Joseph Roth
Hotel Savoy
Joseph Roth

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IX

Santschin ist plötzlich erkrankt.

»Plötzlich«, sagen alle Leute und wissen nicht, daß Santschin zehn Jahre lang unaufhörlich gestorben ist. Tag für Tag. Im Simbirsker Lager war vor einem Jahr auch einer so plötzlich gestorben. Ein kleiner Jude. Er fiel eines Nachmittags, während er sein Eßgeschirr putzte, hin und war tot. Er lag auf dem Bauch, streckte alle viere von sich und war tot. Damals sagte jemand: »Ephraim Krojanker ist plötzlich gestorben.«

»Nummer 748 ist plötzlich erkrankt«, sagen die Zimmerkellner. Es gab in den drei höheren Stockwerken des Hotel Savoy überhaupt keine Namen. Alle hießen nach den Zimmernummern.

Nummer 748 ist Santschin, Wladimir Santschin. Er liegt halb angekleidet auf dem Bett und raucht und will keinen Arzt.

»Es ist eine Familienkrankheit«, sagt er. »Es sind die Lungen. Bei mir wären sie vielleicht gesund geblieben, denn als ich geboren wurde, war ich ein starker Kerl und schrie, daß sich die Hebamme Watte in die Ohren stopfen mußte. Aber aus Bosheit und vielleicht, weil kein Platz war in dem kleinen Zimmer, legte sie mich aufs Fensterbrett. Und seitdem huste ich.«

Santschin liegt, nur mit einer Hose bekleidet, auf dem Bett, barfuß. Ich sehe, daß seine Füße schmutzig sind und seine Zehen von Hühneraugen und allerlei unnatürlichen Verkrümmungen verunstaltet. Seine Füße erinnern an seltsame Waldwurzeln. Seine großen Zehen sind gekrümmt und bucklig.

Er will keinen Arzt, weil sein Großvater und sein Vater auch ohne Arzt gestorben sind.

Hirsch Fisch kommt und bietet einen heilkräftigen Tee an und hofft, den Tee »preiswert« zu verkaufen.

Als er sieht, daß niemand den Tee will, bittet er mich hinaus: »Vielleicht wollen Sie ein Los kaufen?«

»Geben Sie her«, sage ich.

»Die Ziehung ist nächsten Freitag, es sind sichere Nummern.« Es waren die Zahlen 5, 8 und 3.

Stasia läuft atemlos herbei, sie hat Ignatz mit dem Lift nicht erwarten können. Ihr Gesicht ist gerötet, Haarsträhnen umflattern es.

»Sie müssen mir Geld geben, Herr Fisch«, sagt sie, »Santschin muß einen Arzt haben.«

»Dann kaufen Sie auch den Tee«, sagt Fisch und sieht mich verstohlen an.

»Ich werde den Arzt bezahlen«, sage ich und kaufe den Tee.

»Bleiben Sie ruhig, Herr Santschin«, sage ich auf russisch. »Stasia ist um den Arzt gegangen.«

»Warum sagt man mir das nicht?« fährt Santschin auf. Ich drücke ihn mühsam aufs Bett. »Man muß die Fenster aufmachen, Weib, hörst du? Man muß den Kübel ausschütten, und die Asche muß verschwinden. Der Doktor wird mir natürlich das Rauchen vorwerfen. Darin sind sich alle Doktoren gleich. Und außerdem bin ich nicht rasiert. Reichen Sie mir mein Messer. Es liegt auf der Kommode.«

Aber das Rasiermesser liegt nicht auf der Kommode. Frau Santschin findet es im Nähzeug, weil sie es statt einer Schere benutzt hat, um Hosenknöpfe abzutrennen.

Ich muß Santschin ein Glas Wasser geben; er befeuchtet sein Gesicht, zieht einen Taschenspiegel aus der Hose, hält ihn vor sich in der Linken, verzieht den Mund, streckt die Zunge hinter die rechte Backe, daß sich die Haut strafft, und rasiert sich ohne Seife. Er kratzt sich nur einmal – »weil Sie mir zusehn«, sagt er, und ich sehe beschämt in irgendeine Ecke. Dann legt er ein Zigarettenpapier auf die verwundete Stelle.

»Jetzt kann der Doktor kommen.«

Den Doktor kannte ich. Er saß täglich im Fünf-Uhr-Saal des Hotels. Er ist Militärarzt gewesen. Man sieht ihm eine lange Dienstzeit an, er hat den festen, klirrenden Gang pensionierter Offiziere, eine gewölbte Brust.

Kleine Sporen trägt er noch, trotz Zivilkleidung und langen Hosen, an den Absätzen. Von seiner gereckten Gestalt, seinen metallenen Augen, seiner starken Stimme geht ein Glanz aus wie von Kaisermanövern.

»Nur der Süden kann Sie retten«, sagt der Doktor. »Aber wenn Sie nicht nach dem Süden gehn, muß der Süden zu Ihnen kommen, warten sie.« – Der Doktor geht mit klirrendem Schritt auf die Tür zu und klingelt. Er klingelt ausdauernd, spricht, während er mit dem Daumen den Klingelknopf drückt; es dauert einige Minuten, bis der Diener klopft.

Der Zimmerkellner steht in militärischer Haltung vor dem Doktor, der mit seiner schönsten Kommandostimme ruft: »Bringen Sie mir die Weinkarte!«

Es ist eine Weile sehr still im Zimmer; Santschins Augen irren, Rätsel ratend, vom Arzt zu Stasia und zu mir. Dann kommt der Zimmerkellner mit der Weinkarte. »Eine Flasche Malaga und fünf Gläser, auf meine Rechnung!« kommandiert der Doktor.

»Die einzige Medizin«, sagt er dann mit Bedeutung zu Santschin. »Jeden Tag drei Gläschen Wein, verstehen Sie mich?«

Der Doktor schüttet alle fünf Gläser halb voll und reicht sie uns der Reihe nach. Dabei sehe ich, daß der Doktor alt ist. Seine knochigen Hände haben viele blaue Äderchen und zittern.

»Auf Ihre Gesundheit!« sagt der Doktor zu Santschin, und wir stoßen alle an. Es ist wie ein fröhlicher Leichenschmaus.

Ich reiche dem alten Doktor Hut und Stock, und Stasia und ich begleiten ihn auf den Korridor.

»Mehr als zwei Flaschen überlebt er nicht«, sagte der Doktor zu uns.

»Na, man braucht es ihm ja nicht zu sagen! Ein Testament braucht er nicht aufzusetzen.«

Der Doktor stieß seinen schweren Stock auf die Steinfliesen und ging mit klirrender Sporenmusik davon. Er wollte kein Geld nehmen.

An diesem Abend begleitete ich Stasia ins Varieté.

Es war immer noch dasselbe Programm. Nur hatte es ein Loch, oder schien es mir so, weil ich wußte, daß Santschin fehlte? Sein Esel trottete auf die Bühne mit roten Läschchen auf den langen Ohren, die er senkte und hob wie Federstiele. Er suchte etwas auf dem Boden, ihm fehlte Santschin, der heitere Santschin, der auf den Brettern kugelnde Körper Santschins, seine heisere, krächzende Stimme, seine glucksenden Juchzer, sein lautes Clowngeplärre. Der Esel fühlte sich unbehaglich, er hob die Vorderbeine, tanzte, auf den Hinterbeinen stehend, einen Marsch aus Blech und Messing und trottete ab.

Alexanderl Böhlaug traf ich; er saß in der ersten Reihe und aß ein Kaviarbrötchen, hielt es mit Daumen und Mittelfinger und spreizte die Bubenhand. Als die Tanznummer kam und Stasia auftrat, verzog er einen Mundwinkel, als schmerze ihn etwas. Aber es geschah nur, weil er ein Monokel einklemmte.

Dann ging ich mit Stasia nach Hause. Wir wählten stille Gäßchen, wir sahen durch beleuchtete Fenster in Stuben, lauter arme Stuben, in denen kleine Judenkinder Rettich und Brot aßen und ihre Gesichter in große Kürbisse gruben.

»Haben Sie bemerkt, wie traurig August war?«

»Wer ist August?«

»Santschins Esel, er arbeitet schon sechs Jahre mit Santschin.«

»Nun wird das Hotel Savoy um einen ärmer«, sage ich – nur, weil ich mich vor dem Schweigen fürchte.

Stasia sprach nicht – sie erwartete, daß ich etwas anderes sagen würde, und gerade, als wir auf den Marktplatz kommen sollen – wir stehen in der letzten kleinen Gasse –, zögert Stasia ein wenig und wäre gerne noch geblieben.

Wir sprachen kein Wort mehr, bis wir mit Ignatz im Fahrstuhl sitzen. Da schämen wir uns vor seinem Kontrollblick und reden Gleichgültiges.

In dieser Nacht trug Stasia das Bettzeug der Frau Santschin und das Kind in ihr Zimmer und bat mich, bei Santschin zu bleiben. Santschin freute sich. Er dankte Stasia, nahm ihre Hand und meine und preßte unsere Hände.

Es war eine furchtbare Nacht.

Ich entsann mich der Nächte in freien, offenen Schneefeldern, der Wachtpostennächte, der weißen podolischen Schneenächte, in denen ich fror, und jener von Raketen durchblitzten, da der dunkle Himmel von roten, glühenden Wunden zerfurcht war. Aber keine einzige Nacht meines Lebens, auch jene nicht, in der ich selbst zwischen Leben und Tod geschwebt, war so furchtbar.

Santschins Fieber steigt plötzlich und eilig. Stasia bringt in Essig getauchte Tücher, wir legen sie um Santschins Kopf – es hilft nicht.

Santschin phantasiert. Er gibt eine Gratisvorstellung. Er ruft nach August, seinem Esel. Mit zärtlicher Gebärde ruft er nach seinem Esel. Er hält die Hand vor sich, als böte er dem Tier ein Stück Zucker an, wie er es vor jeder Vorstellung tut. Er springt auf und schreit. Er klatscht in die Hände wie im Varieté, um Beifall herauszufordern. Er streckt den Kopf vor, wackelt mit den Ohren, steift sie wie ein Hund und lauscht auf den Applaus.

»Klatschen Sie«, sagt Stasia, und wir klatschen. Santschin verneigt sich. Am Morgen lag Santschin in kaltem Schweiß. Die großen Tropfen wuchsen wie gläserne Beulen aus seiner Stirn. Es roch nach Essig, Urin, fauler Luft.

Frau Santschin plärrte leise. Sie drückte den Kopf gegen den Türpfosten. Wir ließen sie weinen.

Als ich mit Stasia hinausging, sagte uns Ignatz guten Morgen. Er stand im Korridor, so selbstverständlich, als wäre hier sein ständiger Posten und nirgends sonst in der Welt.

»Santschin wird wohl sterben?« fragt Ignatz.

In diesem Augenblick ist es mir, als hätte der Tod die Gestalt des alten Liftknaben angenommen und stünde nun hier und warte auf eine Seele.


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