich nur einmal im Jahr, zu Ostern, wenn des alten Zippers Bruder aus Brasilien zu Besuch kam. Für uns, den jungen Zipper und mich, war das vornehme Zimmer, das man Salon nannte, am Sonntagnachmittag zugänglich, wenn wir versprachen, uns ruhig zu verhalten und »nichts zu zerbrechen«. Denn viel Zerbrechliches war dort angesammelt. Ich erinnere mich an ein gläsernes blaßblaues Tintenfaß mit silbernem Deckel, ein kleines Streusandfäßchen von gleicher Farbe und einen Federhalter aus blauem Glas. Es war eine Garnitur. Sie stand in der Mitte der rubinroten schweren Trinkgläser auf der Kommode, der silbernen Becher und der neusilbernen Obstbestecke. In den Gläsern, die immer ein wenig verstaubt waren, lagen Perlmutterknöpfe und Kinderringe aus weichem Silber, Krawattenhalter und hölzerne Nadeletuis, Agraffen, mit gläsernen Brillanten besetzt, schwarzer, biegsamer und klebriger Flitter, der jedesmal von dem schwarzen Prachtkleid der Frau Zipper abfiel und den sie sammelte, um ihn gelegentlich wieder anzunähen.

Immer lag der Salon im Halbdunkel. Schwere, rote Vorhänge gestatteten der Sonne nur einen spärlichen Zutritt, kaum daß es einem Strahl manchmal gelang, sich einen schmalen Weg zu bahnen und eine dünne silberne Staubsäule vom Fenster zum runden Tisch zu ziehen. Mottenkugeln rochen scharf aus den ewig geschlossenen Schränken. Eine dumpfe Feuchtigkeit gemahnte an herbstliche Felder, Allerseelen, Weihrauch in kühlen Kapellen. An der Wand hingen Porträts von den Großeltern und Eltern der Frau Zipper. Der alte Zipper besaß keine Bilder von seinen Ahnen. Denn er stammte aus einer Familie, die »einfach« war und die sich nie hatte porträtieren lassen. Er selbst aber schien der Ahnherr eines respektvollen Geschlechtes werden zu wollen. Er ließ sich oft photographieren und alle seine Bilder vergrößern. Er hängte sie an die Wände des Salons. Da sah man Herrn Zipper mit Hut und Stock, auf einer Gartenbank, Jasmin im Hintergrund. Dort: am Schreibtisch, in einem dicken Buch lesend. Rechts hing das Bild, das Herrn Zipper in der Uniform eines Feldwebels – eines Rechnungsfeldwebels – der Infanterie darstellte. Links: Herr Zipper im Zylinder mit weißen Handschuhen, wie er eben von einer Hochzeit oder von einem Begräbnis kam. Hier war er noch junger Bräutigam, einen Blumenstrauß in weißer Tüte in der Hand. Dort ein bereits ernster Vater, Arnold, den Kleinen, auf den Knien.

Noch öfter als der alte war der junge Zipper photographiert. Arnold, wie er sechs Monate alt war, splitternackt, lächelnd, auf einem Bärenfell; Arnold als Einjähriger auf dem Arm der Mutter; Arnold als Vierjähriger in den ersten langen Hosen; Arnold als Sechsjähriger mit dem ersten Schulranzen, mit Schiefertafel und baumelndem Schwamm; Arnold als Siebenjähriger mit dem ersten Schulzeugnis; Arnold als Achtjähriger mit gekreuzten Beinen, zu Füßen seines Lehrers, umgeben von seinen Schulkameraden; Arnold im spanischen Nationalkostüm und als Radfahrer; als kleiner Reiter im Hippodrom und als Chauffeur im Vergnügungspark; Arnold auf einem Esel und auf dem Kutschbock; Arnold am Klavier und mit der Geige; Arnold mit Pfeil und Bogen und Arnold mit Säbel; Arnold als kleiner Dragoner und als kleiner Matrose; Arnold in allen Altern, allen Kleidungen, allen Lagen; Arnold, Arnold, Arnold ...

Weshalb, fragte ich, ist nicht Arnolds Bruder, der ältere, den man Cäsar nannte, photographiert? Er hieß Cäsar, nach dem früh verstorbenen Bruder seiner Mutter. Es schien, daß dieser Name den Knaben beschwerte, ihm Aufgaben stellte, für die er nicht geboren war. Er mußte entweder ein Genie sein oder ein Hund. Wer war imstande, mit solch einem Namen seinen Eltern Freude zu bereiten?

Nein! Er bereitete ihnen keine Freude, wenigstens nicht dem Vater. Man sah Cäsar selten zu Hause. Er trieb sich in den Straßen herum, man traf ihn vor dem Eingang zum Zirkus Cavalli, vor den Kinos in den Vorstädten und in der kleinen Gasse, in der jedes Haus ein Bordell war. Und er war im ganzen vierzehn Jahre alt. Ich erinnere mich deutlich an sein rotes grobes Gesicht, in das die Züge roh und provisorisch eingezeichnet waren, an seine kurze, von vielen Runzeln zerknitterte Stirn, die aussah, als wollte sie falsche Sorgen vortäuschen, an den merkwürdigen Gegensatz zwischen dem ungläubigen Mund, der an eine traurige alte Sichel erinnerte, und den hellen, grünen, bestialisch und irrsinnig glänzenden Augen. Als er fünfzehn Jahre alt war, schlief er mit allen Dienstmädchen der Nachbarschaft, ein schwarzer Bart sproßte aus allen Winkeln seines Gesichts, seine Augenbrauen wuchsen an der Nasenwurzel zusammen. Er »wollte nicht lernen«. Der alte Zipper »nahm ihn« aus dem Gymnasium und »gab ihn« in die Realschule. Hier geriet er mit einem Mitschüler in Streit, zerschlug ihm das Nasenbein, ohrfeigte einen Lehrer, der vermitteln wollte. Da »nahm« der alte Zipper Cäsar aus der Realschule und »steckte« ihn in die Bürgerschule. Hier gab es mehrere Cäsars, die Lehrer hüteten sich vor Schlägen. Cäsar Zipper erregte nicht besonderes Aufsehen, er blieb je zwei Jahre in jeder Klasse, aber es half ihm nichts. Als er die Schule verließ, konnte er gerade lesen und schreiben.

Es war, als gehörte Cäsar nicht zur Familie Zipper. Vor allem traf man ihn niemals zu Hause, es sei denn während der Mahlzeiten. Da saß er am Ende des Tisches, die Tür, die zur Küche führte, im Rücken, gegenüber dem alten Zipper, der dem ungeratenen Sohn zwischen je zwei Gängen wütende, verachtende Blicke zuwarf. Cäsar erwiderte sie nicht. Cäsar sah immer auf den Teller, knurrte leise, klopfte mit den Absätzen auf den Fußboden, trommelte mit den Fingern auf den Sessel und wußte, daß die Raserei in seinem Vater stieg. Ja, er schien mit Vergnügen zu hören, wie es in dem alten Zipper kochte. Noch hielt der an sich. Schon aber nahte die Mehlspeise, mit der Zipper niemals zufrieden war, und plötzlich explodierte er. Er schleuderte das Salzfaß gegen Cäsar, der es schon längst erwartet hatte und mit dem geübten Griff eines gewandten Menschen auffing und wieder auf den Tisch stellte. Dann hörte man ein Sesselrücken, der alte Zipper erhob sich. Er stand gebückt, die Serviette in der Linken, mit der Rechten griff er hinter den Rücken, er suchte die Lehne des Stuhls. Einen Augenblick lang sah man seine Hand, wie sie die leere Luft krallte. Ich sehe noch deutlich diese rechte Hand, sie sah aus wie ein Tier, eine behaarte Spinne etwa, die blind nach einer nicht vorhandenen Beute greifen will, sie war schrecklich, diese Hand, schrecklicher als das Gesicht des Alten, das zu harmlos war, um auch nur einen Augenblick schrecklich sein zu können.

In dieser Sekunde hatte Cäsar bereits die Tür, die zur Küche führte, mit der Linken geöffnet. Schon hörte man das Brodeln der Töpfe vom Herd, schon roch man die Düfte der Speisen, man hörte, wie sich draußen die Frau Zipper schneuzte und räusperte. Die Klinke in der Linken, die Rechte vor sich als ein Schild, streckte Cäsar dem Vater eine rote lange Zunge heraus. Die Zunge war etwas Schamloses, Nacktes, gleichsam auch der weißen Haut Beraubtes. Sie streckte sich dem Vater entgegen wie eine Wunde und wie eine Flamme. Dabei kam ein düsteres Knurren aus dem Innern Cäsars, wie ein kleines Erdbeben. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

Einige Male in der Woche – und sooft mich der alte Zipper zu einer Mahlzeit einlud – wiederholte sich diese Szene. Arnold kannte schon alle ihre Phasen, er interessierte sich nicht mehr für sie. Ja, es schien, daß er sie mit einer besonderen Zufriedenheit an sich vorüberziehen ließ, ich sah manchmal, wie er ein perfides Lächeln zu verbergen suchte und dennoch offenbarte, während des kurzen, wortlosen, nur von furchtbaren Bewegungen und unmenschlichen Lauten begleiteten Sturms, der zwischen dem Vater und dem Bruder wütete. Ich erinnere mich nicht, gesehen zu haben, daß Cäsar oder der alte Zipper jemals ihre Mehlspeise zu Ende gegessen hätten. Immer blieben einige häßliche Reste in ihren Tellern. Trümmer, die ein Unwetter zurückläßt.

Aber wie der Sonnenschein dem Sturm folgt, so begann der alte Zipper sofort zu scherzen, nachdem sein mißratener Sohn verschwunden war. Noch standen die Reste der unterbrochenen Mahlzeit vor ihm. Er schien sie nicht zu sehen. Schon sprach er vom Nachmittag und was wir eigentlich heute zu machen gedächten. Ob wir schon mit unsern Arbeiten fertig wären. Ob wir schon das neue Karussell gesehen hätten, das ein Italiener in der letzten Woche errichtet habe, neben den vielen, die es schon gebe. Ob wir schon wüßten, daß Andreas' Puppentheater heute ein neues Programm habe. Ob wir schon in der Zeitung gelesen hätten, daß die Sommerferien in diesem Jahr nicht wie gewöhnlich Ende Juni, sondern schon Mitte dieses Monats beginnen würden.

Denn das waren, wie schon einmal erwähnt, die Sorgen des alten Zipper. Manchmal ging er zum Kleiderschrank, öffnete ihn langsam wie einen Altar und entnahm ihm die Geige im schwarzen Geigenkasten, der an einen Sarg erinnerte. Die Jugend und die Hoffnungen Zippers lagen in ihm begraben, neben der Geige. Denn der alte Zipper hatte einmal ein Musiker werden wollen. Er wäre es beinahe geworden. Er besaß, wie er sagte, ein »unheimliches Gehör«, und ohne Lehrer, ohne Noten, »ohne Anfangsgründe« hatte er zu spielen angefangen, eines schönen Tages, »von einem Geist gesegnet«. Er spielte in der folgenden Zeit »alles, was er hörte«. Er spielte »Menuetts und Walzer«. Er ging zu »allen neuen Operetten«, er spielte am nächsten Tag ihre Schlager – »nach dem Gehör«. Heute konnte er nur noch ein Stück spielen, nämlich: »Weißt du, Mutterl« – ein Lied, das den alten Zipper gar nicht traurig machte und mich zum Weinen rührte. Im Gegenteil: je verzückter, melancholischer und jenseitiger Zippers Gesicht wurde, desto lustiger war seine Seele. Er dehnte die Töne ins Unermeßliche, er zog sie wie Gummi, seine Geige wehklagte, jammerte, heulte, ob es nötig war oder nicht, und wo es ihm gerade gefiel, schaltete er ein Tremolo ein. Es wurde mir kalt im Rücken, Zippers Vater aber verriet seine fröhliche Laune durch die muntere Art, in der er mit dem Fuß den Takt schlug, durch die zufriedenen Pausen, die er einschaltete, wo sie nicht vorgeschrieben waren, und in denen er einen selbstgefälligen Blick um sich warf wie ein Künstler, der irgendein fernes, nur ihm selbst vernehmbares Bravoklatschen hört.

Auf jeden Fall war es die Musik, die der alte Zipper am meisten von allen Künsten, ja, von allen geistigen Erscheinungen und Formen des Lebens verehrte. Sie ersetzte ihm den Glauben an Gott, den er leugnete. Sie ersetzte ihm vielleicht die Liebe, die er nicht genoß, das Glück, das ihn floh. Kein Wunder, daß er gewünscht hatte, wenigstens aus einem seiner Söhne einen Musiker zu machen. Mit einer gewissen Hoffnung hatte er wahrgenommen, daß Cäsar unwillig und schwer lernte und eine Abneigung vor Büchern bewies, also einen »schlechten Kopf« hatte. Aha, dachte der alte Zipper, das wird ein Musiker! Cäsar Zipper war ein Name, wie geschaffen für einen Künstler. Cäsar ein Virtuose, Arnold ein Gelehrter! Aber es erwies sich, daß Cäsar auch in der Musik keine Fortschritte machte, daß er nach drei Jahren eines kostspieligen Studiums bei den besten Lehrern der Stadt noch immer die Tonleiter kratzte. »Nicht einmal einen Walzer kann er!« klagte der alte Zipper. »Wenn schon kein Künstler aus ihm wird, man kann es ja nicht von jedem verlangen, so soll er wenigstens in Gesellschaft spielen können, wenn man gerade tanzen will. Ein junger Mann muß sich angenehm und beliebt machen können!« Cäsar aber machte sich keineswegs beliebt.

Eines Tages kehrte der alte Zipper von seinem täglichen Vormittagsspaziergang um eine Stunde früher heim als gewöhnlich. Was war geschehen? Es war einer der heitersten Frühlingstage, Ostern nahte heran, man erwartete den Bruder aus Brasilien, und die ganze Wohnung Zippers befand sich in jener freudigen Erregung, die unvorhergesehene Geldausgaben, eine Wäscherin im Haus und die Erwartung eines Fremden verursachen. Die Sonne schien, und die Spatzen lärmten. Der alte Zipper aber durchmaß mit festen Schritten und den Kopf gesenkt ein Zimmer nach dem anderen. Was war geschehen?

Er hatte unterwegs den Musikprofessor Cäsars getroffen. Er hatte erfahren, daß sein »elender Sohn« seit Monaten nicht mehr »zur Lektion« erschienen war; daß er wahrscheinlich das Honorar, das man ihm jeden Monat für den Lehrer mitgab, verschwendet hatte. Als Cäsar ahnungslos heimkam, nahm ihm der Vater die Geige ab, erhob sie und zertrümmerte sie auf dem widerstandsfähigen Schädel seines Sohnes, ohne ein Wort zu sagen.

Die Reste der Geige sammelte der alte Zipper sorgfältig vom Boden auf, umschnürte sie mit einem kräftigen Bindfaden und legte sie in einen Sack.

»Bis zu meinem Tode!« schwur der alte Zipper, »werde ich diese zerbrochene Geige bewahren.« Sie lag in der feuerfesten Kasse von Eisner und Co. neben der Versicherungspolice und dem Trauungsschein.


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