Joseph Roth
Hotel Savoy
Joseph Roth

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XXI

Am Nachmittag desselben Tages bat mich der Sekretär Bondy auf einen Augenblick an den Tisch Bloomfields.

Bloomfield brauchte noch einen Sekretär für die Zeit, in der er hier war. Man mußte die Besucher scheiden können in lästige und nützliche und mit beiden Arten verhandeln.

Ob ich nicht jemanden wüßte, fragte Bondy.

Nein, ich wüßte keinen, außer Glanz.

Aber da macht Bloomfield eine abwehrende Handbewegung. Glanz war nichts für ihn, das bedeutete diese Bewegung.

»Wollen Sie nicht diese Stellung annehmen?« sagt Bloomfield. Es war keine Frage. Bloomfield sprach überhaupt nicht in fragendem Ton, er sagte alles nur vor sich hin, als wiederhole er oft erörterte Dinge.

»Wir wollen sehn!« sage ich.

»Dann – können Sie morgen in Ihrem Zimmer – Sie wohnen?«

»703.«

»Bitte morgen anzufangen, Sie bekommen einen Sekretär.«

Ich verabschiede mich und fühle, wie Bloomfield mir nachsieht.

»Zwonimir«, sage ich, »jetzt bin ich Bloomfields Sekretär.«

»Amerika«, sagt Zwonimir.

Es war meine Aufgabe, die Leute anzuhören, sie und ihre Projekte zu beurteilen und Bloomfield über die Gäste jedes Tags schriftlichen Bericht zu erstatten.

Ich notierte mir Aussehen, Stellung, Geschäft, Vorschlag jedes Besuchers und beschrieb alles. Ich diktierte einem Mädchen in die Maschine und gab mir sehr viel Mühe.

Bloomfield schien nach den ersten zwei Tagen mit meiner Arbeit zufrieden, denn er nickte mir am Nachmittag, wenn wir uns trafen, sehr wohlwollend zu.

So lange hatte ich nichts mehr gearbeitet – ich freute mich. Es war eine Beschäftigung, die mir behagte, denn ich war auf mich angewiesen und trug die Verantwortung für alles, was ich berichtete. Ich hütete mich, mehr zu berichten, als nötig war. Dennoch lieferte ich manchmal einen Roman.

Ich arbeitete von zehn bis vier. Jeden Tag kamen fünf oder sechs oder mehr Besucher.

Ich wußte wohl, was Bloomfield von mir wollte. Er wollte eine Kontrolle seiner selbst. Er verließ sich nicht in allem auf sein eigenes Urteil – er hatte auch keine Zeit, über jeden nachzudenken –, und er wollte auch eine Bestätigung seiner eigenen Beobachtungen.

Henry Bloomfield war ein vernünftiger Mensch.

Die Juxdrillinge hießen Nachmann, Zobel und Wolff und standen alle drei innig auf einer Visitkarte.

Nachmann, Zobel und Wolff hatten herausgefunden, daß man in dieser Gegend Europas noch keine Juxgegenstände kannte. Sie kamen mit Geld, sie bewiesen es und sprachen sehr vernünftig. Seit Jahren stand in diesem Ort die Spinnerei des verstorbenen Maiblum leer. Man konnte sie mit wenig »Unkosten«, sagte Wolff, reparieren. Herr Nachmann würde hierbleiben – sie brauchten eigentlich nicht so sehr das Geld Bloomfields wie seinen Namen. Die Firma sollte Bloomfield und Compagnie heißen und die Gegend und Rußland mit Juxgegenständen versorgen.

Die Drillinge wollten Feuerwerk, Papierschlangen, Serpentinen, Knallerbsen und Frösche fabrizieren.

Ich hörte dann, daß Bloomfield die Idee mit den Juxgegenständen sehr gefallen hatte, und sah nach zwei Tagen, wie langsam ein hölzernes Gerüst um die Maiblumsche Fabrik wuchs und wuchs, bis das ganze halbzerfallene Gemäuer von Holz eingedeckt war wie ein Monument im Winter.

Nachmann, Zobel und Wolff hielten sich hier lange auf. Man sah sie unzertrennlich durch die Straßen und Plätze der Stadt schleichen. Alle drei kamen in die Bar und holten sich ein Mädchen an den Tisch.

Sie führten ein inniges Familienleben.

Man begegnet mir mit mehr Ehrfurcht als je vorher im Hotel Savoy. Ignatz schlägt seine biergelben Kontrollaugen nieder, wenn er mit mir zusammentrifft, im Lift oder in der Bar. Der Portier grüßt mich tief. Die Drillinge ziehen gleichmäßig vor mir die Hüte.

Gabriel, sage ich mir, du kommst mit einem Hemd im Hotel Savoy an und fährst weg als ein Gebieter über zwanzig Koffer.

Verborgene Türen öffnen sich auf meinen Wunsch, Menschen geben sich mir preis. Wundersame Dinge tun sich kund. Und ich stehe da, bereit, alles aufzunehmen, was mir zuströmt. Die Menschen bieten sich mir an, unverhüllt liegen ihre Leben vor mir. Ich kann ihnen nicht helfen noch schaden – sie aber, froh, ein Ohr gefunden zu haben, das sie anhören muß, schütten Leid und Geheimnis vor mir aus.

Es geht ihnen schlecht, den Menschen, riesenhaft steht ihr Weh vor ihnen, eine große Mauer. Eingesponnen sitzen sie in staubgrauen Sorgen und zappeln wie gefangene Fliegen. Dem fehlt es an Brot, und jener ißt es mit Bitterkeit. Der will satt sein und jener frei. Hier regt einer seine Arme und glaubt, es wären Flügel, und er würde sich im nächsten Augenblick, Monat, Jahr über die Niederung seiner Welt erheben.

Es ging ihnen schlecht, den Menschen. Das Schicksal bereiteten sie sich selbst und glaubten, es käme von Gott. Sie waren gefangen in Überlieferungen, ihr Herz hing an tausend Fäden, und ihre Hände spannen sich selbst die Fäden. Auf allen Wegen ihres Lebens standen die Verbotstafeln ihres Gottes, ihrer Polizei, ihrer Könige, ihres Standes. Hier durften sie nicht weitergehn und dort nicht bleiben. Und nachdem sie so ein paar Jahrzehnte gezappelt, geirrt hatten und ratlos gewesen, starben sie im Bett und hinterließen ihr Elend ihren Nachkommen.

Ich saß im Vorhof des lieben Gottes Henry Bloomfield und registrierte Gebete und Wünsche seiner kleinen Menschen. Die Leute kamen zuerst zu Bondy, und ich empfing nur jene, die einen Zettel von ihm vorzeigten. Zwei oder drei Wochen wollte Bloomfield bleiben – und nach drei Tagen sah ich, daß er mindestens zehn Jahre hierbleiben müßte.

Ich lernte den kleinen Isidor Schabel kennen, der einmal rumänischer Notar gewesen und wegen einer Unterschlagung aufgehört hat, Notar zu sein. Er wohnt schon das sechste Jahr im Hotel Savoy, im Krieg hat er hier gewohnt, zusammen mit den Offizieren der Etappe. Er ist sechzig Jahre alt, er hat Frau und Kinder in Bukarest, und sie schämen sich seiner – sie wissen gar nicht, wo er sich befindet. Nun, glaubt er, wäre es an der Zeit, an der Rehabilitierung zu arbeiten, fünfzehn Jahre sind seit jener unglücklichen Geschichte vergangen, es wäre wohl an der Zeit heimzukehren, nachzusehen, was Frau und Kinder treiben, ob sie leben, ob der Sohn Offizier geworden, trotz des väterlichen Unglücks. Er ist ein merkwürdiger Mensch, er will die Charge seines Sohnes wissen – und hat so viele Sorgen. Er lebt von kleinen Winkelschreibereien. Ein Jude kommt manchmal zu ihm und läßt sich ein Gesuch an die Behörde aufsetzen, eine Befreiung von der Erbschaftssteuer zum Beispiel.

Seine Koffer sind längst von Ignatz gepfändet, er ißt geröstete Kartoffeln zu Mittag, aber er will wissen, ob sein Sohn Offizier ist.

Vor einem Jahr war er schon bei Bloomfield, ohne Erfolg.

Er braucht eine hohe Summe, um zu seinem Recht zu kommen. Er blieb hartnäckig dabei, daß er im Recht war.

Er fraß sich in seine Bitterkeit hinein. Heute noch bat er schüchtern, morgen würde er fluchen, und in einem Jahr hatte ihn der Wahnsinn ergriffen.

Ich kenne Taddeus Montag, Zwonimirs Freund, den Schildermaler, der eigentlich ein Karikaturist ist. Er ist mein Nachbar, Zimmer 705. Nun bin ich schon ein paar Wochen hier, und neben mir hungerte Taddeus Montag, und niemals schrie er. Die Menschen sind stumm, stummer als die Fische, früher einmal riefen sie noch, wenn ihnen etwas weh tat, aber im Laufe der Zeit gewöhnten sie sich das Rufen ab.

Taddeus Montag ist ein Todeskandidat, dünn, blaß und groß steigt er sachte herum, seinen Schritt hört man nicht einmal auf den nackten Steinfliesen des sechsten Stockwerks. Er geht auf zerrissenen Sohlen allerdings, aber selbst die weichen Pantoffeln Hirsch Fischs werden auf diesen Steinfliesen hörbar. Taddeus Montag aber hat schon die lautlosen Schattensohlen eines Seligen. Er kommt schweigend, wie ein Stummer steht er an der Tür und zerreißt das Herz mit seiner Stummheit.

Er kann nichts dafür, Taddeus Montag, daß er kein Geld verdient. Er zeichnete die Karikatur des Planeten Mars oder den Mond oder längst verstorbene Griechen-Helden. Agamemnon war auf seinen Bildern zu finden, wie er Klytämnestra betrügt – im Felde, mit einem rundlichen trojanischen Mädchen. Auf einem Hügel stand Klytämnestra und sah durch ein riesiges Opernglas die Schande ihres Mannes.

Ich entsinne mich, daß Taddeus Montag die ganze Geschichte von den Pharaonen bis zur Gegenwart grotesk verdrehte. Montag reichte seine verrückten Blätter so selbstverständlich herüber, als zeigte er Hosenknöpfe zur Auswahl. Einmal zeichnete Taddeus Montag ein Schild für einen Tischlermeister. Er zeichnete einen überdimensionalen Hobel in die Mitte, daneben auf einem großen Holzgerüst einen Mann mit einem Zwicker auf der Nase, der einen kleinen Bleistift an dem riesigen Hobel spitzte.

Und dieses Schild lieferte er sogar ab. –

Es kamen wunderbare Lügner, der Mann mit dem Glasauge, der ein Kino gründen wollte. Nun war die Ausfuhr deutscher Filme sehr schwierig, das wußte Bloomfield – und ließ sich auf die Sache gar nicht ein.

In dieser Stadt fehlt nichts so sehr wie ein Kinotheater. Es ist eine graue Stadt mit viel Regen und trüben Tagen, die Arbeiter streiken. Man hat Zeit. Die halbe Stadt würde tagsüber und eine halbe Nacht im Kino sitzen.

Der Mann mit dem Glasauge heißt Erich Köhler und ist ein kleiner Regisseur aus München. Er stammt aus Wien, so erzählt er, aber mich kann er nicht täuschen, mich, der ich die Leopoldstadt kenne. Erich Köhler stammt, es ist kein Zweifel, aus Czernowitz, und das Auge hat er nicht im Krieg verloren. Das hätte schon ein viel größerer Weltkrieg sein müssen.

Er ist ein ungebildeter Mensch, er verwechselt Fremdwörter, er ist ein schlimmer Mensch – er lügt nicht aus Freude an der Lüge, sondern er verkauft seine Seele um schäbigen Gewinn.

»In München habe ich die Kammerlichtspiele eröffnet, mit einer Ansprache an die Presse und die versammelten Behörden. Es war im letzten Kriegsjahr, wenn die Revolution nicht gekommen wäre – Sie wüßten heute besser, wer Erich Köhler ist.«

Und eine Viertelstunde später erzählt er von intimen Freundschaften mit russischen Revolutionären.

Er war eine Größe, der Erich Köhler.

Der andere Herr, der Jüngling mit den französischen Stiefeln, ein Elsässer, versprach Gaumontfilme und gründete wirklich ein Kino. Bloomfield hatte keine Lust, den Leuten seiner Heimatstadt Vergnügungen zu verschaffen. Aber der französische Jüngling kaufte einen Milchladen von Fränkel, dessen Geschäft schlechtging, und druckte Plakate und verkündete Amüsement für Jahrzehnte.

Nein, es war nicht leicht, von Bloomfield Geld zu bekommen.

Ich war mit Abel Glanz in der Bar, da saß die alte Gesellschaft. Glanz erzählte mir im Vertrauen – Glanz erzählte alles im Vertrauen –, daß Neuner kein Geld bekommen hatte und daß Bloomfield überhaupt kein geschäftliches Interesse an dieser Gegend mehr hatte. In einem Jahr verzehnfachte sich sein Vermögen in Amerika – was ging ihn die schlechte Valuta an?

Bloomfield hatte viele enttäuscht. Die Leute wurden ihre Devisen nicht los, das Geschäft ging genauso weiter, als wäre Bloomfield aus Amerika gar nicht gekommen. Dennoch verstand ich nicht, weshalb jetzt plötzlich die Fabrikanten mit ihren Frauen auf den Plan traten und mit den Töchtern.

Es änderte sich nämlich inzwischen vieles in der Gesellschaft des Fünf-Uhr-Saals.

Vor allem hat Kaleguropulos Musik bestellt, eine fünf Mann starke Kapelle, sie spielt Walzer wie Märsche, das Temperament geht mit ihnen durch. Fünf russische Juden spielen jeden Abend Operetten. Und der Primgeiger hat gekräuseltes Haar für die Damen.

Nie waren Damen zu sehen gewesen.

Jetzt hatte Fabrikant Neuner Frau und Tochter, Kanner war Witwer mit zwei Töchtern, Siegmund Fink hatte eine junge Frau, und dann kam noch Phöbus Böhlaug, mein Onkel, mit seiner Tochter.

Phöbus Böhlaug begrüßt mich mit herzlichen Vorwürfen. Ich hätte ihn besuchen müssen.

»Ich habe jetzt keine Zeit«, sage ich.

»Du brauchst kein Geld mehr«, antwortet Phöbus.

»Sie haben mir nie etwas gegeben –«

»Nichts für ungut«, flötet mein Onkel Phöbus.


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