Joseph Roth
Zipper und sein Vater
Joseph Roth

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XII

Die Stammgäste begrüßten ihn so herzlich, nicht etwa, weil sie sich über seine Wiederkunft aufrichtig freuten, sondern weil seine Heimkehr ein Ereignis war. Ihr Leben war arm an Ereignissen. Die Stammgäste saßen im Kaffeehaus wie Belagerte in einer Festung. Nichts aus der Welt gelangte zu ihnen, keiner von ihnen erreichte die Welt. Sie hätten sich ebenso gefreut, wenn sie in diesem Augenblick nicht Arnold wiedergesehen, sondern wenn sie etwa erfahren hätten, daß er Selbstmord begangen habe. Sie mochten ahnen, daß etwas Wichtiges, etwas Geheimnisvolles in sein Leben getreten sei. Denn sie hatten es noch niemals gesehen, daß jemand aus einem gleichgültigen Grund länger als eine Woche aus dem Kaffeehaus weggeblieben wäre.

Es war wirklich eine wichtige Veränderung mit Arnold vorgegangen: er hatte Fräulein Erna Wilder getroffen.

Natürlich erzählte er das nicht bei Licht. Arnold Zipper sprach von ihr – und überhaupt, wenn er ein Geständnis abzulegen hatte – nur in der Nacht, wenn wir nach Hause gingen. Er erzählte nicht die ganze Wahrheit. Er sagte nur, nachdem wir eine halbe Stunde schweigsam nebeneinander gegangen waren, und während ich fühlte, wie er nach einem passenden Anfang suchte – er sagte nur:

»Ich habe Erna Wilder getroffen.«

Getroffen war ein falsches Wort. Arnold hatte sie aufgesucht, wie ich später erfahren sollte. Da sie die Wohnung ihrer Eltern vor einem Jahr verlassen hatte, mußte sich Arnold in der Schauspielschule erkundigen. Man gab ihm nicht ihre Adresse. Er wartete also vor der Schule, wie ein verliebter junger Mann es tut. Er sah sie herauskommen. Er ging ihr nach, bis sie ihr Haustor erreicht hatte und von ihrer Begleitung Abschied nahm. Bevor sie die Treppe hinaufstieg, grüßte Zipper und fragte, wie es ihr gehe.

Das alles erfuhr ich aber erst später. Vorläufig begnügte sich Arnold mit der Mitteilung, daß Erna ein »netter, sympathischer Mensch« geworden sei. Sie hätte sich stark verändert seit dem Sommer im schlesischen Kurort. Das sei schließlich kein Wunder.

Auf solche allgemeine Mitteilungen beschränkte sich Arnold.

Ich fragte ihn nur, ob er jetzt wieder ins Amt gehe. Er sagte, daß er seit drei Tagen wieder arbeite, daß er aber noch keineswegs entschlossen sei, dort zu bleiben, Staatsbeamter zu sein und auf »die Welt« zu verzichten.

Immerhin schien es mir, daß Arnold, ob er im Amt blieb oder nicht, verliebt sei. Das heißt: daß er sich in einem Zustande befinde, den man seit Jahr und Tag Verliebtheit nennt.

Er war es zum ersten Male in seinem Leben. Ich wunderte mich darüber, weil er keine Veranlagung hatte, sich zu verlieben. Er brachte sozusagen in die Liebe nicht die geringste Voraussetzung mit. Wenn sein Verstand nicht besonders scharf und auf der Hut war, so war sein Temperament doch nicht stark genug, ihn zu betäuben. Wenn Arnold auch sentimental von Natur war, so besaß er doch Geschmack genug, die Sentimentalität zu bekämpfen. Wenn er auch empfindlich und imstande war, einem fremden Einfluß, einem Reiz, einer Stimmung zu unterliegen, so war er doch den Frauen im allgemeinen gegenüber zu gleichgültig, als daß es möglich gewesen wäre, daß er einer verfiele. Ich hatte schon längst beobachtet, daß Arnold einer der wenigen Männer war, die in der Gesellschaft von Frauen ihre Haltung nicht veränderten. Die Spieler interessierten ihn mehr. Die Frauen machten gerade noch so viel Eindruck auf ihn, daß er feststellen konnte, sie gehörten nicht zum männlichen Geschlecht. Damit war alles für ihn erledigt. Er glaubte zu wenig an sich, um eitel zu sein wie alle andern Männer. Denn auch um sich zu verlieben, muß man ein wenig eingebildet sein.

Ich kam schließlich zu dem Ergebnis, daß Arnold sich aus Verzweiflung verliebt hatte, ähnlich wie einer, dessen Natur sich gegen den Alkohol sträubt, aus Verzweiflung ein Trinker wird. Um aus der monotonen Tragik, in der er lebte – aus der er beinahe bestand –, in eine bewegtere zu gelangen, mußte er nach einem altbewährten dramatischen Mittel suchen. Wahrscheinlich war er sich nicht darüber klar, während er es tat. (Aber auch, wenn man selbst die Gründe seiner Tat nicht kennt, so sind sie doch ihre Gründe.) Arnold hatte nichts anderes getan, als was ich ihm vor einigen Wochen gesagt hatte. Unfähig, wie er war, eine Frau zu finden, kam er auf den bequemen Ausweg, sich an eine zu erinnern, die er vor zwölf Jahren gefunden hatte. Zu gleichgültig, vielleicht auch zu faul, um eine zu wählen, kehrte er zu einer zurück, von der er glaubte, sie wäre ihm schon bekannt genug und ersparte ihm die Arbeit einer Wahl. Zu schwach, eine neue zu erleben, weckte er eine alte wieder auf. Es war sein Schicksal, kein Zweifel. Sah er sich schon einmal gezwungen, aus dem törichten Gleichmut in eine Leidenschaft zu fliehen, so suchte er nach der bequemsten aller Leidenschaften: derjenigen, in der man schon heimisch ist. Nachdem ich diese Erklärung aufgestellt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als Erna kennenzulernen.

Er brachte sie in eine kleine Gesellschaft von Literaten. Sie war zu klug, um selbst etwas Gescheites zu sagen – was sie bestimmt gekonnt hätte –, deshalb schwieg sie. Aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um andern zuzuhören, und in der Angst, zu verraten, daß sie nur an sich denke, spielte sie eine meisterhafte stumme Szene, während der jeder Zuschauer geschworen hätte, daß ihr unermüdliches, nervöses Gehirn an den Sätzen arbeite, die gesprochen wurden. Ich erinnerte mich an ähnliche Szenen, die ich selbst gespielt hatte, in der Schule, wo mir daran gelegen war, die Achtung des erklärenden Lehrers zu gewinnen, zugleich aber keine Zeit für das Zuhören zu verschwenden. Ich mußte an wichtigere Dinge denken, nämlich an diejenigen, die mich selbst angingen. Zu der Meisterschaft, die Fräulein Erna besaß, hatte ich es freilich nie gebracht. Denn sie konnte nicht nur sich selbst hingegeben sein, während es so aussah, als wäre sie dem Gespräch hingegeben! Nein! In einem ganz bestimmten Augenblick, in dem sie fühlte, daß sie nicht länger schweigen dürfe, um nicht erkannt zu werden, gelang es ihr, dem Gespräch durch einen einzigen Satz eine neue Wendung zu geben. Jetzt hatte sie es dazu gebracht, daß alle eine Viertelstunde die Frage diskutierten, die sie aufgeworfen hatte. Eine kostbare Viertelstunde für sie: denn eine Viertelstunde, in der sie wieder an sich denken konnte.

Es waren einige Männer am Tisch, die sie eben kennengelernt hatte. Nach einer geraumen Zeit, als wir müde von den fruchtlosen und anstrengenden Gesprächen, die uns Fräulein Erna aufgegeben hatte, anfingen, Scherze zu machen und menschlich zu sein, nannte sie alle bei Namen. Sie hatte sich die Namen gemerkt. Sie hielt es nicht mehr der Mühe wert, die Anrede Herr zu gebrauchen. Sie behandelte uns bereits wie ihre Kollegen, die jungen Schauspieler. Sie heuchelte eine Kameradschaft, weil es die leichteste Art war, herzlich zu erscheinen, freimütig, redlich und einfach. Sie gab sich burschikos – was jeden überzeugen mußte, daß sie aufrichtig sei. Sie benahm sich wie ein Junge. Daraus schloß man, daß sie bequem zu behandeln wäre. Sie war aufgeräumt. Das erweckte den Glauben an ihr Temperament. Sie ließ sich einen groben Witz gefallen, sie rief ihn sogar hervor – und sie schien erhaben über alle Vorurteile. Sie zollte Schauspielerinnen, von denen man sprach, eine scheinbar aufrichtige Anerkennung; und wir hielten sie für neidlos. Sie machte sich lustig über das Theaterspielen. Deshalb glaubte man, sie hätte keinen Ehrgeiz. Sie ließ die Meinung eines jeden gelten. Deshalb meinte man, sie wäre gerecht. Sie fragte sogar den und jenen nach seiner Meinung; und der und jener fühlte sich geschmeichelt. Wenn sie sprach, wurde sie schön. Eine braune Röte kam in ihr Gesicht, ein goldener Glanz in ihre braunen Augen, sie bewegte den kleinen Kopf mit so kunstvoller Heftigkeit, daß ihre Haare in geregelter Wirre in ihre Stirn fielen und an ihrer Heiterkeit teilnahmen. So fand sie oft Gelegenheit, ihre empfindliche Hand, die ein eigenes Gehirn zu haben schien, an das Haar zu führen – eine Bewegung, die jede Frau schön macht. Denn es ist eine intime Bewegung. Sie ist wie der Beginn einer Entkleidung.

Ich zweifelte nicht daran, daß Arnold sie liebte. Aber ich zweifelte auch nicht daran, daß er ihr vollkommen gleichgültig war. Die Vertraulichkeit, mit der sie ihn behandelte, war um einige Grade wärmer als die, mit der sie die andern auszeichnete. Von ihm erwartete sie, daß er ihr in den Mantel helfe, daß er ihr einen Bleistift leihe, daß er ihren Spiegel halte, daß er ihr Taschentuch aufhebe, daß er sie nach Hause führe. Und niemals sah ich Arnold glücklicher. Wie gut wußte sie, daß er – wie die meisten Männer – sich einbildete, die kleinen Dienste, die man von ihm verlangte, kündigten eine teure Belohnung in der Zukunft an; daß ein schneller Blick, den sie mit ihm tauschte, auch ein Einverständnis bedeute, obwohl es in Wirklichkeit nur ein Blick war, der ihn kontrollierte.

Wozu aber bedurfte sie seiner? Er war ein Finanzbeamter und ein Kiebitz, ohne Geld, ohne Macht und ohne Aussichten. Wenn sie überhaupt einen Mann brauchte, so durfte es nicht Arnold sein, der sie hemmte. Warum ließ sie ihn nicht wissen, daß er ihr gleichgültig war? Ich wußte es erst später. Ich sah, daß sie nicht nur nach Helfern für ihre Karriere suchte, sondern auch nach Dienern, die sie nicht zu entlohnen brauchte.

Arnold veränderte sich in der nächsten Zeit. Er ahnte noch nicht, was ihm bevorstand. Vorläufig wurde er selbstbewußt. Er litt nicht mehr an dem Glauben, daß er überflüssig in der Welt sei. Er mischte sich in das Gespräch derjenigen, denen er bis jetzt nur mit Achtung zugehört hatte. Er beteiligte sich sogar am Spiel. Es schien, daß er aufhören wollte, ein Kiebitz zu sein.

Sein Amt gab er auf. Er meldete sich krank und schrieb dann einen Brief an den Hofrat Kronauer, in dem er mitteilte, daß er auf die Laufbahn eines Staatsbeamten verzichten müsse. Es war jener Brief, den er vor einigen Wochen angefangen hatte zu schreiben, als ich ihn im Kaffeehaus traf. Er suchte jetzt nach einer privaten und, wie er sagte, »provisorischen« Stellung. Da er keine fand, gab er sein Zimmer auf und zog wieder zu seinen Eltern. Mit der Festigkeit, die man aufbringen kann, wenn man verliebt ist, erklärte er seinem Vater, daß er kein Beamter sein wolle.

Dem armen alten Zipper half seine ewige törichte Einbildung, daß alles, was seinem Sohn Arnold zustoße, von Nutzen sei. Hatte Arnold eingesehen, daß er nicht im Amt bleiben könne, so war es ein Beweis dafür, daß man dort nicht weiterkommen konnte. Schien es Arnold an der Zeit, sich zu verlieben, desto besser. Daß aber Arnold nicht mehr ins Amt ging, eben weil er verliebt war, wußte der alte Zipper nicht. Seine Einfalt bestand vor allem in seiner Unfähigkeit, die klarsten Ursachen der Ereignisse zu erkennen. Er glaubte, daß Arnold so dachte wie er selbst. Konnte es etwas anderes sein als die Aussichtslosigkeit, jemals nach Verdienst behandelt zu werden, was seinen Sohn veranlaßte, eine so gute Stellung aufzugeben? – Nein! – Also hatte Arnold recht.

Eine Frau, in die Arnold sich verlieben konnte, mußte eine außergewöhnliche Frau sein. Und der alte Zipper brannte danach, sie zu sehen. Er erinnerte sich ihrer noch aus dem schlesischen Bad und war aus dem Gedächtnis verliebt.

»Nicht wahr«, sagte er, »sie ist blond?« Denn die Blonden gefielen ihm.

»Nein«, erwiderte Arnold, »sie ist braun.« Er wollte nicht schwarz sagen.

»Aber ich erinnere mich doch deutlich, daß sie helle Augen hat?«

»Ja«, sagte Arnold, um nachzugeben, »wenn sie lacht, werden ihre Augen allerdings hell.«

»Sie muß aber doch schon groß und stark geworden sein?«

»Sie ist klein und zart geblieben.«

»So, so«, sagte Zipper, »die Mode will es heutzutage, daß die Frauen zart sind. Will sie denn wirklich eine Schauspielerin werden?«

»Ja, warum denn nicht?«

»Da könnt ihr aber doch gar nicht heiraten?«

»Das muß ja nicht sein! Wer spricht denn vom Heiraten?«

»Freilich, das muß nicht sein!« bekräftigte der alte Zipper, der schon immer für die Lockerung der Sitten gewesen war. Er war kein Reaktionär, er ging mit der Zeit.

Einigemal kam Fräulein Erna in das Haus der Zippers. Weshalb denn nicht? Sie stammte aus einem ähnlichen Haus, sie war im Begriff, es zu verlassen. Sie haßte die täppische Zärtlichkeit ihres Vaters, den kleinbürgerlichen Hochmut ihrer Mutter, ihre stete Empfindlichkeit, die Szenen, die sie dem Mann machte, wenn er einmal mit zu geringen Geschenken von einer Reise kam, ihre wachsame Furcht, man könnte ihr gegenüber nicht »aufmerksam« genug sein.

Wie aus diesem Haus am schnellsten fliehen? – Fräulein Erna erfand die »innere Berufung«, der kein gutmütiger Vater und keine eitle Mutter widerstehen können. Und es zeigte sich in der Folge, daß sie gescheit genug war, um sogar Talent zu haben. Nichts ist unmöglich.

Schon führte sie das »eigene Leben«, das sie sich immer gewünscht hatte. Niemandem mehr Rechenschaft geben über den Verlauf des Tags, wenn man spät in der Nacht in sein Zimmer kam. Nicht mehr tausend gleichgültige Fragen hören, die man der Wahrheit gemäß beantworten könnte – so harmlos sind sie – und auf die man doch mit einer Lüge erwidert, nur weil man dem Fragenden die Wahrheit nicht gönnt; den tausend Verwicklungen entgehen, die dadurch entstehen, daß man morgen vergißt, was man heute gesagt hat; dieser törichten und zudringlichen Neugier der Mutter entrinnen, die an der Jugend der Tochter ihre eigene Jugend wieder aufwärmen will; diesem lächerlichen Stolz des Vaters, den sein Glaube an die starke Persönlichkeit der Tochter nicht hindert, sie wie ein ahnungsloses Kind zu behandeln.

Jetzt kam Erna nach Hause, wann sie wollte. Der Beruf, für den sie sich vorbereitete, reichte in eine so ferne Welt hinüber, daß ihre Eltern es aufgaben, etwas zu erfahren. Das war kein Mädchenlyzeum, das die Mutter auch besucht hatte. Das war »die Bühne«, die nach Sünde roch, fernen unbekannten Reichtümern, einem Glanz, der einen Untergang begleitet oder ein großes Glück – beides so fern von allen bürgerlichen Möglichkeiten, daß man sich fast über das Glück nicht freuen, den Untergang nicht beklagen kann. Diese Welt, für die Erna jetzt rüstete, lag außerhalb der Kontrolle ihrer Eltern. Sie selbst war schon ihrer Macht, ihrer Liebe, ihrem Stolz und ihrer Torheit entgangen.

Weil sie klug war, fürchtete sie nichts so sehr wie ihren eigenen unbewußten Rückfall in eine der tausend häßlichen Formen ihrer Heimat. Sie beobachtete sich unaufhörlich, aus Furcht, an sich selbst eine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter zu finden. Vor Fremden log sie ihre Eltern in einfache Menschen ohne Ansprüche um. Sie fand diesen Ausweg glücklich – der andere nämlich, sein Haus als vornehm auszugeben, war schon zu banal und jeder kleinen Schauspielerin geläufig.

»Wenn man aus einem so einfachen Haus kommt wie ich –«, sagte sie häufig, auch wenn es vollkommen überflüssig war. Am liebsten wäre es ihr gewesen, die Welt glauben zu machen, ihr Vater sei ein Analphabet und ein armer Holzhacker. Es war nach der Revolution Mode bei der Jugend, die sich mit Literatur und Kunst befaßte und gerne dem Proletariat nahesein wollte, weil es eine kurze Zeit siegreich aussah, seine Abstammung nach unten zu verlegen. (Ich kannte den Sohn eines reichen Juweliers, der behauptete, sein Vater wäre ein Uhrmacher.)

Das schien Arnold nicht zu merken. War sein Vater nicht imstande, Ursachen und Wirkungen zu erkennen, so war es Arnold nicht gegeben, Lügen von Wahrheiten zu unterscheiden. Welchem Liebenden ist es übrigens möglich?


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